„Im deutschen Kindergarten ist das Basteln Pflicht“ — Wie man in anderen Ländern unsere Kitas wahrnimmt
Wie ist das eigentlich, zum ersten Mal in eine deutsche Kita zu kommen, wenn man kein zweijähriges deutsches Kind, sondern zum Beispiel eine französische Mutter oder ein japanischer Vater ist?
Für den folgenden Text sah sich Micha Fink zahlreiche Kitablogs aus verschiedenen Ländern an.
Viele seiner Zufallsfunde lenken den Blick auf das, was bei uns selbstverständlich ist, Menschen von anderswoher aber erst einmal irritiert.
Hier gibt es den Artikel als PDF: Wilde Welt_#4_2024
Warum gibt es so wenig Kitaplätze?
Viele Expats erfahren früh, wie schwer man bei uns zum Kitaplatz gelangt. So schreibt eine Italienerin: „In Deutschland ist es trotz eines Gesetzes, das jedem Kind einen Kindergartenplatz garantiert, vor allem in Großstädten sehr schwierig, so einen Platz zu bekommen. Welche Gründe könnte es geben, dass diese Misere hingenommen wird?“ Nicht nur eine Finnin vermutet: „Deutschland legt Wert darauf, dass die Mütter zu Hause bei ihren Kindern sind.“ Dass die deutsche Mutter eine besonders wichtige Rolle zu spielen scheint, macht man auch an anderen Wahrnehmungen fest: Haben die Kinder etwas Interessantes hergestellt, bloggt eine Französin, heiße es immer „Zeigt das euren Müttern“ und nie „euren Eltern“.
Lernen die Kinder eigentlich was?
Für überraschend viele Menschen anderer Nationen hat die Vorschule die Aufgabe, Kindern das Lesen und Schreiben zu vermitteln. Nicht nur eine französische Besucherin im deutschen Kindergarten ist entsetzt, dass dort „nonformale Bildung“ angesagt ist: „Ich fragte, ob sie Arbeitsblätter für den Lese- oder Mathematikunterricht haben. Nichts! Es war ein normaler Kindergarten, keine Sonderpädagogik. Kurz gesagt: Schockierend für uns.“
Ein Spanier berichtet: „Sie ermutigen die Kinder nicht, bereits lesen zu können, wenn sie in die Schule kommen, sondern ganz im Gegenteil.“ „Mit einem Wort, es war eine Katastrophe“, klagt eine Polin. „Sie sangen keine Lieder, sagten keine Reime auf, kein Muttertag, Großmuttertag, Weihnachten, nichts.“ Auch ein weiteres Lernthema wurde vermisst: „In deutschen Kindergärten gibt es kein Töpfchentraining.“
„Man muss sich fragen, was für ein Konzept der Kindergarten hat“, schreibt eine Rumänin. „Es klingt albern, aber es gibt eins. Es gibt Kindergärten, die wirklich propagieren, dass ein Kind nicht zu einer Aktivität gezwungen werden soll, sondern sich etwas von dem aussuchen kann, was an dem Tag angeboten wird.“
Warum tun die Deutschen das? Eine Französin brauchte ein paar Wochen, bis sie verstand: „Die Praxis ist ganz anders. In Frankreich wird ein Lehrer zum Beispiel die Farbtheorie erklären, und die Kinder werden sie dann anwenden. Hier (in Deutschland) lernt das Kind immer durch das Spiel. Es macht zuerst seine eigenen Erfahrungen, testet und erfindet. Das Lesenlernen findet später statt. Andererseits bevorzugt dieses Bildungssystem jedoch den Rhythmus des Kindes. Die deutsche Schule ist weniger stressig, und die Erwachsenen sind dadurch vielleicht ausgeglichener und weniger von ihrer Arbeit besessen als die Franzosen.“
Natürlich sind nicht alle deutschen Kitas auf konzeptuell gleichem Stand, sonst hätte eine Ungarin nicht festgestellt: „Im deutschen Kindergarten ist das Basteln Pflicht. Jeden Monat gibt es mindestens zwei oder drei Bastelarbeiten, die die Kindergartenkinder anfertigen müssen, um ihre Zimmer und Gemeinschaftsräume zu schmücken.“
Lernen die Kinder kein gutes Benehmen?
