Inklusions-Alltag

Erfurt, im Mai 2015: Aufregung herrscht in den Kitas „Sommersprosse“ und „Farbenklecks“, denn übermorgen wird Einweihung gefeiert. Besser: das Ende der lang anhaltenden Renovierungsarbeiten, in deren Zuge die beiden Kitas endgültig zusammenwuchsen – bei vollem Betrieb. Das war Inklusion pur und unter verschärften Bedingungen. Erfahrungen im Umgang mit dem Einschließen von Unterschieden hatten die Team-Mitglieder allerdings schon gemacht – in vielen Bereichen und Situationen.

Kindergärten „Sommersprosse“ und „Farbenklecks“

Im Kinderhaus mit den zwei Namen gibt es zwei Teams und zwei Leiterinnen – Berit von Chrzanowski-Wien (44) und Ute Müller (44). Auf die Teams verteilen sich fünf Männer, die 26 Frauen standhalten. War das für die männliche Minderheit eigentlich problematisch?

„Nein“, sagt Berit. „Die Männer waren ja nicht alle auf einen Schlag da.“ Trotzdem war es anfangs ungewohnt, denn: „In den Pausen konnten wir uns plötzlich nicht mehr frauen-, liebes- oder familientechnisch austauschen, weil da der eine oder andere Mann saß, der sich natürlich nicht die Ohren zuhielt, sondern sich sein Teil dachte oder einen trockenen Witz riss.“ Als ich wissen will, ob die Frauen die Männer mal gefragt hatten, wie sie sich angesichts der weiblichen Übermacht fühlen, meint Berit: „Gut. Besonders, seit sie zu fünft sind. Es könnten auch mehr werden, aber es gibt noch zu wenige Männer auf dem Markt. Das ändert sich jetzt langsam, und den Eltern gefällt das. In der Generation der Fünfzig- bis Sechzigjährigen mag es noch Leute geben, die der Ansicht sind, dass Männer in Kitas nichts zu suchen haben, weil Kindererziehung Frauensache ist, und die mutmaßen: Wer da arbeitet, muss schwul sein und nimmt deshalb die weibliche Rolle ein. So ein Unsinn! Viele Männer haben weibliche Züge, viele Frauen männliche. Jeder Mensch besteht aus Yin und Yang.“

 

Jung und männlich

Stefan Kitsche (33) ist Erzieher im Kleinkindbereich, und der Zufall will es, dass er gerade um die Ecke biegt. Als Berit ihn bittet, mir zu erzählen, wie er sich als Mann unter vielen Frauen fühlt, sagt er: „Anfangs hatte ich eine Art Welpenschutz. Die Kolleginnen nahmen Rücksicht. Dadurch fiel mir der Einstieg leichter. An dieses System, in dem Frauen vorherrschen, musste ich mich trotzdem erst gewöhnen. Die Kommunikation ist anders, die Bedürfnisse sind anders. Ich will ja keine Klischees aufwärmen, aber die meisten Frauen wollen in der Pause kommunizieren. Ich hingegen möchte meine Ruhe haben, mich zurückziehen. Das hat sich dann irgendwann eingespielt.“ Hatte Stefan mal das Gefühl, dass die Kolleginnen ihn als Erzieher nicht ganz ernst nehmen? Stefan lacht. „Dann war ich selbst schuld, weil ich gern der Clown bin. In der Regel werde ich ernst genommen und respektiert.“

Berits Stellvertreter Oliver Hahn (27) gesellt sich zu uns. „Bei mir lag es nicht daran, dass ich ein Mann bin“, sagt er, „sondern dass ich als Berufsanfänger so jung war. Da hieß es: Unser Prinzchen kommt gerade vom Studium, hat noch ein idealistisches Weltbild, aber das wird sich schon geben. Mittlerweile bin ich das sechste Jahr im Beruf und muss längst das Gleiche leisten wie die Frauen. Dafür mehr Lob einzuheimsen, nur weil ich einen Penis habe, das ist doch Unsinn.“ Beargwöhnt wurde Stefan von Eltern nicht. „Ich hatte zum Glück viele Vorkämpfer, die Mauern einrissen und Ängste abbauten. In der Regel bekomme ich positive Rückmeldungen von den Eltern. Übrigens nicht nur auf meine Person bezogen, sondern auch darauf, dass wir hier fünf Männer sind. Aber einmal passierte es, dass eine Mutter sich während der Eingewöhnung ihres Kindes entschloss, es abzumelden, weil ich die Kleinen betreute. Ich nahm das nicht persönlich, denn ich erfuhr, dass sie schlimme Erfahrungen mit Männern gemacht hatte. Mir war es sogar lieber, dass sie eine klare Entscheidung traf. Womöglich hätten wir uns ewig mit Vertrauensbildungsversuchen rumgequält, die von vornherein zum Scheitern verurteilt waren.“

