Ohne Erwachsene geht es nicht

Frauke Hildebrandt greift die Fragen von Kornelia Schneider auf und stellt ihre Argumente zur Diskussion.

Hier gibt es den Artikel auch als PDF: ohne Erwachsene_#2_2023

 

Was ist unter „Navigieren im Raum der Gründe“ zu verstehen?

Den Begriff „Raum der Gründe“ prägte Wilfried Sellars1, für mich einer der wichtigsten Philosophen des 20. Jahrhunderts. Er sagte sinngemäß, dass es einen von uns bewohnten Raum gibt, den wir geistig teilen, in dem wir uns aber genauso begegnen können wie in der Küche oder im Wohnzimmer. Im „Raum der Gründe“ geht es darum zu schauen, wie die Phänomene in dieser Welt mit anderen Phänomenen oder Sachverhalten zusammenhängen, und zu fragen: Warum ist das eigentlich so? Wie wäre es, wenn die Sachen anders wären, als sie sind? Was würde daraus folgen? Nach Sellars treffen wir uns im „Raum der Gründe“, um miteinander nachzudenken, zu diskutieren, Gründe, Motive oder Zwecke miteinander in Bezug auf bestimmte Sachverhalte auszutauschen. Also nicht: Jeder Mensch denkt abgekapselt irgendwas und hat seine Begründungen dafür, sondern man muss miteinander ins Gespräch kommen.

Kinder sind sehr daran interessiert, mit Erwachsenen in solche Gespräche einzutreten. Wenn wir sagen: „Guck mal, da ist ein Vogel. Jetzt fliegt er weg, weil er einen Schreck gekriegt hat, denn wir sind ihm zu nahe gekommen“, dann haben wir einen Zusammenhang im „Raum der Gründe“ beschrieben. Es geht also nicht um philosophische Themen, sondern darum, Sachverhalte, die man beobachtet, in Zusammenhang mit anderen Sachverhalten zu bringen. Das kann man schon mit ganz jungen Kindern thematisieren. Sie sind sehr früh im Raum der Gründe, und wir können sie dabei unterstützen, wenn wir mit ihnen reden und keine Sonder-Sorte von Begründungen anbieten. Es geht auch nicht darum, Begründen zu trainieren, sondern wir lernen im Gespräch voneinander, wie man Sachverhalte in Zusammenhang mit anderen Sachverhalten setzt, um dadurch Dinge besser zu verstehen. Selbst anderthalbjährige Kinder sind zu Dialogen darüber imstande, warum der Vogel wegfliegt. Natürlich braucht man dazu die Sprache. Mit ihr betritt man eine andere Welt als nur mit dem Körper, obwohl die Körpersprache, gerade bei sehr jungen Kindern, auch einen Beitrag in solchen Dialogen leisten kann, zum Beispiel wenn wir die Zeigegesten der Kinder aufgreifen.

 

Welche Auffassung von Bildung wird vertreten?

Da gibt es einen Dissens mit Kornelia Schneider. Wir gehen mit Tomasello2 davon aus: Wenn zwei, drei oder vier Babys auf einer einsamen Insel sind und miteinander interagieren sollen, entsteht keine menschliche Sprache, kein „Raum der Gründe“. Das, was man bekommt, wenn man in eine Gesellschaft einsozialisiert wird, in der Menschen schon einsozialisiert wurden, nämlich eine kulturelle Praxis, entsteht nicht. Zu sagen, wenn es den Kindern irgendwie gut geht, sie ihr Essen kriegen und liebgehabt werden, dann passiert der Rest schon von allein – das glauben wir nicht.

Wir haben in Deutschland eine Chancenungleichheit, die zum Himmel schreit. Es gibt Kinder, in deren Familien der „Raum der Gründe“ wenig bis kaum betreten wird. Da hilft auch kein isoliertes Förderprogramm. Nein, die Kinder müssen einsozialisiert werden, denn wir kommen nur in diesen Raum, wenn Erwachsene miteinander und mit uns reden.