Führt so viel Freiraum nicht zu Verhaltensproblemen? Aus westeuropäischer Sicht schon. Eine Französin schreibt voller Abscheu: „Im Kindergarten sind die Kinder auf sich allein gestellt. Sie lernen nichts, haben keinen Respekt vor den Erwachsenen, die es nicht wagen, sich mit ihnen auseinanderzusetzen.“ Eine Landsfrau ergänzt: „Deutschen Kindern fällt es schwer, sich an Regeln zu halten und Misserfolge zu akzeptieren. Dieses Verhalten erschwert die Umerziehung.“ Auf das Austreiben unguter Verhaltensweisen setzt auch eine Spanierin: „Ich fand heraus, dass die Erzieherinnen im Kindergarten meine Tochter ermutigten, ihre Spielsachen nicht zu teilen… Mit aufgerissenen Augen und offenem Mund sagte ich: ‚Nein! Das ist nicht richtig! Sie müssen ihr sagen, dass sie das Spielzeug der anderen Kinder nicht nehmen darf und dass sie teilen muss.‘ Doch die Erzieherin sagte lächelnd: ‚Nein, auf keinen Fall.‘“
Aus japanischer Sicht irritieren eher Details: „Deutsche Kinder heben ihre Hände nicht gerade, sie heben einen Zeigefinger oder schnippen mit den Fingern. Sie heben ihre Hände immer wieder, auch während jemand anderes spricht. Und sie heben bereits die Hände, wenn der Lehrer etwas erklärt.“
Nicht überall kommt es in erster Linie auf gutes Benehmen an. Eine Bloggerin schreibt: „In Italien lautet das durchschnittliche Aufnahmegespräch: Ihr Kind ist hübsch, brav, freundlich und stört nicht: Wir freuen uns sehr, es im Unterricht zu haben.“
Wie und was essen die Kinder?
Dass in deutschen Kitas Mahlzeiten dazugehören, begeistert viele Expats, auch diese Französin: „Zwischen 9.00 und 10.00 Uhr sind die Kinder meistens im Gruppenraum, um zu frühstücken. Das ist doch schön, oder?“ Faszinierend aus russischer Sicht ist die hohe Qualität: „Genau wie in einem Restaurant! Und nicht nur das: Alles ist bio! Das Coolste ist: Kinder dürfen ihren eigenen Hüttenkäse oder die Marmelade auf ein Brötchen streichen und den Löffel oder die Gabel selbst benutzen.“ Das Wunder der Selbstständigkeit beeindruckt auch eine Polin: „Die Kinder setzen sich gemeinsam zum Essen hin. Doch sie werden in keiner Weise zum Essen gezwungen. Wenn sie Lust haben, können sie essen, wenn nicht, müssen sie es nicht.“ Nur eine Ukrainerin beklagt: „Was ich schwer aushalte: Deutsche Kinder dürfen beim Essen sprechen.“
Unglaublich, wie gut vielen Kindern deutsches Essen zu schmecken scheint: „Übrigens: Egal, wer in der Kita kocht, gewöhnen Sie sich daran, dass das, was Ihr Kind dort isst, ihm besser schmeckt als das, was Sie für es kochen“, schreibt eine Spanierin, und eine Mutter aus dem Jemen berichtet: „Obwohl mein Sohn kein großer Esser und in dieser Hinsicht sehr wählerisch ist, mochte er die Gerichte, die ihm im Kindergarten serviert wurden, vor allem das Mittagessen, so sehr, dass er mich bat, auch so etwas für ihn zuzubereiten.“
Ist den Kitas etwas heilig?
