Was merkwürdige Kult-Wörter über Kultur erzählen

„Kultur bezeichnet im weitesten Sinne alle Erscheinungsformen menschlichen Daseins, die auf bestimmten Wertvorstellungen und erlernten Verhaltensweisen beruhen…“, umreißt Wikipedia den Begriff Kultur. „Alle Erscheinungsformen“ – das klingt verdammt schwammig. Deshalb versucht der Wortklauber, Kultur anhand 13 merkwürdiger Wörter mit Kultur-Bezug zu erklären. Weiter lesen…

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Ich muss jetzt mal ´ne Grenze ziehen

Die Grenze ist ein merkwürdiges Wort. Es wird sowohl in der eigentlichen als auch in der übertragenen Bedeutung rege genutzt. Eigentlich bezeichnet Grenze eine sehr konkrete Sache, die dennoch oft unsichtbar ist und ohne Menschen, die an ihre Existenz glauben, verschwinden würde. Schauen wir uns einmal an, woher das Wort Grenze stammt und wie es…

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Wege zur Harmonie

Hier gibt es den Artikel als PDF: Wortklauber_#2_2023

Immer noch Krieg, dauernd hass­erfüllte Auseinandersetzungen statt Einigkeit im Klimaschutz, verbaute Landschaften und hässliche Städte, schlechte Stimmung im Team: Es gibt viele Gründe, sich mehr Harmonie auf der Welt zu wünschen.

Harmonie bedeutet Einklang, Eben­maß, Gleichklang der Gefühle und stammt von dem griechischen Wort „zusammenpassen“ ab. Welche Wege schlug die Menschheit vor, um zu mehr Harmonie zu gelangen? Und was wird heute empfohlen?

Die Sache mit dem Apfel klären

Religionen wie Judentum, Christentum und Islam teilen den Glauben an die Erlösung, die uns zu einem verlorenen Urzustand der Harmonie zurückführt. Demnach verspielten wir die Harmonie, als das erste Pärchen vom Baum der Erkenntnis naschte. Doch durch bestes menschliches Streben könnten wir die Harmonie vielleicht wieder zurückgewinnen.

Bis heute prägt dieser Erlösungsgedanke viele Vorstellungen von „besseren Gesellschaften“. In großen Utopien wie dem Sozialismus und in individuellen Projekten wie dem Zusammenleben in Landkommunen steckt die Idee von einer besseren, harmonischen, konfliktfreien Welt.

Den universellen Zahlen­code finden

„Schläft ein Lied in allen Dingen…“ Was Eichendorff einst dichtete, erinnert an das Harmonie-Verständnis der alten Griechen. Sie gingen davon aus, dass sich eine vollendete Harmonie hinter allen Erscheinungen der Welt verbirgt, die man nur finden muss. Hinter Symmetrie oder besonders angenehmen Klängen und Maßverhältnissen vermuteten sie mathematische Zusammenhänge, die quasi universelle Harmonie herstellen. Auch die Gestirne bewegen sich nach der Theorie klassischer Denker auf mathematisch perfekten Bahnen, wobei sie die leider unhörbare Sphärenmusik erzeugen.

Einklang mit der Natur finden

Lebt die Natur mit sich im Einklang? Die Vorstellung, man müsse nur zu den Gesetzmäßigkeiten der Natur zurückfinden, prägt uns schon seit Urzeiten. Auch die Vertreibung aus dem Paradies kann man so verstehen: Apfel gegessen, schlauer als die Tiere sein, aber den Garten Eden dadurch verloren haben.

Auch der Garten im Wort Kindergarten passt zu dem Bild von wahrer Harmonie in der Natur. Für Friedrich Fröbel war das Ziel der Erziehung, den Einklang der Gegensätze von Natur (dem Inneren) und Geist (dem Äußeren) herzustellen, also die Harmonie des Menschen mit der Welt, der Natur, den anderen Menschen und Gott.

Das optimale Gesellschaftssystem entwickeln

„Der Edle strebt nach Harmonie, nicht nach Gleichheit.“ Für den chinesischen Philosophen Kong Fuzi, bei uns Konfuzius genannt, war Harmonie ein herausgehobener Wert. Das greift die chinesische KP gerne auf, um ihre Vorstellung eines optimalen Gesellschaftssystems zu propagieren. Harmonie entsteht, wenn solch ein System alle Bedürfnisse der Menschen optimal in Einklang bringt – auf der Grundlage einer stabilen politischen Ordnung. Mit anderen Worten: Harmonie und echte Demokratie schließen sich irgendwie aus, denn letztere lebt ja vom Streit.

Alle Entwicklungs­bedürfnisse erkennen

Von Harmonie durch ein perfektes Gesellschaftssystem träumten viele Menschen, auch Maria Montessori: „Der wahre Friede bedeutet Sieg der Gerechtigkeit und der Liebe unter den Menschen, bedeutet eine bessere Welt, in der Harmonie herrscht“, postulierte sie. Ihr Weg zur Harmonie: die Entwicklungsbedürfnisse von Kindern erfüllen.

Im Inneren suchen

Findet man echte Harmonie nur in sich selbst? Je weniger die Menschen an bessere Gesellschaftssysteme glauben, desto mehr scheinen sie die Sache mit der Harmonie bei sich selbst zu verorten. Unter dem Kofferwort „Achtsamkeit“ werden unterschiedlichste Wege empfohlen, um Harmonie zu finden – beim Yoga, mit Atemtechniken oder beim Ausmalen von Mandalas. Inzwischen sehen auch die Kultusminister darin Potenzial: In Bildungsempfehlungen werden Achtsamkeitskurse gegen Lehrermangel angepriesen. Ist ja auch kostengünstig.

