Die Natur: Ich war zuerst da!

Über dieses Wort freut man sich – natürlich! – als Wortklauber: In „Natur“ steckt alles, was es an Bedeutungen gibt. Schon der Ursprung des Wortes belegt das: „Natur“ heißt „Geburt“, denn sie ist quasi das Geborene, von selbst Entstandene.

Anders als ihre Gegenstücke „Kreatur“ – das Geschaffene oder Bearbeitete – und „Kultur“ braucht „Natur“ keine besondere Existenzberechtigung. Sie war zuerst da und genießt deshalb „Naturrecht“. Man spürt das selbst in unserer Sprache: Zu Sachverhalten, über die wir nicht diskutieren möchten, sagen wir „natürlich“ und „naturgemäß“. Natur heißt: Ist halt so.

Eine besondere Verbindung hat Natur zum Völkischen, auch vom Wort her: „Nation“ besitzt nicht zufällig den gleichen Wortstamm, sondern geht vom Volksstamm aus, in dem alle miteinander verwandt und daher ähnlich sind – Inzest ist die natürlichste Sache der Welt! „Gibt es doch nur bei Naturvölkern“, murrt jemand.

Obwohl wir keine Nationalisten mehr sind, haben wir die dumpfe Vorstellung einer besonderen „Natur“ jedes Volkes nicht völlig abgelegt, sondern sprechen von der „rheinischen Frohnatur“ und den „naturgemäß“ großschnäuzigen Berlinern. Lesen wir in einer Umfrage unter sächsischen Bürgern, dass immerhin 15 Prozent meinen, Deutsche seien anderen Völkern „von Natur aus“ überlegen, vermuten wir, dass solche Ansichten „in der Natur“ der Sachsen liegen.

Verweilen wir noch einen Moment am rechten Rand. „Gott hat die Menschen dahingegeben in schändliche Leidenschaften; denn ihre Frauen haben den natürlichen Verkehr vertauscht mit dem widernatürlichen“, schreibt ein gewisser Paulus – hieß der nicht eben noch Saulus? – in seinem Brief. Was meint er damit? Lesen wir weiter: „Desgleichen haben auch die Männer den natürlichen Verkehr mit der Frau verlassen und sind in Begierde zueinander entbrannt und haben Mann mit Mann Schande getrieben…“

Irgendwie klingt der Autor wie ein moderner Rechtspopulist, obwohl er schon fast 2000 Jahre lang tot ist – oder gerade deswegen? „Wir stehen für … die natürliche Verbindung von Mann und Frau“, sagt jedenfalls Herr Höcke von der AfD.

Traurig, dass selbst die Tier- und Pflanzenwelt ihre Rolle als natürlicher Vertreter des Natürlichen nicht ausfüllt. Bis zu 75 Prozent der Giraffen haben Bi-Erfahrungen, bei Elefanten gibt es Rüssel-Sex unter Bullen, 10 Prozent der Schafböcke sind schwul, und 20 Prozent sind bisexuell. All das lässt nur einen Schluss zu: Die Natur ist ziemlich widernatürlich!

Obwohl wir uns der Natur entfremdet haben, ist sie doch in uns – und damit meine ich nicht nur unseren Urwald aus Darmflora und Bakterienfauna. „Es liegt in der Natur des Menschen…“, tönen wir verheißungsvoll, um mit Satzteilen wie folgenden zu enden: „ein Haus zu bauen“, „Krieg zu führen“, „sich die Welt untertan zu machen“ oder „vernünftig zu denken und unvernünftig zu handeln“.

Kann es sein, dass unsere Natur durchdreht? Dafür spricht, dass es unter uns eine spezielle Untergruppe gibt, was deren Natur betrifft: Diverse Foreneinträge belegen, dass der „Natur des Mannes“ das „Bedürfnis (entspreche), sich mit anderen zu messen“, „der Bestimmer sein (zu) wollen“, aber einen „Beschützerinstinkt“ zu mobilisieren, wenn es um zarte Frauchen geht.

Gibt’s auch etwas, das „in der Natur der Frau“ liegt? Klar: „Cellulite“, „Eifersucht“, „die Schuld bei sich (zu) suchen“ und das, was Friedrich Holländer Marlene Dietrich singen ließ: „Das ist, was soll ich machen, meine Natur. Ich kann halt lieben nur und sonst gar nichts.“

Kurz: „Natur“ ist die treffendste Antwort auf „MeToo“: So sind wir halt – erst recht, wenn es um die „natürlichste Sache der Welt“ geht.

Natur ist primitiv, Kultur ist progressiv? Es gibt auch andere Sichtweisen. Dem Aufklärer und Pädagogik-Vordenker Jean-Jacques Rousseau wird der Ausruf „Zurück zur Natur!“ zugeschrieben. Von Natur aus gut sei der Mensch, fand Rousseau, aber eine ungerechte Gesellschaftsordnung habe ihn davon abgebracht, so dass der tief in ihm schlummernde „edle Wilde“ nur noch selten hervorluge. Ob dieser Gedanke den „Naturisten“ auf dem Campingplatz im Hirn herumspukt, die sich als „Naturfreunde“ fühlen, sich nach „Naturschönheiten“ verzehren und der „Freikörperkultur“ huldigen?

Natur gegen Kultur – der Wettstreit geht weiter. Heute taucht das Wort „Natur“ häufig im Zusammenhang mit seinem ärgsten Kontrahenten auf – in der ursprünglichen Bedeutung von Kultur = Ackerbau. Es ist problemlos möglich, sich auf ein mittelmäßiges REWE-Brot mit „Natur-Pur“-Siegel eine dicke Schicht „NaturPur“-­Zwiebelmettwurst von EDEKA zu schmieren, obwohl Brot, Wurst und alle anderen „Naturprodukte“ nicht ohne unseren kultivierenden Beistand entstehen. Die Alnatura-Produkte, die Naturino-Schuhe, das Laminat „Eiche Natur“, die naturidentischen Aromastoffe im Natur-Joghurt und der Naturdarm um die Currywurst sprechen dafür, dass Natur längst das neue Synonym für Kultur geworden ist. Aber das ist – natürlich – nur eine These.

Die Natur war zuerst da, und deswegen ist sie im Recht: Viele gute und böse Produkte profitieren, wenn sie sich mit dem Begriff „Natur“ rechtfertigen. Nur für eine gilt das jedoch nicht: die geschundene, ausgebeutete Natur. Man muss sie schützen, auch gegen die missbräuchliche, verdächtige, sinnverkehrende Verwendung des natürlich­sten Begriffs der Welt.

Aus: Katharina von der Gathen,
Anke Kuhl: Das Liebesleben der Tiere, 144 Seiten, gebunden,
Klett-Kinderbuch, Leipzig 2017,
18 Euro

Michael Fink ist Autor und Fortbildner.

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