Im Zweifel für die Kinder

Im Plauener Hort Kuntzehöhe gehen alle zehn Mitarbeiterinnen gern zur Arbeit, obwohl die Bedingungen wahrlich schwierig sind: Von den 155 Kindern haben 52 Kinder Eltern nichtdeutscher Herkunft. In 42 Familien wird zu Hause nicht deutsch gesprochen. Und 36 Kinder stammen aus Familien mit Kriegs- oder Fluchterfahrungen. Es gibt jede Menge Heraus­forderungen, aber auch die Gewissheit, dass man ihnen gemeinsam zu Leibe rücken kann.

Im September 2015 wurden an der Plauener Grundschule Kuntzehöhe zwei Klassen mit Deutsch als Zweitsprache eingerichtet, und quasi über Nacht kamen zehn Kinder aus Syrien, Pakistan und dem Iran in den Hort, die kein Wort Deutsch kannten. Ihre Familien waren in Plauener Erstaufnahme-Einrichtungen gelandet, bevor sie freie Wohnungen in der ganzen Stadt beziehen konnten. Schon mal ein Glücksfall.

Die Herausforderungen: Vorurteile, Ängste, Unsicherheit

Jana Knüpfer, die Hortleiterin, war sicher: „Wir brauchen dringend Wissen über islamische Familien, ihre Kultur und ihre Religion, um Unsicherheiten und Ängste überwinden zu können.“ Eine Freundin, die Islamwissenschaften studiert und in Ägypten gelebt hatte, kam dem Hort-Team zu Hilfe und räumte mit Klischeevorstellungen auf. „Trotzdem dachten wir: Oh, Gott! Die Familien haben Krieg und Flucht erlebt, die Kinder sind vielleicht traumatisiert, auf jeden Fall sehr belastet. Wie sollen sie sich auf uns, unseren Alltag, unsere Regeln einlassen?“ erinnert sich Jana.

Zu den ersten Kindern gehörte ein zehnjähriges Mädchen, das mit seinem Vater aus Syrien geflohen war. Die Mutter und zwei Schwestern waren noch in Damaskus. Todunglücklich wirkte Wafaa und sprach kein Wort. Drei syrische Geschwister, die schon im Hort waren, nahmen sich des Mädchens an. Weil sie zu dritt waren, ging es ihnen besser. Auf einem Globus zeigten die Kinder Jana, wo sie gelebt hatten. „Da kam auch Wafaa näher, zupfte an mir und bedeutete mir, dass sie aus der gleichen Region stammt“, erzählt Jana. „Das war unser erster Kontakt. Etwas später zeigte das Mädchen mir in einem Bilderbuch, das eine Fluchtgeschichte beschreibt, wo es saß in so einem Boot, und machte mir klar, dass es nicht schwimmen kann. Mir kamen die Tränen, ich nahm das Kind in den Arm, und da weinten wir beide.“ Zu Anfang dieses Jahres trafen Wafaas Mutter und Schwestern in Plauen ein. Die Erleichterung war groß. Eine Schwester des Mädchens geht nun auch in den Hort.

Ein paar Wochen später trafen sich arabische Mütter in der kleinen Hortküche, kochten ein riesiges Mahl für alle, und da fanden selbst die deutschen Kinder: „War lecker.“ Ausgerechnet an diesem Tag kam Rizan, der mit Frau und Kind aus Syrien geflüchtet war, zum ersten Mal in den Hort, um zu dolmetschen, und sagte: „Hier bleibe ich. Hier gibt es gutes arabisches Essen.“ Jana erklärte ihm, dass sie ihn nicht bezahlen könne. Das hielt Rizan aber nicht ab, denn ihm ging es darum, Deutsch zu lernen. Von montags bis freitags kam er für je zwei Stunden, übersetzte bei Gesprächen mit Eltern, übertrug die Willkommens-Hefter ins Arabische und half beim Ausfüllen von Anträgen. Mit den Kindern aus seinem Land kam er schnell in Kontakt, denn er war für sie Heimat.