Ins Innere aufnehmen

Preiswerter ist nur die orale Einnahme von Harmonie: „Innere Harmonie“, weiß die Firma „Yogi Tea“, „ist ein hohes Gut und dieser Tee dein Wegweiser dorthin. Der Weg beginnt mit einem Moment des Innehaltens, in dem Zitronenmelisse, Lavendelblüten und Zimt dich begleiten und dir eine gute Portion Gelassenheit mitgeben. Hast du zur Harmonie gefunden, kannst du sie teilen.“

Noch besser bringt nur ein Anbieter die Sache auf den Punkt: Wenn bei Kleinkindern das Innere nach außen dringt, bleibt es wohlverwahrt – in der Windel der Pampers-Serie „Harmonie“.

Auf Postern propagieren

Wie sieht es in unserem Bereich aus? Regelposter verraten, was Grundschule und Kindergarten unter Harmonie verstehen. Dort liest man: „Wir streiten achtsam“, „Freundliche Worte finden“, „Wir halten immer zusammen“ und „Ich freue mich, wenn es meinen Freunden gut ergeht“. Oder auch: „Unsere Trinkbecher sind nur zum Trinken da.“ Endlose Diskussionen im Chat oder TV über „Systemsprenger“, „Regelbrecher“ und die „Kleinen Paschas“ von Merz zeigen: Wir gehen immer noch davon aus, dass es Harmonie geben könnte, wenn sich endlich alle an die Regeln halten würden. Auch die, denen das immer so schwerfällt.

 

Abbildung: harmoniumnotes.blogspot.com

Wohlvertrautes Misstrauen

An der Supermarktkasse sagt eine ältere Dame zu einer Mit-Seniorin: „Man kann heute niemandem mehr trauen.“ Weil sie diese Ansicht einer ihr völlig unbekannten Person anvertraut, erleben wir Umstehenden ein zeitgemäßes Paradox zum Thema „Vertrauen“: Überall sehen Leute das Vertrauen in andere Menschen schwinden. Aber am liebsten erzählen sie das möglichst unvertrauten Mitmenschen wie der Frau am Kassenband oder der Telegram-Gruppe.

Wir haben eine Vertrauenskrise, liest man immer wieder. Bürger*innen vertrauen laut mancher Umfragen weniger auf staatliche und gesellschaftliche Institutionen. Sie misstrauen der Politik, Lösungen für ihre Probleme anzugehen. Medien, die ja eigentlich da für da sind, dem Misstrauen an Politik nachzugehen, leiden unter Vertrauensverlust: „Die schreiben doch nur, was sie sollen…“

Zurückzugehen scheint auch das Vertrauen in Lehrer*innen und Erzieher*innen. Werden wir zu einer ängstlichen Gesellschaft, in der jeder jedem misstraut?

Was ist Vertrauen? Egal, ob Gottvertrauen oder Vertrauen in die Mitmenschen: Eigentlich geht es um ein Gefühl, das hinter dem Satz „Alles wird gut!“ steckt. Der Soziologe Niklas Luhmann beschrieb es als „Mechanismus zu Reduktion sozialer Komplexität“: Weil man sich schlecht vor allen Eventualitäten fürchten kann, vertraut man, denn: „Ohne jegliches Vertrauen aber könnte [der Mensch] morgens sein Bett nicht verlassen.“ Vertrauen ist also die Basis, um zu handeln, statt zu grübeln, sich zu fürchten oder gegen alles zu opponieren.

Für den Verlust von Vertrauen sind vor allem Erfahrungen von Gewalt und Ohnmacht verantwortlich. Wer plötzlich schlimme Dinge erlebt, erfährt, dass sein bisheriges Vertrauen in „Alles wird gut!“ unberechtigt war. Wer sein Vertrauen verloren hat, misstraut nun auch dem, dem er bislang „blind“ vertraute. Bei der Corona-Pandemie konnte man den Effekt oft erleben: Menschen mit Brüchen und Verletzungen im Lebenslauf schienen wesentlich anfälliger dafür zu sein, plötzlich Hardcore-Querdenker zu werden. Auch hier weiß die Soziologie: Erst in Ausnahmesituationen erfährt man, wie viel Vertrauen ein Mensch jeweils empfinden kann.

„Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser!“ Dieser Satz, der dem Thema „Misstrauen in historische Zitate“ entsprechend wohl zu Unrecht Lenin zugeschrieben wird, passt gut zu unserem heutigen Verständnis von Vertrauen auf individueller Ebene. Vergleicht man Lebensführung und Kindererziehung heute und früher, fällt auf, dass ein Kontrollbedürfnis an die Stelle von grundsätzlichem Vertrauen getreten ist. Vertraute man früher auf persönliche Empfehlungen und Gefühle („Jacobs Kaffee vertraue ich einfach!“), checkt man heute in Vergleichsportalen oder Google-Bewertungen, welcher Kaffee oder welches Café am besten ist. Gab es früher im Auto-Cockpit Tacho und Benzinuhr, blinkt heute wie im Flugzeug eine Vielzahl von Check-Lichtern auf. Auch über sich selbst kann man heute täglich Daten ermitteln – Blutdruck, Herzfrequenz etc., die früher nur beim jährlichen Arztbesuch erhoben wurden.

