Warum sind wir, wie wir sind? Und warum stoßen wir damit nicht nur auf Gegenliebe?
Erinnerungen an missliche Situationen, Erkenntnisse über Verhaltensweisen, Erfahrungen mit Lösungsmöglichkeiten und Umsetzungstipps – Aline Kramer-Pleßke, Supervisorin und Coach, möchte dazu beitragen, dass wir unsere Potenziale entdecken, unsere Ressourcen stärken, emotionale Entlastung finden und souveräner handeln können.
Hier gibt es den Artikel als PDF: Supervisorin_#2_2025
Erinnerungen
Es war einer dieser endlos langen Schultage, an denen die Minuten zäh wie Kaugummi verstreichen. Der Lehrer erklärte irgendwelche Formeln, während meine Gedanken ganz woanders waren. Da starteten einige Jungs heimlich eine Papierkügelchen-Schlacht. Die kleinen Geschosse flogen durch die Luft, prallten von Tischkanten ab und landeten auf den Köpfen der Mitschüler. Ein unterdrücktes Kichern ging durch den Raum.
Ich war immer noch versunken in meine Gedanken, als mein Sitznachbar – einer der „großen Ansager“ der Klasse – mir plötzlich einen kräftigen Ellbogenstoß versetzte. „Ey, heb mal das Kügelchen auf “, flüsterte er mir zu.
Nein sagen? Kam für mich nicht infrage. Ich war damals viel zu angepasst. Also beugte ich mich widerwillig nach unten, um das Kügelchen aufzuheben – und genau in diesem Moment erklang die Stimme des Lehrers: „Aline! Nach dem Unterricht bleibst du hier und säuberst den Raum. Fegen, wischen, bohnern – alles!“ Schadenfrohes Gelächter brach los. Mein Sitznachbar grinste.
„Aber ich habe doch gar nicht mitgemacht“, protestierte ich. Doch keine Chance. Pech gehabt. Niemand half mir, als ich nach der Stunde den Besen schwang, übermannt von diesem nagenden Gefühl: Ausgrenzung. Ungerechtigkeit. Hilflosigkeit.
Erst Jahre später, als ich mich intensiv mit Selbstreflexion beschäftigte, verstand ich: Dieses Erlebnis war kein Einzelfall. Es war Teil eines Musters. Ein Muster, das viele von uns kennen.
Erfahrungen
Jahre später begegnete mir dieses Thema in einem ganz anderen Kontext wieder – in meiner Arbeit mit einer Frau, die für den Personaleinsatz in einer Bildungseinrichtung zuständig war und über zwei Dinge klagte: ständiges Gemecker über ihren Dienstplan und eine Flut von Ideen ihrer Kolleginnen, die sie kaum verarbeiten konnte. Ihr Wunsch, es allen recht zu machen, überforderte sie völlig. Sie war erschöpft und im Chaos gefangen.
Dass sie keine Grenzen setzen konnte, zeigte sich auch in ihrem Büro: Mitarbeiterinnen platzten herein, ohne zu klopfen, warfen Blicke auf ihren Bildschirm und diskutierten miteinander.
Ruhe? Konzentration? Fehlanzeige. Doch sah sie das Problem nur bei sich selbst und glaubte, sie müsse sich noch mehr Mühe geben, offener sein, geduldiger. Wahrscheinlich hatte sie früh gelernt, dass ihre eigenen Bedürfnisse keine Rolle spielen.
Im Coaching arbeiteten wir gemeinsam die eigentliche Ursache heraus: Warum fühlte sie sich wie eine Erfüllungsgehilfin? Die Antwort lag in ihrer Vergangenheit. Früher war dieses Verhalten – sich anzupassen, sich aufzuopfern – vielleicht notwendig und hilfreich gewesen. Heute war es das nicht mehr.
Nach und nach entwickelte sie Strategien, um klare Grenzen zu setzen. Ein entscheidender Schritt war, das früher unsagbare Wort Nein endlich über die Lippen zu bringen. Aber nicht irgendwie, sondern souverän, freundlich und bestimmt. Sie lernte, auch ihre physische Grenze zu wahren, zum Beispiel indem sie sich bewusst anders im Raum positionierte. Und sie gab sich selbst die Erlaubnis, nicht auf jede Bitte sofort einzugehen. Sie reflektierte ihre eigene Rolle, setzte Prioritäten und erkannte, dass sie nicht für alles verantwortlich ist.
An einem Teamtag behandelte sie das Thema mit ihren Kolleginnen. Gemeinsam sammelten sie Beispiele für Grenzüberschreitungen und erarbeiteten, was respektvolle Zusammenarbeit bedeutet. Ein paar einfache Maßnahmen verbesserten die Situation spürbar: ein „Bitte nicht stören“-Schild an der Tür, feste Sprechzeiten, um spontane Unterbrechungen zu reduzieren, mehr Nachfragen und Absprachen. Das Ergebnis? Sie gewann an Respekt, an Professionalität – und fühlte sich endlich souveräner.
Übrigens: Der gesamte Prozess dauerte etwa anderthalb Jahre, denn solche Muster ändern sich nicht über Nacht. Aber es lohnt sich, weil die Auseinandersetzung mit Themen wie diesem uns hilft, mental vital zu bleiben.
Experimente
Übungen für mehr Selbstbestimmung
1.
Persönliche Grenzen reflektieren
Denke an Situationen, in denen deine Grenzen überschritten wurden. Wie hast du dich gefühlt?
Was hättest du anders machen können?
Probiere neue Reaktionsweisen aus.
2.
Körperliche Signale wahrnehmen
Setze dich ruhig hin und achte auf deinen Körper. Spürst du Anspannung in den Schultern oder ein flaues Gefühl im Magen? Dein Körper sendet dir klare Signale, wenn deine Grenzen verletzt werden.
3.
Nein-Sagen trainieren
Stelle dir eine herausfordernde Situation vor.
Wie kannst du freundlich, aber bestimmt
Nein sagen? Übe es laut.
4.
Grenzen visualisieren
Stelle dir vor, du bist von einer unsichtbaren Schutzblase umgeben. Sie hält unerwünschte Einflüsse fern. Mache sie in schwierigen Momenten gedanklich
stärker und stabiler.
5.
Prioritäten schützen
Schreibe eine Liste, die all deine Aufgaben enthält.
Was ist wirklich wichtig?
Was kannst du loslassen?
6.
Zeit und Energie bewusst managen
Führe ein kleines Tagebuch:
Welche Tätigkeiten geben dir Energie?
Welche rauben dir Kraft? Setze klare Grenzen
für letztere.
7.
Eigene Werte reflektieren
Überlege, was deine wichtigsten Werte sind.
Wo stehen sie in Konflikt mit deinem
aktuellen Verhalten?
8.
Rollenspiele üben
Spiele mit einem Freund typische
Konfliktsituationen durch. Je öfter du deine
Grenzen aktiv verteidigst,
desto sicherer wirst du.
Aline Kramer-Pleßke arbeitet als Coach und Supervisorin für Leitungskräfte, Fachberater* innen und Teams in Berlin, Brandenburg oder Online.
Kontakt: Beratungspraxis
Wolfshagener Straße 73, 13187 Berlin
E-Mail: info@alinekramer.de
Internet: www.alinekramer.de und
www.perspektiven-coaching-berlin.de
Foto: Michael Götz / Photocase