Was den Generalverdacht angeht, fühlen sich Stefan und Oliver sicher. Käme ein Verdacht auf, könne man darüber sprechen und professionell handeln. „Dennoch habe ich Angst davor, dass unter den Eltern mal ein Gerücht entsteht. Kann ja passieren…“, sagt Stefan. Oliver zuckt die Schultern: „Ehrlich, mich würde es im Arbeitsalltag belasten, wenn ich mir immerzu Gedanken machen müsste, ob jemand etwas falsch interpretiert. Wir sind uns einig, dass wir die Verantwortung tragen wollen, und das können wir auch.“

 

Fast taub oder mehrsprachig?

Während die Männer zurück in ihre Kindergruppen gehen, führen Berit und Ute mich durch den mit Wimpelketten geschmückten Flur ins Restaurant der „Wiesenkinder“ und der Gruppe „Wirbelwind“, in dem die Kinder gerade Mittag essen. Es gibt Rührei mit Spinat und Kartoffeln. An einem Tisch sitzt der vierjährige Max.

„Sieh mal, was Max macht“, sagt Ute. Max zeigt auf den Spinat und streckt die Zunge heraus. Das heißt: Er mag keinen Spinat. Dann zeigt er auf das Rührei und streicht über seinen Bauch. Rührei mag er. Als er von seiner Erzieherin gefragt wird, ob er mehr haben möchte, schüttelt er den Kopf und geht mit dem Teller zu seinem Platz am Tisch. Hätte er nicht diese Magneten hinter den Ohren…

„Max gehört zu den mehrsprachigen Kindern in der Kita“, sagt Ute. „Er lernt gerade die Gebärden- und die Lautsprache.“ Vor anderthalb Jahren wurde festgestellt, dass der Junge nicht hören kann. Seit zwei Wochen trägt er das zweite Cochlea-Implantat, eine Hörprothese, deren Magneten auf der Kopfhaut zu sehen sind. „Zuvor hatte er nichts gehört, gar nichts“, erklärt Berit. „Er verstand nicht, was wir sagten. Als er das erste Implantat bekam, legte er es oft weg. Es war ja neu für ihn, seine Umgebung plötzlich zu hören, Stimmen oder Töne. Wurde ihm das zu viel, machte er das Implantat ab. Mittlerweile kann er gut damit umgehen. Aber es gibt keine Garantie, dass er jemals hören wird. Seine Eltern setzen alles daran, dass er sprechen lernt. Nun muss er dreierlei bewältigen: mit der lauten Umwelt fertig werden, die Gebärdensprache lernen, um zu kommunizieren, und die Lautsprache lernen, um Wörter sprechen zu können.“

Kindergärten „Sommersprosse“ und „Farbenklecks“

Ein Mal in der Woche kommt eine Pädagogin aus dem Erfurter Gehörlosen-Zentrum, um Max die Gebärdensprache beizubringen. Eine zweite Pädagogin besucht ihn zu Hause und arbeitet dort mit ihm und seinen Eltern, die diese Sprache auch lernen müssen. Eine der beiden Fachfrauen war der Meinung, Max wäre in einer Kita für gehörlose Kinder besser aufgehoben, weil er dort intensiver gefördert werden könnte und unter seinesgleichen wäre.

„Aber wir haben uns mit den Eltern dagegen entschieden“, sagt Berit. „Seit seinem zweiten Lebensjahr ist Max bei uns. Er kennt den Tagesablauf, hat Freunde und fühlt sich hier wohl. Warum soll man ihn aus diesem Umfeld herausreißen?“

Als die Kinder mit dem Essen fertig sind, frage ich Lily und Jason: „Wie kommt ihr mit Max zurecht? Hört er denn, was ihr sagt?“

Lilly: „Wir reden mit ihm in Gebärdensprache.“

Erika: „Sag mal in Gebärdensprache: Das Essen ist fertig.“ Lilly tut so, als ob sie sich Essen in den Mund löffelt.

