Auf Phrasenjagd

Hier gibts den Artikel als PDF: wortklauber_#1_2021

Spielen, basteln, Kaffee trinken: Vielleicht liegt es an diesen hartnäckigen Klischees, dass wir PädagogInnen beim Versuch, den Wert unserer beruflichen Tätigkeit zu beschreiben, so oft in die große Phrasenkiste greifen. Das tun wir beim Verfassen von großspurigen Konzepten, Einrichtungsflyern, Fachtexten und wenn wir im Seminar oder beim Elternabend über unser „berufliches Selbstverständnis“ sprechen. Schauen wir mal drauf und „reflektieren kritisch“, welche Phrasen wir vielleicht aussortieren sollten.

Jedes Kind ist einmalig und unverwechselbar

Eine echte Power-Phrase, die deshalb manchen Fachtext, manche Konzeption einleitet. Durchaus in Varianten, etwa der, in der „jedes Kind“ eine „eigene Persönlichkeit besitzt“, statt sie vielleicht mit den Eltern zu teilen?

Eine gesteigerte Form findet sich im Netz in einem beliebten „Begrüßungsbrief“ für Mütter bei der Eingewöhnung: „Als ich dein Kind zum ersten Mal getroffen habe, habe ich sofort gemerkt, dass es etwas ganz Besonderes ist.“ Schön, wenn man das allen Müttern der Gruppe versichert.

Wie hohl die Phrase ist, erkennt man, wenn man sich das Gegenteil vorstellt. Gehen Teams, die den Satz nicht verwenden, davon aus, dass jedes Kind mehrfach vorkommt und deshalb verwechselbar, zumindest „nix Besonderes“ ist? Hieße der Satz „Jedes Kind, jeder Mensch, jedes Tier, jede Pflanze, jeder Stein ist einmalig und unverwechselbar“, würde sofort klar: Ziemlich banale Weisheit!

Wir wertschätzen das Tun der Kinder…

… oder „ihre sprachlichen Äußerungen“, „ihre Kunstwerke“, ihre „Bedürfnisse“ und begegnen Kindern „mit Respekt“. Auch bei diesem Satz kann man erstens Wortkritik betreiben: „Wert schätzen“ ist ein neutraler Ausdruck. „Der taugt nichts“ ist übrigens auch eine Wertschätzung. Zweitens kann man wieder den Umkehr-Test anwenden, um den Wert der Phrase zu schätzen: Wie sähe es aus, wenn Erzieherinnen dem Tun, den Werken und Worten der Kinder herablassend und respektlos begegnen würden? Auch wenn das durchaus passiert, bleibt festzustellen: Die Phrase erhebt eine absolute berufliche Selbstverständlichkeit zum besonderen Konzept.

Die eigene Haltung kritisch reflektieren

Haltung, könnte man zunächst „kritisch reflektieren“, ist nichts, das man hat, sondern etwas, das man einnimmt. Wir kennen das aus Jugendjahren, in denen wir uns nach dem Satz „Sitz gerade!“ missmutig aufrichteten, aber nach wenigen Sekunden wieder gemütlich erschlafften. Ob das bei der pädagogischen „Grundhaltung“ anders ist?

„Kritisch reflektieren“, ein Lieblingssatz in jeder Weiterbildungsveranstaltung, klingt allzu bienenfleißig. Drehen wir es mal um: Kann man auch „unkritisch reflektieren“?

Auf Augenhöhe begegnen

„Sieh mir in die Augen“, fordert Hilfslehrer Hühnerbrüh im „Kleinen Nick“, und so manches Kind wird bei strengen Belehrungen angeherrscht: „Sieh mich an!“ In die Augen zu schauen, das muss nicht immer positiv sein.

Schwach am tausendfach gelesenen Spruch mit der Augenhöhe ist zweitens, dass er nicht beschreibt, wer da wessen Augenhöhe einnehmen soll. Kritisch hinterfragen könnte man drittens auch die positiv gemeinte Bedeutung der Phrase: Ist es eigentlich möglich und nötig, sich als erwachsener Mensch auf „Augenhöhe“ eines Kindes zu begeben, also zeitweise das eigene Erwachsensein zurückzustellen?

Wir lassen niemanden zurück!

Ein Pro-Inklusions-Spruch, der es in Pandemiezeiten sogar zum englischen Graffiti-Spruch geschafft hat: Leave no one behind! Wie immer nett gemeint, aber voller Fragen: Wer ist „wir“? Und wer sind im Unterschied die anderen, die wir irgendwo zurücklassen? Die „Zurückgebliebenen“ etwa, ein längst geächtetes Wort? Zu welchem Vorwärts geht die Reise eigentlich? Und warum hat sich bei der Pandemie nicht „Leave no one alone“ durchgesetzt, die klare Aufforderung, sich um Einzelne zu kümmern?

Im ständigen Austausch mit den Eltern

Manche Phrasen bestrafen die DrescherInnen damit, dass sie wahr werden. Wer „ständigen Austausch“ mit den Eltern ankündigt, bekommt ihn auch: morgens WhatsApps zum Stattfinden des Ausflugs, endlose Tür-Angel-Gespräche, vormittägliche Anrufe, lange Mails am Abend… Wer dann noch wie der Krimi-Kommissar seine Nummer mit dem Spruch „Sie können mich jederzeit anrufen“ vergibt, weiß bald, was „jederzeit“ bedeutet.

Mit allen Sinnen lernen

Fünf Sinne hat der Mensch – und manchmal kommt noch einer dazu, nämlich der Irr- oder Unsinn. Zum Beispiel dann, wenn die PädagogIn über Lernangebote für kleine Kinder schreibt und selten ohne die Phrase „mit allen Sinnen“ auskommt. Dieses Prädikat wird oft schon verliehen, wenn statt des Seh-Sinns nur der seltener erwähnte Tast-Sinn zum Zuge kommt. Oder kann man den Rasierschaum beim Matsch-Angebot wirklich gleichzeitig sehen, hören, tasten, fühlen, riechen und schmecken? Flapsig gesagt: Wer immerzu von „Lernen mit allen Sinnen“ spricht, dem ist egal, ob das alles Sinn ergibt.

Die Kinder lieben…

… alles, was sie drei Minuten lang einigermaßen interessiert tun. Zumindest, wenn man Fachtexten in Printmedien und im Netz glaubt: „Kinder lieben es, selbstständig Apfelmus zu essen“ stand ebenso in einem Text wie „Kinder lieben Händewaschen“. Und mir strich eine Lektorin den Satz „Kinder lieben analoge Küchenwecker“.

Nun „lieben“ zwar laut Werbesprech auch Erwachsene immer mehr Dinge, Tätigkeiten oder Schnellrestaurants. Aber der Drang, kindliches Tun mit diesem Wort zu veredeln, scheint stündlich zuzunehmen. Anders gesagt: Erwachsene lieben es, jede gelegentliche Vorliebe der Kinder als „Liebe“ zu bezeichnen. Reichlich be-lieb-ich!

Gelebte Partizipation

Jeder lebt sein Leben, bis er lange genug gelebt hat. Manchmal lebt man sich auch aus – auf Kosten anderer womöglich. Wie lebt man so etwas Abstraktes wie „Partizipation“?

Wer meint, Beteiligung aller gehöre so selbstverständlich zum Alltag, dass niemand etwas dafür tun muss, darf durchaus von „gelebter Partizipation“ sprechen oder schreiben. Wenn´s nicht so ist, dann passt besser: Partizipation würde ich gern mal erleben.

Foto:kallejipp/photocase.de

Michael Fink ist Autor und Fortbildner.

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