Wohlvertrautes Misstrauen

An der Supermarktkasse sagt eine ältere Dame zu einer Mit-Seniorin: „Man kann heute niemandem mehr trauen.“ Weil sie diese Ansicht einer ihr völlig unbekannten Person anvertraut, erleben wir Umstehenden ein zeitgemäßes Paradox zum Thema „Vertrauen“: Überall sehen Leute das Vertrauen in andere Menschen schwinden. Aber am liebsten erzählen sie das möglichst unvertrauten Mitmenschen wie der Frau am Kassenband oder der Telegram-Gruppe.

Wir haben eine Vertrauenskrise, liest man immer wieder. Bürger*innen vertrauen laut mancher Umfragen weniger auf staatliche und gesellschaftliche Institutionen. Sie misstrauen der Politik, Lösungen für ihre Probleme anzugehen. Medien, die ja eigentlich da für da sind, dem Misstrauen an Politik nachzugehen, leiden unter Vertrauensverlust: „Die schreiben doch nur, was sie sollen…“

Zurückzugehen scheint auch das Vertrauen in Lehrer*innen und Erzieher*innen. Werden wir zu einer ängstlichen Gesellschaft, in der jeder jedem misstraut?

Was ist Vertrauen? Egal, ob Gottvertrauen oder Vertrauen in die Mitmenschen: Eigentlich geht es um ein Gefühl, das hinter dem Satz „Alles wird gut!“ steckt. Der Soziologe Niklas Luhmann beschrieb es als „Mechanismus zu Reduktion sozialer Komplexität“: Weil man sich schlecht vor allen Eventualitäten fürchten kann, vertraut man, denn: „Ohne jegliches Vertrauen aber könnte [der Mensch] morgens sein Bett nicht verlassen.“ Vertrauen ist also die Basis, um zu handeln, statt zu grübeln, sich zu fürchten oder gegen alles zu opponieren.

Für den Verlust von Vertrauen sind vor allem Erfahrungen von Gewalt und Ohnmacht verantwortlich. Wer plötzlich schlimme Dinge erlebt, erfährt, dass sein bisheriges Vertrauen in „Alles wird gut!“ unberechtigt war. Wer sein Vertrauen verloren hat, misstraut nun auch dem, dem er bislang „blind“ vertraute. Bei der Corona-Pandemie konnte man den Effekt oft erleben: Menschen mit Brüchen und Verletzungen im Lebenslauf schienen wesentlich anfälliger dafür zu sein, plötzlich Hardcore-Querdenker zu werden. Auch hier weiß die Soziologie: Erst in Ausnahmesituationen erfährt man, wie viel Vertrauen ein Mensch jeweils empfinden kann.

„Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser!“ Dieser Satz, der dem Thema „Misstrauen in historische Zitate“ entsprechend wohl zu Unrecht Lenin zugeschrieben wird, passt gut zu unserem heutigen Verständnis von Vertrauen auf individueller Ebene. Vergleicht man Lebensführung und Kindererziehung heute und früher, fällt auf, dass ein Kontrollbedürfnis an die Stelle von grundsätzlichem Vertrauen getreten ist. Vertraute man früher auf persönliche Empfehlungen und Gefühle („Jacobs Kaffee vertraue ich einfach!“), checkt man heute in Vergleichsportalen oder Google-Bewertungen, welcher Kaffee oder welches Café am besten ist. Gab es früher im Auto-Cockpit Tacho und Benzinuhr, blinkt heute wie im Flugzeug eine Vielzahl von Check-Lichtern auf. Auch über sich selbst kann man heute täglich Daten ermitteln – Blutdruck, Herzfrequenz etc., die früher nur beim jährlichen Arztbesuch erhoben wurden.

Vor allem in Bezug auf Kinder zeigt sich das geänderte Verhältnis zum Vertrauen. „Ich vertraue darauf, dass ihr zum Abendessen wieder zu Hause seid und euch nicht irgendwo rumtreibt“ ist wohl ein Satz von gestern. Kinder von heute erleben mehr Kontrolle, Begleitung und bewusste Auswahl als Vertrauen, wenn Handy oder gar Smartwatch den Eltern ständige Kontaktaufnahme ermöglichen und jede Bildungseinrichtung erst nach gründlicher Kontrolle ausgewählt wird: „Wir haben uns jetzt für die Klasse von Frau Naumann auf der 2. Grundschule entschieden…“ Der Luzerner Philosoph Martin Hartmann sagt dazu: „Es ist, als würden wir uns einreden, dass wir niemandem mehr vertrauen können, damit wir niemandem mehr vertrauen müssen.“

Der Wert des Vertrauens sinkt – und damit steigt die Bedeutung der Transparenz oder wahlweise der Kontrollierbarkeit. Pädagogische Einrichtungen antworten darauf, dokumentieren alles und machen es evaluierbar. An die Stelle des Vertrauensvorschusses tritt quasi der Rechenschaftsbericht. Das verhindert böse Überraschungen, aber vielleicht auch positive. Teams von Einrichtungen, die besonders aufmerksame Eltern haben, kennen das: Es gibt wenig Spielraum, um ungewohnte Raumkonzepte, Ausflüge oder Projektthemen auszuprobieren. Hier geht es den Kindergärten wie den Kindern, die statt der Abenteuer beim unkontrollierbaren Herumtreiben am Nachmittag nun den wohldokumentierten Gitarrenkurs erleben. Vertrauen lässt Raum, Kon­trolle engt ein – das war schon bei Lenin das Problem.

Was ist die Quintessenz? Vertraut dem Vertrauen! Und wenn jemand klagt: „Man kann heute niemandem mehr vertrauen“, dann sagt: „Versuch es, du schaffst es.“

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Michael Fink ist Autor und Fortbildner.

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