Das heißt nicht, dass Kinder nicht auch von sich aus sehr viel mitbringen. Kornelia Schneider hat Recht, wenn sie schreibt, dass niemand für jemand anderen lernen kann: Lernen ist immer Selbsttätigkeit, und Kinder sind von Geburt an damit beschäftigt, die Welt um sich herum zu begreifen – zuerst körperlich und dann eben zunehmend – auch sehr junge Kinder – sprachlich-begrifflich vermittelt. Aber die Fähigkeiten der Kinder zur Hypothesenbildung und zum Herstellen von Zusammenhängen, ihre natürliche Neugierde und ihr Drang zu lernen müssen von den Erwachsenen aufgegriffen werden, damit die Kinder sich gut weiterentwickeln können.

Es wird unterschätzt, was die Erwachsenen tun. Wichtig ist jedoch, dass sie nicht anfangen zu kommandieren, zu instruieren und zu sagen, was zu tun ist und was nicht. Sie dürfen nicht verbieten und kindliche Autonomiegrenzen überschreiten. Sie sollen die Kinder in den Shared thinking-Prozess, in den Diskurs hineinbringen, damit die Kinder sich daran gewöhnen, die Mittel und Techniken verstehen, mit denen man sich im „Raum der Gründe“ bewegt. Aber viele Eltern tun das nicht. Deshalb müssen die Kita-Teams das unbedingt praktizieren, und zwar bewusst, nicht intuitiv aus dem Bauch heraus und nicht allein mit Körpersprache.

Müssen Kinder denken lernen, wie der Buchtitel sagt?

Ja, das müssen sie. Natürlich haben sie die Anlage dazu, und sie fragen ständig – explizit oder implizit – von sich aus: Warum? Aber was passiert mit diesen Warum-Fragen? Werden sie aufgegriffen, geschätzt, weiterentwickelt? Werden Kinder in diesen gemeinsamen positiven Prozess hineingeholt oder nicht?

 

Was beinhaltet Denken?

Sicherlich gibt es auch vorsprachliche, körperlich und sinnlich vermittelte Wege der Welterschließung. Aber in unserem Beitrag haben wir uns auf das Denken im Sinne der Fähigkeit, im „Raum der Gründe“ zu navigieren, fokussiert. Das bedeutet, dass man lernt, seine Meinung zu begründen, auch vor sich selbst, und prüft, wie triftig die eigenen und die Gründe des anderen Menschen jeweils sind. Denn nur so wird man einerseits dazu befähigt, sich selbst gut begründete Ziele zu setzen. Und andererseits wird auch nur so ein gleichberechtigtes, demokratisches Zusammenleben möglich.

 

Wie kommen Kinder in den Raum der Gründe?

Durch die Erwachsenen. Sie müssen deutlich machen: „Super, dass du diese Warum-Frage stellst! Ich glaube, dass es so und so ist.“ Aber sie dürfen nicht anfangen zu erklären: „Hör mal gut zu, so und so ist die Welt.“ Sie sollen weiterfragen: „Könnte es auch anders ein? Lass uns mal überlegen. Ich stelle mir vor, dass es so ist. Was denkst du?“ Um diese Art von Dialog geht es, und man kann damit beginnen, wenn Kinder etwa ein Jahr alt sind. Darauf müssen sie zunächst noch gar nicht antworten. Aber sie nehmen die sprachlichen Impulse wahr, auch wenn sie vieles hören, das sie zunächst nicht verstehen.

Im Hirn der Kinder spielt sich ein Struktur suchender Prozess ab, das Hirn sucht nach Regeln und ordnet sie. Je reichhaltiger der Input in Bezug auf Begründungen ist, desto mehr nehmen die Kinder auf. Sicherlich, und da stimmen wir Kornelia Schneider wieder zu, spielen dabei auch sozial-emotionale Prozesse und das Herstellen von Resonanz eine wesentliche Rolle, selbst wenn dies nicht im Fokus unseres Beitrags steht. Aber noch einmal: Ohne Erwachsene, die ihnen eine konkrete Struktur anbieten, kommt ein Kind nicht in den „Raum der Gründe.“

 

Was sind gute Gelegenheiten, sich als Erwachsene einzubringen?

Dazu eignet sich jeder Moment, jede Situation: beim Essen, beim Anziehen, beim Rausgehen, beim Spazieren­gehen, beim Aufräumen. Immer kann man fragen: „Warum machen wir das eigentlich? Könnten wir es auch anders machen?“ Tausend Fragen sind in jeder Sekunde möglich, wenn man daran anknüpft, was ein Kind tut, was es für Fragen stellt, wenn man mit ihm darüber nachdenkt und es so in den „Raum der Gründe“ lockt.

