Den Artikel gibt es hier als PDF: Wortklauber_#2_2024
Gift ist das Thema des Heftes. Ein Thema mit merkwürdigem Beigeschmack, was wiederum überraschend gut zum Begriff „Gift“ passt. Schmeckt der Tee, den du mir servierst, nicht irgendwie verdächtig? Was verbindet unsere Kultur mit Gift, und was unseren Bildungsbereich? In diesem Text untersuchen wir anhand von sieben Fragen unsere Beziehung zum Gift.
Warum heißt „Gift“ so wie das englische Wort für Geschenk?
„Gift“ ist ein Wort mit harmloser Wurzel. Es entstammt dem Niederdeutschen und ist eine Form von „geben“, die also „Gabe“ bedeutet: Du givst mi wat, un dat is dann Gift. Im Englischen, das sich unter anderem aus Plattdeutsch entwickelt hat, ist diese Form erhalten geblieben, ebenso in der deutschen „Mitgift“. Mit „Gift“ bezeichnete man im Deutschen zunächst jede Form von wohltuender Gabe im Sinne einer Medizin. Weil aber fast jede Arznei bei falscher Dosierung giftig ist, siehe auch den Spruch „Die Dosis macht das Gift“, entwickelte sich die heutige Bedeutung von Gift.
Ist der Giftmord eine Spezialität von Frauen?
Männer morden mit roher Gewalt, Frauen mit Gift: Uralt ist die Vorstellung, dass vor allem Frauen Giftmörderinnen sind. Die Statistik bestätigt diese These nicht. Denn erstens morden Frauen ohnehin viel seltener als Männer, und zweitens gibt es auch keine besonderen statistischen Auffälligkeiten in Bezug auf die Verwendung von Gift.
Aber woher kommt die Vorstellung?
Sie ist ziemlich alt und wurde wohl vor allem durch literarische Giftmörderinnen geprägt. Erinnern wir uns an die Bibel, in der die erste menschliche „Sie“ – Eva – durch unbedachten Genuss eines toxischen Apfels unseren Aufenthalt im Paradies beendet hat. Eines der wenigen als weiblich bezeichneten Tiere – die Schlange – spielte dabei die Hauptrolle.
Die Vorstellung der Giftmörderin passt gut zu einem ungleichen Bild der Geschlechter, bei der Männer unvergleichlich stark sind – und Frauen nur die Möglichkeit haben, mit List statt mit Stärke zu morden. In Krimis lebt das Bild überraschend oft fort, wo immer wieder der Satz fällt: „Also von der Körperkraft her kommt nur ein Mann als Täter in Frage!“
Ist toxisches Verhalten eine Spezialität von Männern?
Etwas modernere Männer morden nicht mehr, sondern beißen Konkurrent*innen weg, lautet eine weitere Vorstellung rund ums Gift: Ein solches Verhalten wird heute oft mit dem Ausdruck „toxische Männlichkeit“ bezeichnet.
Interessant, dass der Begriff ursprünglich eine leicht abweichende Bedeutung hatte und aus einer progressiven Männerbewegung der Siebziger- oder Achtzigerjahre stammt: Mit „Toxische Männlichkeit“ bezeichneten die Erfinder des Begriffes das klassische Selbstkonzept von Männern, bei dem Gefühle verdrängt und Gesundheitsgefahren ignoriert werden. Indem Männer nach dem Motto „Ein Junge weint nicht“ leben und Alkohol, Nikotin sowie Schlägereien als Ausdruck ihrer Rollenerwartung begreifen, vergiften sie sich selbst — voll „toxisch“.
Inzwischen scheint der Fokus mehr auf den Opfern männlichen Dominanzverhaltens zu liegen, was die Frage aufwirft: Gibt es das Ringen um Macht und Einfluss auch in von Frauen geprägten Arbeitsbereichen wie in der frühen Bildung? Verwenden Erzieherinnen und Lehrerinnen die gleichen toxischen Sprüche und Ausgrenzungsmechanismen, die an Männern ausgemacht werden, kaschieren sie diese eventuell besser unter dem Deckmantel, es doch einfach nur gut für alle zu meinen oder machen zu wollen?
Ist heute alles giftig?