Erika: „Was macht Max, wenn er euch was sagen will?“

Jason: „Wenn er sagen will, dass ich mitkommen soll, klopft er mir auf die Schulter.“

Erika: „Müsst ihr vorsichtig mit Max sein, weil er diese Magneten am Kopf hat?“

Jason: „Na ja, der Magnet geht manchmal ab. Wir suchen ihn dann, und Max macht ihn wieder an.“

Erika: „Wie findet ihr denn die Gebärdensprache?“

Lilly: „Gut. Das ist wie eine Geheimsprache. Ich habe meiner Oma schon ganz viel davon gezeigt.“

Dass Max nur wenig hören kann, macht nicht sein Leben aus. Vielmehr sind es die Beziehungen zu Kindern und Erwachsenen, die seine Bedürfnisse wahrnehmen, ihn in der Kita oder zu Hause unterstützen und gern mit ihm zusammen sind. Das ist tausendmal wichtiger als Förderung, die sich nur auf sein Defizit bezieht. Außerdem: Er kann etwas geben. Und die andren Kinder würdigen das. „Ja“, sagt Ute. „Das ist unsere Pädagogik: von den Stärken der Kinder ausgehen.“

 

Ganz normale Sprachgenies

Ein anderes Beispiel für diese Stärken lieferten Karissa und Cloe, die mit zwei Jahren in die Kita kamen. Ihre Mutter sprach indonesisch mit ihnen, der Vater englisch. In der Kita lernten sie Deutsch, als dritte Sprache. „Uns hat überwältigt, wie schnell sie das schafften“, erinnert sich Berit. „Drei Sprachen mit zwei Jahren! Unglaublich!“

Waren Karissa und Cloe Sprachgenies? Nein, es waren ganz normale kleine Mädchen, die zu Hause mit ihren Eltern sprechen wollen, die Sprachen der Eltern hören und die Wörter lernen. Kommen sie in die Kita, wollen sie sich mit den Menschen, die dort sind, auch verständigen. Also lernen sie schnell Neues, weil sie ihre Kommunikationsbedürfnisse befriedigen wollen. „Behindern die Kita-Strukturen oder dämliche Erwachsene das nicht“, sagt Berit, „dann funktioniert es. Da muss man sich eigentlich gar nicht groß wundern.“

Der Vater von William (2) und Celeste (5) sprach nur englisch, als er mit seiner Familie aus Australien nach Erfurt kam. Jetzt lernt er mit seinen Kinder Deutsch und staunt, wie schnell sie alles begreifen, während er sich schwer tut. „Kein Wunder“, findet Ute, „wir Erwachsene machen uns viel zu viele Gedanken über die Grammatik. Darüber denken die Kinder nicht nach, sondern probieren aus, ob man sie versteht. Celeste hat nur vier Monate gebraucht, um sich unterhalten zu können. Sie versteht alles.“

Dass die Eltern daheim die Familiensprachen pflegen, finden Ute und Berit wichtig, „weil die Kinder dann zu Hause ihren eigenen Sprachraum haben, mit den Eltern zusammen – die Sprachen nämlich, die Mutter und Vater sprechen und für die sie Experten sind. Die Erzieherinnen und Erzieher in der Kita sind für die deutsche Sprache zuständig. Das ergänzt sich, so dass die Kinder über zwei Sprachen verfügen, die sie in beiden Welten – die Kita und das Zuhause – anwenden. Außerdem bringen sie die Sprachkompetenz von zu Hause hier ein, merken, dass sie etwas geben können und wie gut es ist, wenn man mehrere Sprachen spricht. Ich beneide die Kinder, die mit zwei Sprachen aufwachsen“, sagt Berit. „Ist man erwachsen, lernt man nicht mehr so leicht. Und als wir Kinder waren – unter welchen Bedingungen haben wir Russisch gelernt? Wie Trockenschwimmen und nicht aus freien Stücken. In der Schule gab es keine russischen Kinder, mit denen wir uns hätten unterhalten können. Nein, wir mussten bloß Vokabeln pauken…“

„… oder uns im Englischunterricht mit London befassen, ohne die Chance, diese Stadt jemals kennenzulernen“, mischt sich Ute ein. „Dass es dann anders kam, daran dachte damals niemand.“

Kindergärten „Sommersprosse“ und „Farbenklecks“

 

Inklusion auf dem Örtchen

Auf der Toilette der Erwachsenen hängen in Blickhöhe das Protokoll einer Teamberatung und eine Info der AG „Familienfest“. Ich fühle mich nicht nur erleichtert, sondern auch informiert.

„Manchmal hängt da ein Gedicht, ein Spruch oder ein Cartoon, also was zum Schmunzeln“, räumt Berit ein. Sehr weise, denn schließlich sind auch Unterhaltungsbedürfnisse unterschiedlich. Wer hatte denn diese ungewöhnliche Idee? Um dem einen oder anderen Informationsdefizit, das in einer Doppel-Kita schon mal auftreten kann, abzuhelfen, hatte sich die AG Kommunikation überlegt: Aufs stille Örtchen muss jeder Mensch mal. Wenn man da sitzt, kann man die Zeit nutzen. Außerdem soll es Leute geben, die auf dem Klo die besten Ideen haben.

 

Fotos: Kindergärten „Sommersprosse“ und „Farbenklecks“

 

 

Erika Berthold ist freie Journalistin und Redakteurin bei wamiki.

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