Kornelia Schneider sagt: Das ist ja nur kognitiv. Aber wir beschäftigen uns nun mal mit der kognitiven Entwicklung. Natürlich brauchen Kinder Zuwendung, Zugehörigkeit und nonverbale Signale dafür, dass sie angenommen sind. Sie denken nicht über Gründe nach, wenn die Situation um sie herum feindlich ist oder ihnen nicht auf Augenhöhe begegnet wird, ihre eigenen Impulse und Bedürfnisse nicht wahrgenommen werden.

Darüber kann man viel sagen, aber das ist an dieser Stelle nicht unser Thema. Wir gucken, was passieren muss, damit Kinder kognitiv in den „Raum der Gründe“ kommen. Im Beitrag von Sabine Hebenstreit-Müller wird ausführlich dargelegt, unter welchen Bedingungen Dialoge mit Kindern gelingen und was pädagogische Fachkräfte dabei tun können.

Wie ist „sustained shared thinking“ möglich, ohne dass das gewohnte Denken der Erwachsenen den Gedankenfluss der Kinder dominiert?

Das geht nur, indem man konsequent epistemisch markiert. Das heißt, man sagt: „Ich denke das so, ich glaube, dass es so ist.“ Und dann begründet man, warum man das so sieht. Dabei merken die Kinder, dass man nicht die Weisheit mit Löffeln gefressen hat, sondern ein Angebot macht. Das ist auch eine Art von Einsozialisierung.

 

Wie machen sich Erwachsene selbst auf den Weg zum Navigieren im „Raum der Gründe“?

Für mich gibt es zwei Varianten. Entweder fängt man selbst an, darüber zu reflektieren, was man spannend findet, und versucht, Fragen dazu zu stellen. Oder man nimmt sich vor: Ich lerne jetzt, mit den Kindern so zu reden und andere Fragen zu stellen als: „Wie war es denn bei Opa? Hat das Essen geschmeckt?“

Ich finde die zweite Variante vielversprechend, denn wenn ich anders mit Kindern rede, kriege ich natürlich auch anderes Feedback. Dadurch provoziere ich andere Inputs für mich, die mich dazu bewegen können, anders zu denken. Oft kommen überraschende Aussagen, die dazu anregen, die eigene Sicht zu überdenken und zu hinterfragen. Und damit werden wir Erwachsene, genau wie Kornelia Schneider es ja fordert, eben auch selbst zu Lernenden im Dialog mit Kindern.

Wie stellen Erwachsene sich darauf ein, Anknüpfungspunkte für gemeinsames Denken zu finden, die Kinder gern aufgreifen?

Wichtig ist der gemeinsame Fokus: Wenn ein Kind etwas tut und ich mich dazusetze, also auf Augenhöhe bin, geht es um Folgen und Benennen. Das heißt, ich sage: „Aha, du nimmst die Erbse und legst sie da rein.“ Damit signalisiere ich: Ich sehe, was du tust. Wenn das Kind dann ins Sprechen kommt, kann ich sagen: „Ja, ich habe das auch probiert, aber die Erbsen werden gar nicht weich. Ich frage mich, wie…“ Wir kommen ins gemeinsame Nachdenken, wenn eine Situation so aufrechterhalten werden kann, dass sie spannend ist. Dafür gibt es Techniken, die wir mit Pädagoginnen trainieren.

Noch einmal: Das müssen wir Erwachsene tun. Es ist unsere Verantwortung, denn das machen keine Gleichaltrigen. Warum-Fragen werden von Kindern übrigens auch nicht an Gleichaltrige gerichtet, sondern an Menschen, von denen die Kinder erwarten, dass sie sie einsozialisieren.

 

1 Wilfrid Stalker Sellars (1912-1989) war ein amerikanischer Philosoph, der Beiträge zur Philosophie des Geistes, zur Erkenntnistheorie und zur Metaphysik leistete.

2 Michael Tomasello (geb. 1950) ist ein amerikanischer Anthropologe und Verhaltensforscher.

 

Interview: Erika Berthold

 

ist Professorin an der Fachhochschule Potsdam. Sie forscht zu kognitiv anregender Interaktion und arbeitet mit Kitas und Grundschulen zu den Themen „Sprachbildung“ und „Übergang Kita-Grundschule“.

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