„Uns erzählte er vom Alltag in Syrien, davon, wie das Leben ablief, als noch Frieden herrschte, wie das Verhältnis von Mann und Frau zu verstehen ist, wie die Familien leben und wie das Bildungssystem seines Landes funktionierte. Dadurch konnten wir uns vieles besser erklären. Rizan war immer Ansprechpartner – für die Kinder, die Eltern und für uns“, berichtet Jana. „Als wir 2016 in das Willkommens-Projekt aufgenommen wurden, konnte Rizan halbwegs finanziert werden. Erstaunlicherweise verbindet uns ein ähnliches Gefühl für Ironie, und wir lachen oft über das ‚typisch ‘ Deutsche und Arabische. Wenn wir Rizan nicht gehabt hätten…“ Wieder ein Glücksfall.

Die sattsam bekannten Probleme gab es auch. Deutsche Kinder brachten mit, was sie zu Hause aufgeschnappt hatten: „Die Ausländer klauen!“ Dagegen stellten sich die Erzieherinnen und fragten: „Woher wollt ihr das wissen?“ Stand in der Lokalpresse, dass ein Diebstahl aufgeklärt wurde, zeigten sie den Kindern den Beitrag. „Lest mal, es sind nicht immer die Ausländer.“ Fiel ein übles Wort, nahmen sie das Kind beiseite und fragten: „Warum sagst du das? Kannst du dir vorstellen, wie es dem beschimpften Kind jetzt geht?“ Sie zeigten auf der Karte, woher die arabischen Kinder kommen, und sprachen darüber, was es heißt, sein Zuhause verlassen und flüchten zu müssen, weil einem alles um die Ohren fliegt: „Kannst du dir vorstellen, dein Kinderzimmer, deine vertraute Umwelt zu verlassen und irgendwo hinzugehen, wo dich niemand versteht, wo die Leute Zeug essen, das du noch nie gesehen, gerochen und geschmeckt hast?“ Zwar gibt es fremdenfeindliche Äußerungen weiterhin, doch „das hat sehr nachgelassen“, sagt Jana und meint die Kinder, denn mit den Eltern hat ein Hort-Team nicht so viel zu tun wie ein Kita-Team. „Aber die hiesigen Eltern wurden genau so überrollt wie wir und machten sich Sorgen: Was wird denn jetzt mit unseren Kindern? Wer kümmert sich um sie? Ich verstehe, dass solche Unsicherheiten entstanden, denn in der Schule waren es gleich mal 30 Kinder, die nicht Deutsch sprechen. Klar, dass deshalb ist mehr Aufwand erforderlich ist. Doch inzwischen ist halbwegs Normalität eingezogen, und das trägt dazu bei, dass Abwehr schwindet. So nehme ich die Situation im Alltag jedenfalls wahr. Außerdem haben die hiesigen Eltern erlebt, dass wir uns mit den Problemen beschäftigen, wenn sie auftauchen, und uns um Lösungen bemühen. Auf Aushängen haben wir informiert, dass wir uns fortbilden, und all das vermittelte letztlich Sicherheit und Klarheit, die Plauener Eltern genau so brauchen wie Mütter und Väter aus fernen Ländern.“

Die Basis: Klarheit und Sicherheit

2013 bewarb Jana Knüpfer sich auf die Stelle der Hortleiterin. Nach einem herausfordernden Einstellungsgespräch bekam sie die Zusage und freute sich, denn sie hatte gemerkt, dass die Fachberaterin Carmen Berger-Keilhack Kindern Kompetenzen zutraut und so ähnlich tickt wie sie. Das erleichterte der neuen Hortleiterin den Einstieg ebenso wie die Feststellung: Das Hort-Team hatte sich schon auf den Weg der Offenen Arbeit begeben. Da war Jana sicher: Hier gehöre ich hin.