Vor allem in Bezug auf Kinder zeigt sich das geänderte Verhältnis zum Vertrauen. „Ich vertraue darauf, dass ihr zum Abendessen wieder zu Hause seid und euch nicht irgendwo rumtreibt“ ist wohl ein Satz von gestern. Kinder von heute erleben mehr Kontrolle, Begleitung und bewusste Auswahl als Vertrauen, wenn Handy oder gar Smartwatch den Eltern ständige Kontaktaufnahme ermöglichen und jede Bildungseinrichtung erst nach gründlicher Kontrolle ausgewählt wird: „Wir haben uns jetzt für die Klasse von Frau Naumann auf der 2. Grundschule entschieden…“ Der Luzerner Philosoph Martin Hartmann sagt dazu: „Es ist, als würden wir uns einreden, dass wir niemandem mehr vertrauen können, damit wir niemandem mehr vertrauen müssen.“

Der Wert des Vertrauens sinkt – und damit steigt die Bedeutung der Transparenz oder wahlweise der Kontrollierbarkeit. Pädagogische Einrichtungen antworten darauf, dokumentieren alles und machen es evaluierbar. An die Stelle des Vertrauensvorschusses tritt quasi der Rechenschaftsbericht. Das verhindert böse Überraschungen, aber vielleicht auch positive. Teams von Einrichtungen, die besonders aufmerksame Eltern haben, kennen das: Es gibt wenig Spielraum, um ungewohnte Raumkonzepte, Ausflüge oder Projektthemen auszuprobieren. Hier geht es den Kindergärten wie den Kindern, die statt der Abenteuer beim unkontrollierbaren Herumtreiben am Nachmittag nun den wohldokumentierten Gitarrenkurs erleben. Vertrauen lässt Raum, Kon­trolle engt ein – das war schon bei Lenin das Problem.

Was ist die Quintessenz? Vertraut dem Vertrauen! Und wenn jemand klagt: „Man kann heute niemandem mehr vertrauen“, dann sagt: „Versuch es, du schaffst es.“

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Eine Grammatik des Auffallens

„Auffällig“ heißt das Thema dieses Heftes. Das Wort hat es in sich, obwohl es doch – Achtung: Wortspiel – so unauffällig daherkommt. Denn „auffällig“ kann mit ganz unterschiedlichen positiven wie negativen Wertungen versehen sein, die sich gut unter der Unauffälligkeit des Wörtchens verstecken lassen.

Begeben wir uns auf eine Reise durch verschiedene Deklinationen des Wortes und ganz unterschiedliche Verwendungsweisen.

Ich falle auf.

Wer diese drei Wörter selbstbewusst ausspricht, merkt: Mit dem Auffallen hat es eine besondere Bewandtnis. Obwohl das Verb im Aktiv steht, ist Auffallen keine aktive Tätigkeit. Ich kann zwar durch besonderes Benehmen oder Bekleidung versuchen, die Aufmerksamkeit anderer Leute auf mich zu ziehen. Aber ob ich auffalle oder nicht, entscheiden letztendlich die anderen. Das wissen besonders die Menschen, die aufgrund von Behinderung, Hautfarbe, Körpergröße, Gewicht oder anderer Dispositionen auffallen, ohne dass sie das möchten. Sie werden ständig betrachtet, während das „Mauerblümchen“ übersehen wird.

Interessant: „Ich falle mir auf“ funktioniert sprachlich, aber nicht inhaltlich.

Du fällst mir auf.

Viele persönliche Beziehungen beginnen mit einem besonderen „Auffallen“. Person A nimmt unter vielen anderen Menschen Person B als etwas Besonderes wahr. Person B fühlt sich entweder geehrt, weil sie Person A aufgefallen ist, oder ihr ist A selbst „aufgefallen“. Ideale Grundlage für einen Flirt? Dazu sagen WissenschaftlerInnen: Offenbar finden Menschen andere Personen besonders dann positiv „auffallend“, wenn sie erstens gängigen Schönheitsklischees entsprechen und zweitens im positiven Sinne durchschnittlich wirken. „Du bist mir gleich aufgefallen“ könnte also heißen: „Du erinnerst mich an einen Mix aus diversen Schönheitsklischees.“

Er fällt auf.

In vielen Märchen, Mythen und Geschichten gibt es einen „besonderen“ Mann oder Jungen. Joseph aus der Bibel sieht mit besonders buntem Rock besser aus als seine Brüder. Mozart ist schon als Kind ein Wunderknabe, Leonardo wird es als Erwachsener. Viele dieser Helden fallen erst auf und dann auf die Fresse: Mozart verarmt, Siegfried wird ausgetrickst, Van Gogh wird verrückt… Zwar scheint die Zeit der Heldenverehrung heute passé. Doch immer noch führen uns Filme und Bücher den „auffallenden“ männlichen Einzelkämpfer vor, der die Dinge auf seine Art regelt – von Wickie im Trickfilm bis zum eigenbrötlerischen Kommissar im Sonntagskrimi.

Sie fällt auf.

Als auffallende Männer noch das Nonplusultra waren, waren auffallende Frauen verdächtig. In den Kinderbüchern der Fünfzigerjahre waren das beispielsweise die „Wildfänge“: Mädchen, die durch burschikoses Verhalten, lautes Lachen und allzu kräftige Stimmen auffielen, bevor sie dann von einem toleranten Jung-Förster gezähmt wurden. Auch heute noch gelten Frauen als auffallend, wenn sie sich in Männerdomänen behaupten wollen. Dann zeigen sie „ungewöhnliche Härte“, „eisernen Willen“ oder „beißen“ gar männliche Rivalen weg, die sich ihnen eigentlich überlegen fühlten.