Sieht man sich im Lebensmittelladen, beim Möbelgeschäft oder der Drogerie um, hat das Thema Gift eine große, wenn auch unterschwellige Präsenz: Was dort angeboten wird, ist oft „frei von“ allerlei als giftig geltenden Stoffen. Was die Frage aufwirft, ob Produkte ohne angegebene Schadstofffreiheit bei unbedachtem Konsum zu Vergiftungserscheinungen führen könnten? Berechtigte Warnungen von Verbrauchermagazinen haben mittlerweile das Bild erzeugt, dass überall irgendeine Form von Gift drinsteckt: PFAS in der Pfanne und der Outdoorjacke, FODMAPS im Roggenbrot, all die E’s im Joghurt, Weichmacher im Sofa, Radioaktivität im Steinpilz … Vielleicht ist es Folge dieser Vielzahl von Gefährdungen, dass zunehmend auch virtuelle Güter als „giftig“ gebrandmarkt werden: Medien „vergiften“ durch einseitige oder falsche Darstellung das Volk, Computerspiele sind „toxisch“ für die Jugendlichen, kesse Sprüche „vergiften“ sachliche Diskussionen, und jedes *innen am Wortende vergiftet mindestens „den Leser“, vielleicht auch „die Leserin“.
Ist überall Gift drin, wo früher reine Natur war?
Nein, wenn überhaupt ist das heutige Gift subtiler unter uns. In der Zeit schlechter Heizungen war die Innenraumluft voller Feinstaub; die Fabriken vergifteten ungestört Fluss und Luft; aus Armut wurden schimmlige Speisen oder gar als potentiell giftig geltende Pilze verzehrt. Die Gefahren durch Gifte in unserer Wohlstandsgesellschaft sind dazu – und im Vergleich zum Alltagsleben in wirklich armen Ländern! – lächerlich gering.
Mögen Kinder Gift?
Wer im Rollenspielraum zuschaut, wie Kinder die Kernszenen aus Schneewittchen nachspielen, könnte den Eindruck bekommen. Es macht großen Spaß, erst mit hämischem Gesichtsausdruck Apfelsaft mit Puderzucker zu verrühren, das Mixgetränk jemand anderen anzubieten, der es dann gierig trinkt, um plötzlich mit weichen Knien und einem Schrei umzukippen: „Ich wurde vergiftet!“
Kinder begegnen dem Thema nicht nur im Märchen, sondern wohl auch in den zahllosen Warnungen heutiger Eltern, irgendetwas könne bei aller Verführungskraft „schädlich“ sein: Ein Eis zu viel, zu lange aufbleiben, drei Minuten das falsche Video sehen … „ist nicht gut für dich“. Ob solche Warnungen bei Kindern das Bild einer giftigen Welt hinterlassen?
Besonders bedenklich könnten sich solche Gift-Warnungen auswirken, wo gerade beim Thema Essen Kindern als Alternative zu „schädlichen“ Leckereien Speisen angeraten werden, die diese intuitiv für schädlich halten: Nach Ansicht vieler Ernährungswissenschaftler *innen verweigern Kinder den Genuss von Brokkoli, Rosenkohl und Co vor allem, weil sie deren Farbe oder Bitterkeit evolutionsbedingt als „giftig“ assoziieren.
Können wir uns „detoxen“?
Gut, dass es Gegengifte aller Art gibt! Das Teeregal in der Drogerie bietet reichhaltige Angebote an „Detox“-Produkten, die genauso wie der Verzicht auf Handys beim „Digital Detox“ Entgiftung versprechen, indem man angeblich aufgenommene Giftstoffe ausschwemmt. Auch die Achtsamkeitswelle der letzten Jahre kann man getrost als Antwort auf das Grundgefühl sehen, dass Gift überall in uns und in unserem Umfeld steckt.
Eigentlich kann man die Sache mit dem Gift auf einen einfachen Nenner bringen: Hinter dem Gift steckt wie einst bei Eva, der Schlange und dem Apfel im Paradies die Verlockung, der man unbedacht auf den Leim gegangen ist. „Gift“ heißt: Etwas sieht gut und lecker aus oder fühlt sich lustbringend an; hinterlässt aber schwere Schäden. Darüber nachzudenken, kann in einer Zeit drohender Klimakatastrophe und wachsenden Rechtsextremismus niemals schlecht sein. Suchen wir das Gegengift!