Demokratie in ­Kinderhausschuhen

Hier gibt es Satire in PDF-Form: Satire Demokratie_#3_2024

Es ist neun Uhr. Im demokratischen Kindergarten in Svenjas und Birgits Okapigruppe geht um diese Uhrzeit die Partizipation so richtig los, denn es beginnt der Morgenkreis, wo sich alle Kinder zum Kreis versammeln … möchten, dürfen – und für euch zwei dahinten auch sollen! Möchtest du, lieber Leser, daran freiwillig teilnehmen – oder brauchst du dafür ne Extraeinladung?

So, Kinder, setzt euch mal! Na komm, Jonas, da sind noch viele Plätze frei. Und du darfst entscheiden, wo du sitzt! Ach, Moment … neben Lewis bitte nicht, das klappt nicht. Neben Marvin auch nicht, wegen vorhin … Also, tja, du darfst entscheiden, ob du neben Adalbert sitzt oder … äh, ähem, … du darfst entscheiden, DASS du neben Adalbert sitzt.

Svenja schiebt Lewis neben Gloria und Jonas neben Sara – jetzt haut es hin. Sie setzt den hibbeligen Marvin neben sich und umfasst ihn mit festem Griff, um sein Bedürfnis nach festem Griff zu erfüllen.

So, Kinder, wir beginnen! Wer weiß, womit wir immer unseren gemeinsamen Kreis beginnen wollen? Nein, ganz bestimmt nicht damit, Lewin. Wir wollen den Kreis mit unserem gemeinsamen Ritual anfangen: mit dem Datum! Wir wollen doch wissen, was für ein Tag heute ist! Wie bitte, Svea, dir ist das egal? Entschuldigung, das ist gemein für die anderen Kinder, die sich schon darauf freuen, das Kalenderblatt heute abziehen zu dürfen und zu erfahren, dass heute Mittwoch … Wie, dir ist es auch egal und sowieso dir und dir auch? Tja, ich und Birgit und sicher auch ein oder zwei Kinder finden es aber auch spannend, gleich den Wochentag zu erfahren. Stimmt es, Anna-­Luisa, du willst das auch wissen, oder? Damit sind wir dann schon drei, Ihr seid mehr – aber auch eine Minderheit hat Rechte, jawohl!

Anna-Luisa zieht mit nervösen Fingern ein Kalenderblatt ab und versucht es mit – oder trotz? – Unterstützung von Birgit an die Magnetwand zu heften. Nach Aufforderung von Ramona lässt sie ein leises Flüstern vernehmen, das die Erzieherin mit „Richtig, es ist Mittwoch, der fünfte Oktober!“ übersetzt.

So, Kinder! Wer ist heute unser Lied-Aussuche-Kind, wer meldet sich? Du, Greta? Na, aber du warst doch schon gestern dran. Du kannst höchstens bestimmen, wer heute Lied-Aussuche-Kind wird. Ach so, du warst vorgestern Lied-Aussuche-Bestimmer-Kind…? Nee, dann macht das Joris, Joris war lange nicht mehr dran. Wen bestimmst du als Lied-Bestimmer-Kind? Joris, was? Du schlägst Greta vor? Hm, möchtest du nicht vielleicht ein anderes Kind auswählen, was lange nicht mehr dran war mit Liedauswählen, zum Beispiel unsere Lisa? Wen nimmst du, sprich doch bitte lauter, damit wir dich besser verstehen? Lisa? Fein! Lisa, du darfst das Lied aussuchen!

Lisa, du möchtest „Der Plumpsack geht um“? Hm, das hatten wir ja nun gerade gestern. Ich glaube, die anderen Kinder und ich auch würden sich freuen, wenn heute mal ein anderes Lied drankommt, zum Beispiel „Was machen wir hier so gerne im Kreis“! Nein, Marija, du bist heute nicht dran, du kannst NICHT „Rummelbummel“ wünschen. Rummelbummel kommt nur dran, wenn Lisa sich das wünscht. Lisa, magst du dir „Was machen wir hier so gerne im Kreis“ wünschen? Ooch, doch lieber „Rummelbummel“? Nun gut, das ist Demokratie, ich akzeptiere das. Obwohl ich das Lied nicht mag…

Es ist 9:50. Gewissenhaft führt Torben als heutiger Rummelbummel die mit dieser Rolle verbundenen Gesten aus und marschiert um den Kreis, aus dem leider, leider einige Kinder immer wieder auszubrechen versuchen, aber im Interesse des amtierenden Rummelbummels von Birgit mit sehr bestimmtem Griff davon abgehalten werden. Ramona notiert derweil, wer heute an welchem Spiel partizipativ beteiligt war, um morgen auch anderen Kindern den Wunsch nach Einnahme der Rolle des Rummelbummel gewähren zu können – gelebte Demokratie!