Es fällt auf…

…dass es immer bestimmte Personen sind, die…

Egal, ob es um Kevins Verhalten im Matheunterricht oder statistisch ermittelte Durchschnittsverhaltensweisen irgendwelcher Bevölkerungsgruppen geht: Die Formulierung „Es fällt auf…“ bietet sich immer an, wenn man Vorurteile und Vorverurteilungen loswerden möchte, ohne allzu konkret zu werden. Zum Beispiel fällt auf, dass viele Maskenverweigerer in der Bahn männlich sind, eine bestimmte Herkunft haben, bis zum Plattenbauviertel fahren… Das Praktische an diesem „Es fällt auf…“ ist: Achtet man mal darauf, ob etwa „alle Kevins verhaltensauffällig sind“, wird jeder Treffer dieses Bild bestätigen.

Ist dir schon aufgefallen, dass unter den Maskenverweigerern wirklich jede Bevölkerungsschicht vertreten ist? Eben.

Wir fallen auf!

Auffallen kann sehr schön sein, wenn man es gemeinsam tut. Fällt der Kirchen­chor aus Bad Sumpfingen durch lautes Gackern in der Berliner S-Bahn auf, steigert das die Stimmung der Beteiligten. Gemeinsames Auffallen hat nämlich nichts mit dem Leid einsamen Auffallens zu tun, sondern verleiht das Gefühl: Jetzt setzen wir die Norm, indem wir gegen die von der Mehrheit gesetzte Norm verstoßen! Viele eher randständige soziale Gruppen genießen es, ihr individuelles Außenseitersein durch gemeinsames Auffallen zu kompensieren.

Ihr fallt auf!

Häufig hören Kinder in Gruppen und erst recht Jugendliche diese streng gemeinte Feststellung – gerne garniert mit dem Adjektiv „unangenehm“. Wer die Formulierung verwendet, macht klar, dass er auf der Seite derjenigen steht, die über richtiges – „unauffälliges“ – und falsches Verhalten entscheiden. Dazu steht im Widerspruch, dass wohl jede pädagogische Einrichtung heute behauptet, „jedes einzelne Kind im Blick zu haben“. Damit das auch wirklich klappt, ist Auffallen aber geradezu nötig. Andererseits suggeriert der Tadel „Ihr wolltet immer auffallen“, dass es nichts Besseres gibt, als von Päda­gogInnen übersehen zu werden.

Sie fallen auf.

So geht „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“: Man ordnet Menschen einer Gruppe zu, um ihnen danach eine gemeinsame Differenz zum angeblich „Normalen“ zu unterstellen. Ein Trick, der fast in jeder Diktatur funktioniert, weil er Gruppen besser stabilisiert als jedes Teambildungs-Seminar. Norbert Elias1 kennt das Rezept: Man bildet aufgrund irgendwelcher simpler Merkmale (Hautfarbe, Religion, Sprache, Körpermerkmale) eine Außenseiter-Gruppe, der man die als negativ wahrgenommenen Eigenschaften innerhalb der eigenen Gruppe unterstellt („gemein zu Frauen“, „geizig“, „fauler als andere Menschen“). Das entlastet die eigene Gruppe („Ich bin nicht so frauenfeindlich wie die…“) und vereinfacht die Rollenfindung auf beiden Seiten. Innerhalb kleinerer Gruppen übernehmen die anfangs irritierten „Außenseiter“ nun teilweise die vorgegebenen Rollen­eigenschaften, um nicht noch mehr „aufzufallen“.

1 Der deutsch-britische Soziologe Norbert Elias (1897-1990) gilt als einer der Begründer der modernen Soziologie.

Foto: Jonathan Schöps/photocase.de

Die Geschichte des ›-in ‹

Seit wann diskutieren Menschen über weibliche Bezeichnungen und verwenden sie? Der Blick in die Sprachforschung zeigt: Schon lange ist es üblich, weibliche von männlichen Bezeichnungen zu trennen. Im Lateinischen allein deshalb, weil es durch die unterschiedlichen Endungen männlicher und weiblicher Nomen leicht möglich ist: Da gab es zum Beispiel neben dem Sklaven (servus) die Sklavin (serva). Endete die männliche Form ausnahmsweise mal auf a, etwa beim Dichter (poeta), hieß die Dichterin eben poetria – Ordnung muss sein.

Wie hielten es die Germanen? Im Gotischen, einem uralten Verwandten der späteren deutschen Sprache, kannte man neun verschiedene Möglichkeiten, weibliche von männlichen Bezeichnungen zu trennen. Das -in war bereits dabei, aber es war die einzige Form, die an etwas angehängt werden musste. Sonst wurden je nach Geschlecht Endungen ausgetauscht.

Das Althochdeutsche kannte noch drei Varianten für weibliche Bezeichnungen: Neben -in, etwa bei kunigin für Königin, gab es zum Beispiel das -a. So hieß die Gastgeberin gastgeba, um sie vom männlichen Gastgeber zu trennen.