Gleich zu Beginn räumte sie das Argument „Wir haben keine Zeit“ aus dem Weg und sagte kategorisch: „Wenn jemand Zeit hat, dann ja wohl wir Erzieherinnen im Hort! Wir müssen nicht jammern. Bei uns ist viel möglich.“ Alle guckten sie erstaunt an. Sie fragte: „Wie gehen wir sinnvoller mit Zeit um? Wann und wo brauchen wir tatsächlich Leute? Aha, da und dort.“ Jana könnte verrückt werden, wenn Zeit verschwendet wird. Wasser in die Elster tragen, so nennt sie das, veränderte den Dienstplan und beraumte pro Woche drei Teamberatungen an, eine zu Organisation und Alltag, eine zu Fach- und Fortbildungsfragen und eine zum Thema „Beobachtung“. „Zehn verschiedene Blickwinkel auf ein Kind – das ermöglicht den Ausbruch aus der Schublade. Für jede von uns und vor allem für die Kinder.“ Hinzu kam, dass Jana Wert auf Wissen legt. „Ich möchte, dass Sie Fachbücher lesen und hinterfragen, was darin steht“, forderte sie. „Und wir brauchen Weiterbildung, um uns mit dem auseinanderzusetzen, was wir tun. Wir machen viel aus dem Bauch heraus. Trotzdem müssen wir uns über Grundpositionen einig sein, können sie dann aber besser begründen und vertreten.“

Dass diese Ansage wirkte, zeigte sich in den Auswertungsrunden am Jahresende, in denen das Team der Leiterin zurückmeldete: „Wir sind sicherer geworden, haben mehr Klarheit gewonnen, weil wir uns mit den Inhalten unserer Arbeit beschäftigten, mit dem Für und Wider der Aussagen von Fachleuten.“ Bald wurde der Austausch nicht mehr als zeitintensive Belastung, sondern als Stärkung und letztlich als erleichternd wahrgenommen. Das Gefühl von Gemeinschaftlichkeit wuchs: Ich bin nicht allein, wir tragen gemeinsam Verantwortung, machen uns schlau, und da macht sogar das Streiten Spaß.

Offene Arbeit verändert die Erwachsenen. Zwar gibt es Menschen, denen es schwer fällt, Freiräume zu nutzen, die feste Strukturen und klare Ansagen brauchen: So wird es gemacht und nicht anders. Geht etwas schief, ist man nicht schuld, sondern der Ansager. Oder die Ansagerin. Hauptsache, man muss sich nicht selbst hinterfragen. „Ich kann das verstehen“, sagt Jana, „denn so bin ich auch groß geworden: Krippe, Kindergarten und Schule in der DDR, von familiärer Prägung mal ganz abgesehen. Es ist nicht leicht, andere Blickwinkel zuzulassen und neue Wege zu beschreiten. In meiner Rolle als Leiterin suche ich immer wieder das Gespräch und frage, was die Kolleginnen brauchen, wie ich sie unterstützen kann. Aber wenn jemand dicht macht, nicht auf den Tisch legt, was Sache ist, und die entgegengestreckte Hand nicht nimmt, muss man sich trennen. Das ist für alle Beteiligten besser.“

Für Offene Arbeit gibt es keine Rezepte, weiß Jana. Es gibt nur Fragen: Was brauchen die Kinder? Was wollen wir? Was ist unsere Motivation? Wohin wollen wir? „Wir müssen unseren eigenen Weg finden“, sagt sie, „und geraten auch mal in Sackgassen. Also noch mal zurück, noch mal gucken, und danach wieder los.“

Der Schock: Gewalt

„Drei Jungen mit Kriegs-und Fluchterfahrung, elf bis zwölf Jahre alt, brachten ein Gewaltpotenzial in den Hort, das uns erschreckte. Miteinander und auch mit anderen Kindern gingen sie oft sehr aggressiv um, hielten sich an keine Regel, beleidigten ihre Kontrahenten und brachten die Erzieherinnen an ihre Grenzen“, erzählt Jana. „Die Mutter des jeweiligen Gegenspielers zu beleidigen – das ist das Schlimmste überhaupt und deshalb eine starke Provokation.“

Als Jana mit den Eltern der Jungen darüber sprach, empfahlen diese, mal ordentlich mit der Faust auf den Tisch oder den Hintern zu hauen. Jana erklärte, dass man das keinesfalls tun werde. Trotzdem musste etwas passieren. Das forderten auch die Kolleginnen und sprachen sich für ein Hortverbot aus, zumindest vorübergehend, weil die drei Jungen den ganzen Hort durcheinanderbrachten: Überall nahm Aggressivität zu, Kinder fühlten sich bedroht, und die Erzieherinnen waren am Ende ihres Lateins. Jana auch.