So, Kinder! Jetzt seid ihr gefragt! Morgen ist doch wieder unser Ausflugtag, und deshalb besprechen wir – Norman, wenn dir das egal ist, dann störe nicht die, die das wissen wollen! – besprechen wiiiir – leg das mal weg, Rick! – besprechen wiiiiir – hört das mal auf, Lara? – welchen Ausflug wir morgen machen wollen.

Wer eine Idee hat, der… ja, Lara, du meldest dich? Nach was – Florida? Laralein, das ist ja ein lustiger Vorschlag, aber Florida ist ganz, ganz weit weg! Rick, wer sich nicht meldet, darf nicht mitentscheiden, nehme ich lieber unseren Dani dran. Dani, du möchtest – zu Burger King? Also, ich weiß ja nicht, das kannst du mit deiner Familie…Wisst ihr was, ich hab einen besseren Vorschlag für euch: Wir können zum Kindertheater gehen, da gibt es morgen den „Gestiefelten Kater“! Wer ist dafür – stopp, stopp, frage ich es anders: Wer hat einen sinnvollen Gegenvorschlag? Also das heißt, ihr habt entschieden, und wir gehen ins Theater. Ich habe zum Glück auch rechtzeitig Karten gekauft, vorgestern …

Zehn Uhr. Es beginnt die partizipative, gleitende, frei wählbare Frühstückspause mit offenem Frühstücksbüffet.

So, Kinder, es ist Frühstückszeit! Schaut, was für ein herrliches Büffet Irina, unsere Köchin, für euch aufgestellt hat! Mmmh, mit Obst und Marmelade und Käsebrot, da weiß man ja gar nicht, was man sich zuerst nehmen soll, stimmts, Kinder?

Oh. Moooooment, stopp, Malte! Wir haben eine Verabredung: Erst nehmen wir uns ein Käsebrot oder eins mit Kinderstreich-Tomate, und erst danach gibt es Schoko­creme. Du willst beides gleichzeitig, Lisa? Nur, wenn du versprichst, erst das salzige Brot zu essen und dann die Schokokreme, sonst bleibt am Ende der leckere Käse übrig. Nora: Was ich zu Schokocreme gesagt habt, gilt auch für Marmelade!

Zehn Uhr 15. Um den Kindern der anderen Gruppen die Chance zu geben, den Platz der Elefanten- und Giraffen­gruppe am partizipativen, gleitenden, frei wählbaren Frühstücksbüffet einnehmen zu können, motiviert Birgit die Kinder, möglichst zügig die Cafeteria zu verlassen.

So, Kinder, jetzt ist Freispielzeit! Alle Kinder können jetzt spielen, wooo sie wollen! Aber, Moment, die großen Okapis gehen jetzt bitte ALLE in den Garten, weil die ja nachmittags beim Sport sind, und eure Eltern wollen schon, dass ihr einmal pro Tag draußen seid! Moooomentchen, Sara, du gehst bitte nicht raus, du musst zu Förder, und Jakomo geht auch nicht raus, der bleibt bei mir, bei dir klappt das heute nicht. Moooooment! In den Hecken wird aber nicht gespielt, und wenn ihr das nicht hinkriegt, dass jeder mal auf die Schaukel darf, stell ich mich mit der Stopp­uhr dahin!

Elf Uhr. Die Kinder partizipieren am Freispiel in Garten und den Spielräumen. Birgit summt gedankenverloren beim Aufräumen ihr Wunschlied „Was machen wir so gerne hier im Kreis? Dreht euch, dreht euch …“ Ramona schaut ihr zu – und äußert einen Geistesblitz:

Demokratie wäre so toll, wenn die Kinder von sich aus täten, was richtig ist …

 

Illustrationen: Tasche

Michael Fink ist Autor und Fortbildner.

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