Nanu, gab es im „finsteren“ Mittelalter neben Hexen- und Teufelswahn auch noch Genderwahn? Gesetzestexte wie der folgende offenbaren Erstaunliches: „Unser herren meister und rat sint überein komen, daz kein altgewender, gremp oder grempin, noch nieman anders (…) hinnanvür me keinen husrat noch ander gut miteinander sammenthaft koufen üllent“, legte eine strenge Stadtordnung im 14. Jahrhundert fest. Gremp und Grempin sind Krämer und Krämerin.

Schon ein Jahrhundert zuvor verkündete ein Edikt für Tätige im medizinischen Bereich: „Alle, Chirurg oder Chirurgin, Apotheker oder Apothekerin, Kräutersammler oder Kräuterkundige, dürfen die Grenzen ihres Berufes nicht überschreiten.“ Man und frau reibe sich die Augen: Im frühen Mittelalter war das Gendern in offiziellen Texten bisweilen Ehrensache, entsprechend der weit verbreiteten Berufstätigkeit von Frauen in einer Zeit, in der es das Modell „Mutti daheim“ nicht gab.

„Es gibt auch Substantive, die (…) eigene oder singularische Feminina nicht haben: Sondern sie bilden das feminine Genus, indem sie dem Masku­linum in anfügen oder indem sie e in in verwandeln“: Seit der Renaissance sind Sprachforschungen wie die vom hier zitierten Albertus Oelinger aus dem Jahr 1574 bekannt, die belegen: Schon aufgrund grammatikalischer Logik müssen Bezeichnungen für Frauen mit weiblicher Endung versehen werden. Uneins war man sich nur, ob das -in weibliche Berufstätige ebenso wie Gattinnen männlicher Würdenträger bezeichnen sollte, also ob die Königin nur die Gattin des Königs oder eine Herrscherin an sich wäre. Ein Sprachlehrer schlug verschiedene Formen vor: Äbtin für die Gattin des evangelischen Abtes, Äbtissin für die Klostervorsteherin.

Erst mit der Aufklärung und der Romantik, ergaben Forschungen, verzichtete man zunehmend auf die weiblichen Bezeichnungen. Vielleicht auch, weil jetzt die daheim waltende Mutter und Hausfrau zum Ideal wurde? Dennoch war es im 19. Jahrhundert immer noch üblich, neue Berufe für Frauen (Arbeiterinnen) mit -innen zu versehen. Weil das in Zeiten starker Ungleichheit in der Regel Berufe mit schlechtem Status waren, fanden es viele Frauen der ersten Emanzipationsbewegung um die Wende zum 20. Jahrhundert erstrebenswert, männlich benannte Titel zu erreichen: „Ich bin Redakteur“ klang in damaligen Ohren ernstzunehmender als „Ich bin Redakteurin“ – als ob das -in den Wert schmälerte.

Auch wenn manch heutiger Leserbriefschreiber das generische Maskulinum bevorzugt: Erst spät nachweisbar ist die These, die männliche Form sei eine Art Grundwort, dem man für die weibliche Bezeichnung ein unnötiges -in angehängt habe. Und in den Sechzigern, keine goldenen Jahre für Geschlechtergerechtigkeit, schrieb man Sätze wie den folgenden: „Lehrer ist, wer zum Beruf das Lehren gewählt hat; Lehrerin ist dazu die moderne weibliche Variante. Im Verhältnis der beiden Varianten ist das Maskulinum das Grundwort. Es nennt eigentlich nicht eine männliche Person, sondern (…) allein das Subjekt eines Verhaltens.“ Lehrer als Verhaltensweise, die seit kurzem auch Frauen ausüben – coole These.

Könnte man auf das -in wirklich verzichten? In einem Text aus den Neunzigern stellen die Autoren fest: „Der Satz ‚Die Abgeordneten tanzten mit ihren Frauen ‘ klingt bei weitem natürlicher als ‚Die Abgeordneten tanzten mit ihren Männern ‘. Solange man sich Minister als Männer, Putzkräfte hingegen als Frauen vorstellt und die Hebammen sowieso – übrigens die einzige Berufsbezeichnung Deutschlands ohne männliche Form! –, solange geht es wohl nicht ohne -in, mit und ohne _, * und I. Und wem das zu kompliziert ist, der oder die geht zurück zum Althochdeutschen: „Ich bin eine Erzieha.“

 

Foto:  jockelo / photocase.de

Schlaue Pflanzen

Wir sind Fauna, was seid ihr?

Hier gibt es den Artikel als PDF: Wortklauber-Gedicht_#2_2022

Allzu gerne teilt der Mensch die Welt in uns und die anderen ein. Er selbst findet sich dann im Super-Team wieder, versteht die andere Seite nicht und vergisst zudem den „Rest“. So, wie der Mensch gerne „Männer sind so, Frauen anders“ denkt – und alles, was sich der Sortierung verweigert, ausblendet –, sieht er auch die Sache mit Fauna und Flora sehr zugespitzt: Wir sind die, die so essentielle Dinge wie Laufen, Kommunizieren, Denken und Fühlen drauf haben, die anderen nicht.

Ergebnis der Denkfaulheit: Die Tiere sind schützenswerter, genießen mehr Rechte und Respekt. Zumindest Wirbeltiere darf man nicht quälen oder töten – außer man will sie verzehren. „Tierschutz“ sorgt sich um bedrohte Tiere, während „Pflanzenschutz“ Gifte bezeichnet, um alle unerwünschten Pflanzen auszurotten.