Trotzdem bat sie die drei Jungen und Rizan als Übersetzer in ihr Büro und versuchte nochmals, ihnen klarzumachen, warum Gewalt nicht geduldet wird und dass sie nun nicht mehr in den Hort kommen dürfen. „Da saßen sie vor mir wie ein Häufchen Unglück. Der eine brach sofort in Tränen aus. Der andere war wie erstarrt. Der dritte sagte, wenn er das zu Hause erzähle, bekomme er Schläge. Ich schaute Rizan an und dachte: Was machen wir jetzt? Ich kann das doch nicht zulassen… Was weiß ich denn, was bei den Kindern zu Hause wirklich passiert? Rizan flüsterte: ‚Und wenn wir ihnen doch noch eine Chance geben?‘“

Die Jungen bekamen mit, wie betroffen Rizan und Jana waren. Schließlich raffte Jana sich auf, und sagte zu ihnen: „Okay. Aber es muss euch klar sein, dass es so nicht weitergeht. Was können wir tun, wenn die Wut über euch kommt?“ Schweigen.

Jana: „Dann kommt ihr zu mir ins Büro, atmet durch oder schreit laut, was auch immer… Aber geht nicht auf die anderen Kinder los!“ Schweigen.

Jana: „Ich bin hier die Chefin! Ich muss dafür sorgen, dass es allen Kindern gut geht! Nächste Woche treffen wir uns hier wieder. Bis dahin frage ich eure Erzieherinnen, wie es mit euch war in dieser Woche. Geht jetzt.“ Da tappten sie aus dem Büro, die Jungen, und ließen die Flügel hängen.

Jana weiß: Auch solche Jungen haben wunde, ganz empfindliche Stellen. Genau diese Stellen suchen sie beieinander zu treffen, einander zu verletzten. Das hat wahrscheinlich mit ihren Familien zu tun, denn: Beim ersten Elternabend mit den arabischen Eltern sprangen zwei Väter plötzlich auf und schrien einander an. Obwohl Jana innerlich zitterte wie Espenlaub, stand sie auf und sagte: „Stopp! Gebrüll findet hier nicht statt! Wenn Sie Ärger miteinander haben, dann klären Sie das woanders. Nicht hier. Und jetzt setzen Sie sich wieder hin.“

Die Männer setzten sich. Aber es war klar: Manche Familien tragen miteinander heftige Fehden aus, deren Hintergründe uns – seien sie politisch oder religiös – verborgen bleiben, doch nicht den Kindern. Sie werden einbezogen. Zwar wird auch in deutschen Familien so manches über die Kinder ausgetragen – man denke nur an Ehescheidungen –, aber in anderen Formen, mit anderen Methoden und weniger öffentlich. Familienzusammenhänge widerspiegeln sich ebenfalls anders als bei hiesigen Familien. Bekam ein jüngeres Geschwisterkind der Raufbolde Ärger mit anderen Kindern, wurden diese Kinder auf dem Nachhauseweg aufgemischt. Jana knöpfte sich die Übeltäter vor, gab wieder die Ober-Chefin und sagte, so herrisch wie möglich: „Das Problem klären wir hier! Nicht auf dem Nachhauseweg!“ Das wiederholte sie, drei Mal und mit zunehmender Deutlichkeit.

Zurück zum aufgehobenen Hortverbot. Das musste Jana nun dem Team erklären, und „es hätte nach hinten losgehen können“, denn die Kolleginnen fühlten sich von der Leiterin verlassen und opponierten. Jana konnte das nachvollziehen. Sie bat die Kolleginnen, sich in ihre Lage zu versetzen, schilderte das Gespräch mit den Jungen und fragte: „Wer von euch hätte den Kindern in diesem Moment gesagt: Hortverbot. Steht auf und sagt mir: Ich hätte das durchgezogen.“ Stille.