Vor allem auf französische und amerikanische Eltern wirken deutsche Kindergärten fast wie Sekten: „Die Kinder singen oder beten vor dem Essen, um Gott zu danken… Sie singen sogar ein Lied, in dem es heißt, dass Gott dich liebt. Und alle singen mit! Unglaublich.“
Ganz anders sieht eine Ungarin die Sache mit der Religion: „Dann flüsterte ein älterer Vater, dass wir an die Angehörigen anderer Religionen denken müssen, damit wir sie nicht beleidigen.“ Einer der besagten „Angehörigen anderer Religionen“ erinnert sich im muslimischen Jemen hingegen gerne und ganz unbeleidigt: „In kultureller Hinsicht hat mein Sohn viel über die traditionellen Feste in Deutschland gelernt, über Karneval, Weihnachten und so weiter.“
Wie oft gehen die Kinder eigentlich raus?
Dass Deutschland ein Land des „täglich Rausgehens“ ist, beeindruckt fast alle europäischen Eltern. „Je nach Wetter gehen die Kinder ein- oder sogar zweimal am Tag spazieren. Am häufigsten gehen sie im Garten spazieren“, berichtet eine Russin.
Französische Eltern hingegen wundern sich, denn: „Die Kinder im Kindergarten ziehen eine Art Skianzug an, bevor sie bei schlechtem Wetter draußen spielen gehen. Das ist so ein Ding, für das sie 10 Minuten brauchen, um es anzuziehen, um 10 Minuten draußen zu spielen.“
Wie hält man es mit der Sauberkeit?
Eine Japanerin macht sich Sorgen: „Deutschland ist ein Land, in dem die Menschen nicht viel Wasser verbrauchen, und Geschirr wird oft in einer Wasserlache gewaschen. Bis vor etwa 30 Jahren war es unüblich, jeden Tag zu duschen. Selbst heute werden Babys im Allgemeinen nur einmal pro Woche gebadet. Nicht leicht zu entscheiden, ob man sein Kind hier zur Kita schicken soll oder nicht.“
Dreck ist ok, sollte aber in der Kita entfernt werden, findet eine Finnin: „Wenn sich das Kind ein größeres Unglück in der Hose zuzieht, werden die Unterhosen oder Hosen nicht gereinigt, sondern nur in eine Tüte gesteckt. Es war also eine schöne Überraschung, als ich das erste Mal ein solches Paket bekam. Ich war schockiert, als ich die Tüte öffnete. Sie war voller Kacke und roch erschreckend schlecht. Später habe ich erfahren, dass das Gesetz die Kindermädchen nicht verpflichtet, sie zu waschen oder gar die Kacke von der Hose zu entfernen.“
Was macht die deutsche Kita aus?
Nach anfänglicher Irritation begeistern sich viele Eltern für die Arbeit in den besuchten Kitas. „Was ich am Kindergarten liebe? Freiheit, in erster Linie körperliche Freiheit“, schreibt eine Italienerin. Denn: „Es scheint mir, dass deutsche Kindergärten auf natürliche Weise die Methoden und Werkzeuge alternativer Bildungsmodelle übernommen haben, insbesondere die von Montessori und Steiner – eine recht ausgewogene und offene Mischung.“
Eine Amerikanerin schwärmt: „Berlin ist kein Ort, der eine Bewegung der freien Kindererziehung braucht. Das freie Modell ist hier der Standard.“
Und trotz ungeduschter Kinder resümiert die Japanerin am Ende: „Selbst wenn alle anderen schon spielen, kann man sein eigenes Tempo beibehalten, und es gibt niemanden, der einem sagt, man solle sich beeilen. Eine Gesellschaft, in der die Menschen nach ihrem eigenen Rhythmus leben können.“
Fotos: Tong Nguyen van / unsplash; MPower/ Photocase; Paula Corberan / unsplash