Unser Land ist „deutsch“, und wir erkennen einander im Ausland nicht nur an unseren Funktionsjacken und konzentrierten Mienen, sondern vor allem an der Sprache, selbst wenn ein sächsisches oder hessisches Idiom mitmischt. Aber meint das Wort „deutsch“ nur die Sprache oder mehr? Ist man erst richtig deutsch, wenn man auch deutsch spricht?
Fragen, denen dieser Text mit urdeutscher Gründlichkeit nachgeht.
Hier gibt es den Artikel als PDF: Worklauber_#4_2024
Seit wann gibt’s „deutsch“?
Gegen Ende des erstens Jahrtausends nach Christus datieren immer mehr Schriftstücke, die das lateinische Vorgängerwort für „deutsch“ verwenden: „theodiscus“. Es bezeichnet aber nicht ausschließlich unsere Sprache, sondern die große Vielfalt an Sprachen, die auf dem Gebiet des späteren Deutschlands gesprochen wurden – Sprachen germanischen, slawischen oder auch romanischen Ursprungs. Allen gemeinsam war, dass es im Unterschied zum „offiziellen“ Latein Volkssprachen waren, in denen man zwar keine offiziellen Dinge regeln, aber Klartext reden konnte. Daran erinnert die Redewendung „auf gut Deutsch gesagt“.
Wie wurde daraus ein „Deutsch“?
Es war ein langsamer, noch immer nicht abgeschlossener Prozess, in dem unser Deutsch zur Hochsprache wurde. Als man im frühen Mittelalter mit „deutsch“ eigentlich nur noch den Vorläufer unserer Sprache meinte, gab es unzählige Dialekte. Damals verstanden die Deutschen nur ihren jeweiligen Dialekt gut und den ihrer Nachbarregion einigermaßen, nicht aber entfernte Mit-Deutsche. Traf der Friese den Sachsen oder Tiroler, hätte er eine Übersetzungs-App benötigt. Bei reinen Dialektsprechern ist das auch heute noch so. Erst zur Lutherzeit entwickelte sich eine gemeinsame Sprache, das Hochdeutsche, das das Latein als Hochsprache ablöste.
Gibt’s seitdem Deutschland, bewohnt von Deutschen?
Nein. In Folge des Dreißigjährigen Krieges gab es jahrhundertelang keinen deutschen Zentralstaat, sondern viele deutsche Länder. Zwar wurden mit dem Wort „deutsch“ zunehmend Menschen bezeichnet, die in den deutschen Ländern lebten, aber ohne Nationalstaat bliebt das schwammig: Zum Beispiel werden die Niederländer, die eigentlich niederdeutsch sprechen, auf Englisch bis heute „dutch“ genannt, was von „deutsch“ abgeleitet ist. Österreicher fühlten sich, bis das Deutsche Reich 1871 ohne sie gegründet wurde, als Deutsche, und die Nazis von der FPÖ formulieren selbst 2024 noch: „Die überwiegende Mehrheit der Österreicher ist Teil der deutschen Volks-, Sprach- und Kulturgemeinschaft.“
Waren Deutsche schon immer typisch deutsch?
Ja und nein. Bei Tacitus um das Jahr 100 waren die Germanen noch – typisch Sicht eines Südländers – arbeitsscheu, ständig betrunken und so heißblütig, dass es schnell zu gewalttätigen Konflikten kam. So richtig Fahrt nimmt die Geschichte mit den Nationalstereotypen aber erst um die Zeit der Aufklärung herum auf, als der Mensch im Versuch, Ordnung in das Wirrwarr der Welt ohne Gott zu bringen, sich für teils unsinnige Theorien begeisterte. Plötzlich bekam jedes Volk einen „Nationalcharakter“ zugeschrieben, der meist nur die erwachsene männliche Bevölkerung im Blick hatte, und nun sind Deutsche als die „Teutschen (…) verständig und arbeitsam, werden aber insgemein der trunckenheit beschuldigt“.
Diese Klischees halten sich, auch wenn die dahinterstehende Theorie der Charakterkunde längst vergessen ist, bis heute: Als arbeitsam und pünktlich gelten Deutsche immer noch, obwohl sie deutlich kürzere Arbeitszeiten als die Leute in der Türkei und die meisten Verspätungen bei der Bahn haben. Passt zum Konsum von deutschen Spezialitäten wie Ahle-Wurst und Rübensaft, die genauso untypisch für moderne Küchen in Deutschland sind wie Kuckucksuhren an der Wand.
Ist es wenigstens typisch deutsch, deutsch zu sprechen?
Wie man’s nimmt. Ungefähr 120 Millionen Menschen sprechen weltweit deutsch, davon allerdings nur etwas mehr als 80 Millionen als Deutsche. Allerdings wurden in deutschsprachigen Ländern früher auch andere Muttersprachen gesprochen: Im Mittelalter wurde die gesamte slawische Urbevölkerung auf der Ostseite der Elbe erst allmählich assimiliert, etwa in Orten wie Birlin (altpolabisch für Ort im Sumpf, heute Berlin) oder Drežďany (altsorbisch für Sumpfbewohner, heute Dresden).
1871 lebten im größten deutschen Land Preußen rund 2,5 Millionen Polen – 10 Prozent Bevölkerungsanteil –, dazu noch 135.000 Dänen. Nach 1871 lebten ebenso viele französischsprachige Menschen in Elsass-Lothringen. Im deutschsprachig geführten Österreich-Ungarn sprachen gar über 75 Prozent der Bevölkerung eine andere Sprache als Deutsch. Quintessenz: Gerade in der Hochzeit der Nationalstaaten waren Deutschland und Österreich regelrechte Multikulti-Staaten. Leider auch mit Hetze auf nicht-deutschsprachige Bevölkerungsgruppen, denen genau wie heute Gewaltdelikte, erhöhte Kriminalität und Schulversagen unterstellt wurden.
Ist es irgendwann aus mit deutsch?
Gegen die These, geeignet zum Erzeugen von Angst oder auch Hoffnung, spricht das stetige Anwachsen der Einwohnerschaft deutschsprachiger Länder, nicht zuletzt durch fleißiges Deutschlernen neu Eingebürgerter.
Auch die deutsche Sprache ist keineswegs durch Anglizismen oder gar die ominöse Gender-Sprache bedroht, wovor etwa der Verein Deutsche Sprache warnt. Denn Lehnwörter aus dem Ausland waren schon immer Mode (französisch) und machen etwa 25 Prozent (lateinisch) der deutschen Sprache aus, wie mir der Algorithmus (arabisch) der Such-Maschine (französisch-lateinisch-griechisch) auswirft. Und wer befürchtet, eine echte Sprache mit zirka 500.000 Wörtern könne durch eine erfundene Gender-Sprache ersetzt werden, die eigentlich nur aus den Endsilben „:innen“ und „enden“ besteht, muss aus lauter Angst vor Gender gaga (englisch-französisch) geworden sein.