Erst in den letzten Jahren fordern Aktivisten, auch Pflanzen oder sogar Ökosysteme mit Rechten gegenüber dem Alleskiller Mensch auszustatten. Und Wissenschaftler erkennen: Pflanzen innerhalb eines Ökosystems kommunizieren miteinander – auch über Gattungsgrenzen hinweg, denken auf ihre Weise, entwickeln Strategien für Nahrungssuche und sind mobil genug, um sich über ganze Erdteile auszubreiten. Wenn also Pflanzen über ihre Art von Intelligenz verfügen, könnte das am menschlichen Selbstbewusstsein rütteln: Bisher fühlten wir uns als schlaustes Lebewesen. Gibt es etwa im Pflanzenreich jemanden, der tausendmal schlauer ist als wir?

Zwar hält sich der Mensch für schlauer, aber gesteht mancher Pflanze immerhin zu, besonders schön zu sein. Das führt dazu, dass man seit alters her Menschen mit botanischen Namen versieht. Leider kommt dabei aber wieder der menschliche Hang zur Einseitigkeit durch, wie ein Blick in die Sammlung „Kindernamen botanischen Ursprungs“ auf der Seite „Mutterinstinkte.de“ beweist: Mit all dem Instinkt, den wohl nur Mütter haben, listet die Seite unzählige Beispiele floraler Namen auf – in der Rubrik „Mädchennamen“. Da finden sich Erika, Viola und Jasmin, aber auch die margeritenhafte Margret, die liliengleiche Lily und die an übles Tee-Kraut erinnernde Camilla. Immerhin schafft es mit „Olivia“ auch eine essbare Pflanze in die Vornamen-Charts. Und bei Jungs? Da präsentieren Portale botanische Knabennamen wie „Ash“ und „Oleander“ – aber von Knaben mit solchen Namen hat man wie vom angeblich gebräuchlichen „Koriander“ noch nix gehört. Dafür tummeln sich Löwen (Leo), Bären (Urs) und Wölfe (Wolfgang). Vornamenmäßig, man merke, ist noch klar: Mädchen sind zarte Blümchen, Jungs wilde Raubtiere.

Doch manchmal wehren sich auch zarte Pflanzen gegen Angreifer, nicht immer so erfolglos wie Goethes „Heide­röslein“: „Röslein wehrte sich und stach, half ihm doch kein Weh und Ach, musst‘ es eben leiden…“ Eine echte Metoo-Situation!

„Trotzdem nicht dumm“, konstatieren Wissenschaftler, bemisst sich doch die Intelligenz der Pflanze wie bei allen anderen Lebewesen nach deren Fähigkeit, Alltagsprobleme zu lösen, also Nahrungssuche und Abwehr von Fressfeinden. So sind Sonnenblumen aufgrund ihrer Fähigkeit, den Kopf vor dem Aufblühen nach der Sonne auszurichten, ziemlich pfiffig. Kluge Pflanzen betreiben Pflanzenschutz mit wohldosierten Mitteln, statt plump die ganze Umwelt zu vergiften, wie es etwa der Mensch beim Anbau seiner Maisplantagen tut.

Eine der vielleicht intelligentesten Pflanzen, sagen Experten, könnte demgemäß die Tabakpflanze sein, die in ihren Wurzeln zur Abwehr von Fressfeinden das Alkaloid Nikotin bildet. Greift der Fressfeind an, kann sie es in die Blätter transportieren und den Angreifer unschädlich machen. Unfreundliche Käfer erkennt sie am Speichel und stellt binnen einer Stunde Nikotin in der Menge einer Zigarette her. Gierig frisst der Käfer den Stoff, wird gelähmt und stirbt.

Man darf schlussfolgern: Weil wir ja auch eine Art Fressfeind der Tabakpflanze sind, verarscht sie uns mit dem gleichen Trick, indem sie uns erst abhängig macht, damit wir sie anbauen – und dann undankbar tötet. Zumindest in diesem Punkt ist die Pflanze klüger als der intelligenteste Angehörige des Teams Fauna.

Foto: Arsen Togulev/unsplash

Reich ins Himmelreich?

Warum heißt es „arm“ und „reich“? Schon die Wortherkunft sagt, was Sache ist, denn „reich“ ist mit dem Reich verwandt. Beide Wörter stammen vom Mittelhochdeutschen rich ab, das edel, mächtig oder von vornehmer Herkunft bedeutet und wahrscheinlich auf das germanische „Rik“ zurückgeht, das wiederum vom lateinischen „Rex“ herrührt, sprich: „König“. Herrlich, als „Reicher“ der edle König vornehmer Abkunft zu sein! Fast vergisst man darüber, die Herkunft des Wortes „arm“ zu erforschen. Wiktionary sagt: Herkunft umstritten; vielleicht stand ein vergessenes Wort für „verlassen“ Pate. Man merkt: Selbst mit dem Wort mag sich niemand so recht beschäftigen.

Hier gibts den Artikel als PDF: Wortklauber_Gedicht_wamiki_#5_2021

Arm und reich gibt es auch als Nomen. Faszinierend, dass man dafür beiden Wörtern die gleichen Buchstaben anhängt, aber in umgedrehter Reihenfolge. Arm kriegt „-mut“. Klingt mutig, kommt aber von „Gemüt“ und sagt, dass Armut eigentlich eine Art Gefühl ist. Reich erhält ein „-tum“, mit dem man auch Eigentum und Königtum bildet, den Irrtum allerdings ebenfalls. Als Nachsilbe verweist „tum“ auf Besitz, Macht oder Würde. Reichtum ist also ein uralter Euphemismus für Besitzen und Herrschen, während Armut von der Wortherkunft bedeutet, sich verlassen zu fühlen, statt handeln zu können.