„Es war, als ob wir diese Erfahrung gebraucht hätten. Plötzlich fanden wir Lösungsansätze, für uns und für den Umgang mit der Wut der Kinder“, sagt Jana. „Wir sprechen oft über diese Zeit und darüber, wie wir uns veränderten.“

Das Umfeld: Plauen

Plauen ist die größte Stadt des sächsischen Vogtlands, liegt dicht an der Grenze zu Bayern, hat 65.600 Einwohner und wurde durch die Plauener Spitze bekannt. Ihrer Textilindustrie wegen war die Stadt nicht arm. Inzwischen sind die großen Betriebe geschlossen, viele Leute zogen woanders hin. Seit einiger Zeit ändert sich das, spürbar auch an der Nachfrage nach Kita- und Hortplätzen. Auf der grünen Wiese vor der Stadt etablierte sich mittelständisches Gewerbe, Arbeitsplätze entstanden, und wer einen Job in Bayern fand, schätzt Plauen als Wohn- und Lebensort nach wie vor. Der Anteil ausländischer Menschen betrug damals gerade 1 Prozent. Auch das änderte sich in der letzten Zeit.

„Für mich hat Plauen alles, was ich brauche. Die Stadt ist überschaubar, trotzdem kennt nicht jeder jeden“, sagt Jana, „und sie hat Kultur zu bieten: interessante Inszenierungen im Theater, Konzerte und Treffs wie das ‚Malzhaus ‘.“ Dafür sorgen, wie überall, Leute mit Lebenslust, die gern selbst was machen und Verantwortung übernehmen. Übrigens fand die erste Montags-Demo 1989 hier statt, sagen die Plauener, und nicht in Leipzig.

Obwohl sie aus Mittweida stammt, fühlt Jana sich in Plauen heimisch: „Ich wohne über den Dächern der Stadt, und wenn ich aus dem Fenster schaue, denke ich: Ist das schön hier!“

Erfahrungen, die verändern

Wie es mit den drei Jungen weiterging? Jana und Rizan sprachen mit den Vätern, berichteten über die grenzwertige Situation im Hort und die Überlegung, die Hortzeit der Jungen zu verkürzen. Diesem Angebot lag das zur Erfahrung gewordene Erleben zugrunde, dass die Kinder überfordert sind, wenn sie nach dem Unterricht in den Hort kommen, ohne Übergang und Eingewöhnung hier wie da. Den ganzen Tag verbringen sie in Kontexten, die sie überhaupt nicht kennen: Vormittags Disziplin, nachmittags weitgehende Freiheit, Mitbestimmung und Teilhabe. Logisch, dass das nicht gut gehen kann. Deshalb beschloss das Hortteam, die Aufenthaltszeit Schritt für Schritt von einer Stunde auf drei Stunden auszudehnen, und erarbeitete ein Eingewöhnungskonzept.

„Uns geht es um das Wohlbefinden jedes Kindes“, sagt Jana. „Wir gucken hin, was die Kinder brauchen, und versuchen, Schablonen zu vermeiden: Das muss jetzt so und so sein. Kinder mit Kriegs-und Fluchterfahrung brauchen etwas anderes als Kinder, die hier ihre Heimat haben, hier sozialisiert wurden. Sowieso braucht jedes einzelne Kind etwas anderes, vor dem Hintergrund seiner Familie und seiner Biografie. Das zeigen sie uns ja.“

Anfangs waren Jana und ihr Team der Meinung: Die ausländischen Kinder integrieren und sofort mit allen in Kontakt bringen. Jetzt wissen sie: Diese Kinder brauchen einen eigenen Raum im Hort, in dem sie erst mal ankommen können und Zeit haben, sich zu sammeln, unterstützt von ihren Erzieherinnen. Von da aus können sie den Hort erobern, seine klaren Regeln und großen Freiheiten. Sie sind gewohnt: Der Erwachsene bestimmt und setzt den Rahmen. Auch das sind klare Verhältnisse, die Sicherheit geben. Darauf nehmen Jana und ihr Team jetzt Rücksicht und erleben: Nach und nach können sie loslassen.

