Piep, lieb, Appetit!

Wort und Essen gehören oft zusammen. Zum Beispiel im uralten Brauch, Mahlzeiten mit einem Tischspruch einzuleiten. Ein ziemlich paternalistischer Brauch ist das: Erst segnet der Chef die Speise, dann darf gegessen werden. Heute führen Tischsprüche eher ein Nischen-Dasein bei steifen Feierlichkeiten, hochrangigen Zusammenkünften oder im religiösen Kontext, nicht aber im deutschen Kindergarten. Hören wir mal rein, welche Worte dort gesprochen werden?

Hier gibts den Artikel als PDF: Wortklauber+Gedicht_#5_2020

Komm, Herr Jesus, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast.

Der Klassiker aller Tischsprüche, getextet von Nikolaus von Zinzendorf, dem Begründer der Herrnhuter Brüdergemeinde. Für alle Laien: Das ist die mit dem Papierstern.

Religiöse Tischsprüche gab es natürlich schon viel länger, etwa im Judentum. Anders als im Christentum wird Gott dort erst am Ende des Essens gedankt, im Islam quasi währenddessen, während der Christ vor dem Verzehr der Speise noch schnell um deren Segnung bittet.

Der Spruch wirft alberne wie ernsthafte Fragen auf. Etwa, warum nicht wie in älteren Tischgebeten Gott, sondern seinem Sohn die Verantwortung für die Speisen zugeschrieben wird. Dann die Frage, ob Jesus auch Speisen wie die Schnitzel verantwortet, die aus mit Wasser aufgespritzten, von rumänischen Billiglohnkräften zerlegten und mit auf Regenwaldböden erzeugtem Soja gefütterten Massentierhaltungsschweinen bestehen. Soll er heute etwa auch die Currywurst und den Halal-Döner segnen?“

Piep, piep, piep, wir haben uns alle lieb…

Ein moderner Klassiker. Trotz des albernen Reims steht der Spruch durchaus in christlicher Nachfolge – wegen der postulierten Nächstenliebe, die ja im christlich geprägten Kindergarten ohnehin quasi DNA ist.

„Piep, piep, piep“ klingt zwar sinnfrei, erklärt sich aber durch die oft vergessenen zwei Anfangszeilen: „Wir sind die kleinen Spatzen und kommen aus Berlin. Wo es was zu fressen gibt, da fliegen wir gleich hin. Piep…“ Der Tiervergleich verdeutlicht die Message des Spruchs: Möglichst viel essen, wie es Spatzen tun. Das unterstreichen auch die beliebten Folgezeilen: „Jeder fresse, was er kann, nur nicht seinen Nebenmann!“ Und weil es inzwischen bei PädagogInnen dazu gehört, Seminare zu geschlechtssensibilisierender Pädagogik zu besuchen, konkretisiert der Nachsatz: „Und wir nehmen´s ganz genau, auch nicht seine Nebenfrau.“ Ob bald eine weitere Zeile vom Verzehr sich als nicht-binär erklärender Menschen abrät?

Sumsebienchen, freche Spatzen, hört jetzt bitte auf zu schwatzen. Schaut euch an und habt euch lieb. Guten Appetit!

Wem es widersteht, Mitmenschen zu essen, der nutzt vielleicht diesen Spruch, quasi ein Hauptwerk der Mutti-Pädagogik. Versöhnt er doch in vier Zeilen die fleißige Biene mit dem frechen Spatz, fordert Schweigen beim Essen, dirigiert ganz selbstverständlich die Blickrichtung der Kinder und befiehlt bedingungs- oder grundlose Liebe. Ein Spruch, der seine Absicht so kundtut, dass beim Schlusswort „Guten Appetit!“ fast automatisch Sarkasmus mitklingt…

Piep, piep, Mäuschen, bleib in deinem Häuschen. Wir essen unsern Teller leer, da bleibt für dich kein Krümel mehr. Widewidewitt – guten Appetit!

Auch dieser Spruch vertritt das Ernährungsideal der sechziger Jahre, bevor Überernährung zum Problem wurde: Kinder müssen ein Maximum an Nahrung aufnehmen. Nur dass er – im Gegensatz zu der geforderten universellen Liebe bei „Piep, piep, piep“ – ein äußerst schäbiges Motiv in die Argumentation einbezieht: Wenn wir alles essen, kriegt die Maus nix – ätschi bätschi!

Was ist die Alternative zu Tischsprüchen, die sinnlose Nahrungsaufnahme predigen? Relativ sachlich versucht der folgende Spruch die Essenssituation zusammenzufassen:

Wir sitzen zusammen, der Tisch ist gedeckt, wir wünschen allen, dass es gut schmeckt!

Ehrlicher wirkt die ebenfalls verbreitete Variante, in der die bange Frage nach dem Inhalt des heutigen Apetito-Tiefkühlpakets mitschwingt:

Wir sitzen zusammen, der Tisch ist gedeckt, wir wünschen uns alle, dass es gut schmeckt!

Leider ist es beim Essen oft un­ruhig, weil manche Kinder sich von voran­gegangenen Spielhandlungen nicht lösen, die Speisen nicht mögen und nicht ordentlich essen können. Warum diese Negativ-Botschaft nicht in einem heiteren Tischspruch verstecken, der jede Kritik am Essensgeschmack als unangebracht erklärt?

Wir wollen jetzt essen, das Spielen vergessen. Kein Gemecker, kein Geklecker, denn das Essen schmeckt so lecker. Wir fassen uns an und fangen jetzt an. Guten Appetit!

Im folgenden Beispiel täuscht ein putziger Reim darüber hinweg, dass der Tischspruch eine düstere Benimmregel nach der anderen enthält:

Ellenbogen, Ellenbogen, sei doch nicht so ungezogen, auf dem Tisch sollst du nicht sein. Alle Kinder essen fein. Piep, piep, piep, guten Appetit.

Wer sich der eigenen Autorität nicht sicher ist, arbeitet vielleicht mit dem Schreckbild eines Zwergs, dessen Beschreibung Menschen außerhalb der Kita womöglich an Exhibitionismus denken lässt:

Dort oben auf dem Kuckmalberg sitzt ein kleiner Kuckmalzwerg. Er hat ein langes Fernrohr dran, da sieht er, wer gut essen kann. Guten Appetit!

Uahhh, es reicht! Gibt’s auch harmlose, nette Sprüche? Klar, zum Beispiel diesen – allerdings nix für Vegetarier:

Hippel die Wippel, die Wurst hat zwei Zippel. Der Schinken vier Ecken, nun lasst es euch schmecken!

Retro-Freunde aus dem Osten schätzen vielleicht diese fast vergessene Singezeile – wegen ihrer irrwitzigen Kombination aus Speisenangebot und Lautstärke:

Heute gibt es Sauerkraut, seid beim Essen nicht so laut!

Ein bisschen Kinderladen-Spirit aus den Siebzigern, verbunden mit Bewegungsfreude und Kritik an mancher Speisenqualität atmet der folgende Lieblings-Tischspruch des Autors:

Haut den Löffel in die Pampe, dass es spritzt bis an die Lampe. Piep, piep, piep!

 

Foto: Mindseys, Photocase

Michael Fink ist Autor und Fortbildner.

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