Wer reich ist, hat gute Mächte an seiner Seite – Arme wurden verlassen. Für die frühen Kulturen und Religionen war deswegen klar: Reiche sind gut, denn sonst würden die Götter sie ja nicht belohnen, während Arme aufgrund ihrer Verfehlungen mit Mangel bestraft werden. Verarmten ganze Gesellschaften, war es manchmal die beste Lösung, erfolglose gegen erfolgreiche Religionen zu tauschen: „Ich wechsele jetzt zu Zeus, der zahlt besser.“ Eine andere Lösung entwickelte sich im Judentum nach der Verarmung durch die „Babylonische Gefangenschaft“: Gott ist auf der Seite der Armen, die im Jenseits reich werden. Diese Idee steckt auch hinter der biblischen Legende von Lazarus, der arm und krank vor dem Haus des reichen Mannes von dessen Speiseresten lebt. Nach dem Tod beider Männer kommt Lazarus in „Abrahams Schoß“, während der Reiche im höllenähnlichen Hades landet. Warum bloß? „Nach dem Tode wird alles umgedreht“, erklärt Abraham, „du hast ja deinen Reichtum schon gehabt, aber Lazarus nicht.“

Für die ersten Christen ist klar: Wer arm und bescheiden nach dem Vorbild des besitzlosen Jesus lebt, gefällt Gott deutlich besser als die Reichen. In seiner Bergpredigt bringt Jesus das auf die Formel: „Selig, ihr Armen, denn euch gehört das Reich Gottes.“ Ein guter Grundsatz für eine Religion der Outlaws, aber untauglich, wenn man zu Geld gekommen ist. Im Christentum finden sich immer wieder Beispiele von Menschen, die sich bewusst der Armut verschrieben und einer immer reicher und mächtiger werdenden Religion trotzten – etwa die Bettelorden oder Franz von Assisi. Andere versuchten, die Sache mit der Armut abzumildern. Schließlich würde der Satz von den seligen Armen ja auch bedeuten, dass es Gott gefällt, wenn Armut unter den Menschen herrscht. Verstand Jesus „geistlich Arme“ nicht vielleicht als Metapher? Und ist Reichtum nach dem Reformator Calvin nicht vielleicht ein Belohnung für gottgefälliges Tun und nur dann problematisch, wenn jemand mit ihm protzt und ihn nicht teilt?

Das klingt nach uralten Diskussionen, aber die Auswirkungen sind noch heute spürbar. Die Frage, ob Arme ihr Schicksal verdienen und Reiche ihren Reichtum, wird immer wieder gestellt, nicht nur in „Neiddebatten“ oder wenn den „Armen“ fehlendes Engagement vorgeworfen wird und Erbschaftssteuern als Strafe für die Tüchtigen verteufelt werden.

Auch dem aktuell vorherrschenden Lebensstil armer und reicher Menschen merkt man die alten Diskussionen über Protz und verdientes Vermögen an: Arme beschaffen bisweilen Luxusgüter auf Pump, etwa schwarzglänzende Limousinen oder teure Smartphones, um ihren schlechten Status zu kompensieren. Reiche hingegen demonstrieren Bescheidenheit und ethisches Denken, wenn bäuerliche Olivenholz-Möbel aus der Toskana in ihren Lofts stehen, das Macbook auf strenges Design setzt und alle Lebensmittel von regio­nalen und gerechten Herstellern stammen.

Hat das was mit uns zu tun? Allerdings. Denn wir PädagogInnen sind besonders empfänglich für die Frage, ob es besser ist, gut zu sein als reich. Wir spielen das Spiel von den guten Armen weiter, wenn wir auf Fragen wie „Ist dir das nicht zu wenig Geld?“, „Kriegst du Überstunden bezahlt?“ oder „Ersetzt dir jemand das Materialgeld?“ antworten: „Mir geht es eh um die Kinder.“ Es wäre sinnvoll, die Bescheidenheit fallen zu lassen – schon weil manche der von uns betreuten Kinder ohne unsere Mitwirkung nicht superreich geworden wären.

Fordern wir also: „Reichtum für alle!“ Zumindest so lange, bis eines fernen Tages Jeff Bezos oder der Immobilienspekulant vom Mietshaus nebenan aus dem Hades mailen: „Damned hot here!“

Foto: knallgrün, photocase

Generationen ohne Ende

Wie wird wohl die „Generation Corona“? Ein paar Monate war die Pandemie alt, als die ersten Autor*innen den Begriff verwendeten – und damit einem bewährten Trend folgten. Seit einigen Jahren ist es angesagt, junge Menschen einer Alterskohorte mit Generation-Pipapo-Namen zu behängen, um damit zu behaupten: Weil die alle unter gleichen Voraussetzungen aufgewachsen sind, sind sie einander irgendwie ähnlich. Aber diese Idee ist uralt.

Hier gibts den Artikel als PDF: Wortklauber_#4_2021

 

Schon 3000 Jahre bevor Sokrates die Jugend beschimpfte, weil sie stets „die Beine übereinanderlegt“, reagierten ältere Sumerer ihre Wut auf Tontafeln ab: „Die Jugend achtet das Alter nicht mehr, zeigt bewusst ein ungepflegtes Aussehen, sinnt auf Umsturz, zeigt keine Lernbereitschaft und ist ablehnend gegen übernommene Werte.“ In jeder Epoche gibt es unzählige solcher Schmähungen, mit denen ältere Menschen der jungen Generation Degeneration unterstellen. Dahinter steckte wohl schon immer ein Wahrnehmungsproblem, denn aus Sicht älterer Leuten verhalten sich jüngere Menschen gern tendenziell unreif – die eigene Unreife liegt dagegen lange zurück.