„Anfangs schränken wir die Zeit ein, um die Kinder nicht zu überfordern. Sie sind nicht gleich bis 16 Uhr bei uns, sondern erst bis 13 Uhr und dann zunehmend länger – je nachdem, wie die Familien es einrichten können“, erklärt Jana. „Demnächst werden wir auch mit ihren Eltern Entwicklungsgespräche führen. Wir nennen das Ankommensgespräche, in denen wir den Eltern erzählen, wie wir ihre Kinder erleben, und kurze Videos zeigen, damit die Mütter und Väter sehen, womit und mit wem ihre Kinder hier spielen, dass sie angekommen sind und sich zunehmend sicher fühlen. Damit wollen wir den Eltern etwas von der Sorge nehmen, die sie sich um ihre Kinder machen, und Verständnis für unsere Arbeit ermöglichen. Wir freuen uns, wenn sie von sich erzählen, von dem, was ihnen wichtig ist, denn: Auch diese Eltern wollen nur das Beste für ihre Kinder.“

Gelernt haben Jana und ihr Team, dass anfangs klare Ansagen nötig sind. Mitbestimmung überfordert junge Menschen, die sich erst mal orientieren müssen. Dabei können Erzieherinnen ihnen zwar helfen, sie fragen, wie es ihnen geht und was sie brauchen, aber ihre Erfahrungen müssen die Kinder selbst machen. Reagiert ein Kind über, muss es sich – am besten begleitet von einem Erwachsenen – in einen engeren Rahmen zurückziehen, um zur Ruhe kommen zu können. Nehmen Diskussionen kein Ende, müssen die Erzieherinnen ein Stoppzeichen setzen, bevor sie mit den Kindern üben, wie man seine Meinung vertreten kann, ohne – über die Stränge – zu schlagen.

„Als Ibrahim nach einer heftigen Auseinandersetzung mal bei mir saß, ging mein Tacker kaputt“, erzählt Jana. „Ibrahim sah das und fragte: ‚Kaputt?‘ Da legte ich ihm meine Hand auf die Brust und sagte: „Ist in dir auch etwas kaputt?‘ Der Junge begann, bitterlich zu weinen. Ich fragte, ob ich ihn in den Arm nehmen darf. Das wollte er nicht, lehnte sich aber ganz sacht an mich. Von da an war ich eine Art Ruhepol für ihn.“

Solche schwierigen Situationen passieren nicht täglich. Aber wenn, dann müssen die Erzieherinnen sofort entscheiden, was sie tun – manchmal aus dem Bauch heraus. Dass sie einander unterstützen, darauf können sie sich verlassen. Es hilft ihnen, dass sie der Herkunft der Kinder aus fernen Regionen nicht mehr so viel Bedeutung wie anfangs beimessen, dass es ihnen nicht mehr in erster Linie um Integration geht, sondern um das Ankommen.

„Warum sollen wir in unserem Hort einen Auftrag übernehmen, der gesamtgesellschaftlich auch nur schwer zu erfüllen ist?“ fragt Jana. „Wie soll es uns, die wir mit den geflüchteten Kindern täglich nur drei Stunden zusammen sind, gelingen, sie zu integrieren? Erst einmal ankommen dürfen – das ist wichtig! Wir können dafür sorgen, dass die Kinder hier Normalität erleben, sich im Hort-Alltag sicher fühlen. Dazu gehören auch klare Grenzen. Aber vor allem gehört dazu, dass wir sie ernst nehmen. Klar, Mitgefühl ist auch wichtig, in Maßen, damit wir uns nicht selbst überfordern. Ob wir das im nächsten Jahr ebenso sehen – wer weiß? Die Welt verändert sich. Und wir verändern uns auch. Manchmal halten wir inne und erinnern uns: Wisst ihr noch, wie die Kinder waren, als sie vor zwei Jahren bei uns ankamen? Wir erleben, dass wir nicht ohnmächtig sind, sondern selbst in der Hand haben, was wir tun. Dadurch machen wir die große, weite Welt im Kleinen etwas heiler.“

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Nachsatz von Jana Knüpfer: „Ich möchte mich bei meinen Kolleginnen bedanken, für ihre Lebendigkeit, ihr Offensein, ihr empathisches Erspüren, wenn es um die Bedürfnisse der Kinder geht, für das gemeinsame Tun, das Streiten und für den Humor, der alles leichter macht. Was für ein Glück, mit diesen Frauen zusammen arbeiten zu dürfen!“

Fotos: Jana Knüpfer

 

Erika Berthold ist freie Journalistin und Redakteurin bei wamiki.

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