Schicksal, Trauma, Skepsis

Aber seit wann sprach man bestimmten Generationen statt allgemeiner Verlotterungstendenz konkrete Eigenschaften zu? Karl Mannheimer hieß ein deutscher Soziologe, der 1928 die Schrift „Das Problem der Generationen“ publizierte. Seine Kernthese, vereinfacht gesagt: Mitglieder einer Generation erleben gemeinsame Schicksale und verarbeiten vielleicht gemeinsame Zeitströmungen auf gleiche Weise. Beispiele des Soziologen waren damals: die Jugendbewegung vor allem bürgerlicher Heranwachsender zu Beginn des 20. Jahrhunderts und die zarten „Neuromantiker“.

Traumatische Ereignisse scheinen wie geschaffen, eine gemeinsame Generation zu prägen. Kein Wunder, dass nach dem Zweiten Weltkrieg zunehmend wenige Jahrgänge als jeweils eigene Generation bezeichnet wurden. Helmut Schelsky beschrieb in den Fünfzigerjahren wegweisend die „Skeptische Generation“ der überlebenden Kriegsteilnehmer und hoffte, dass diese Generation in ihrem sozialen Bewusstsein und Selbstbewusstsein kritischer, skeptischer, misstrauischer, glaubenslos oder wenigstens illusionsloser als alle Jugendgenerationen vorher ist, dafür aber tolerant, ohne Pathos, Programme oder Parolen.

X und Golf

Dreißig Jahre später ist von Trauma wenig zu spüren, als die Angehörigen der „Boomer-Generation“ allmählich erwachsen werden. Nun ist ein amerikanischer Autor zur Stelle, um den Generationenbegriff boomen zu lassen: Douglas Coupland recycelt 1992 den eigentlich in den frühen Fünfzigern für Rocker verwendeten Ausdruck „Generation X“ in seinem Romantitel „Generation X. Geschichten für eine immer schneller werdende Kultur“. Seine Generationsbeschreibung wird sofort von den Medien aufgegriffen und erweitert, bis das Bild einer Grunge hörenden, stets ironischen Nihilisten-Generation entsteht, die auf dicke Schlitten und das Eigenheim der Eltern pfeift, gerade weil die Alten trotz Zugehörigkeit zur Skeptischen Generation darauf so stolz sind.

Bald ploppt eine Generation nach der anderen auf. Zum Beispiel die „Generation Golf“, in der Florian Illies den eben noch bewunderten „Generation X“-Mitgliedern zuschreibt, weniger nihilistisch, sondern vielmehr hedonistisch zu sein und den von den Eltern angehäuften Wohlstand zu genießen, statt aktiv zu werden.

Von MTV zu Maybe

Nun scheint es Trend zu sein, immer schlimmere Generationen zu entdecken, etwa die „MTV-Generation“ (glotzt nur Musikvideos) und die „Generation Doof“ (glotzt nur RTL 2 und verhält sich entsprechend). „Außerdem legen sie die Füße hoch“, würde Sokrates beipflichten. Oder es werden traurige, weil chancenlose Generationen erdacht, etwa die „Generation Praktikum“ oder die „Generation Prekär“, die beide wirtschaftlich nicht in die Pötte kommen. Weil all die Generationen immer nur auf ein paar Leute zutreffen und auf den Rest nicht, erfindet ein schlauer Mensch die „Generation Maybe“, die sich offenbar nicht festlegen will und deswegen „Vielleicht“ heißt.

Generationsübergreifend!

Immer wieder neue Generationen zu postulieren, um damit mediale Aufmerksamkeit zu erregen, das verbreitet sich inzwischen dermaßen, dass man für entsprechende Autor*innen eine „Generation Generation“ erfinden könnte. Doch das ist ebenso unsinnig wie jeder andere Versuch, große Teile der Menschheit mit einem Label zu versehen. Übrigens wurden bei früheren Generationen nur selten Frauen mitbedacht – siehe: die Flakhelfergeneration.

Wer in den Achtzigern keine vermögenden Eltern hatte, in Ostdeutschland wohnte oder vor irgendeinem Migrationshintergrund aufwuchs, passte kaum zur „Generation Golf“. Und Nicht-Akademiker*innen könnten die prägenden Ängste der „Generation Prekär/Praktikum“ egal sein. Auch beim Beschreiben der „Generation Corona“ wird es schwer, einen gemeinsamen Nenner für wohlhabende Homeoffice-Familienkinder und prekär lebende Notbetreuungskinder zu finden. Trotzdem werden gewiss neue Generationen erfunden werden. Schon weil unsere Generation das Wort Generation so liebt. Längst haben auch die Dinge, die heutige Generationen („Generation App“) prägen, eine eigene Generationenfolge bekommen. Zum Beispiel mein Smartphone – ist es noch „Neueste Generation“ oder wurde bereits ein Nachfolger generiert?

Das abgelegte, obschon noch brauchbare Telefon zeigt uns die wahren Gründe für unsere Generationenbesessenheit: Wir haben Angst vorm Aussortiert-Werden. Was hilft? Solidarität! Wir tun uns einfach zur Generation Generationsübergreifend zusammen.