Ohne Gewalt herrscht Gewalt

Wir Deutschen haben ein Gewaltproblem, das
andere Völker so nicht kennen.

Zum Glück ist dieses schon von unseren
germanischen Vorvätern ererbte Problem
nur ein sprachliches: Mit unserem Begriff Gewalt
bezeichnen wir sowohl schlimmste Formen
des menschlichen Verhaltens als auch die
positive Anwendung von Macht.

Hier gibt es den Wortklauber auch als PDF: Wortklauber_#2_2025

 

Gewalt ist im Deutschen nicht nur das, was der Gewalttäter, der Vergewaltiger oder die gewaltbereite Demonstrantin ausüben und was vielerorts mit Wörtern wie „violence“ bezeichnet wird, sondern auch das Wirken des Staates, nämlich „Staatsgewalt“, die „vom Volke ausgeht“ und von der „Verwaltung“ nur ausgeübt oder in „Gewaltenteilung“ gesplittet wird. Auch Gott wurde solche gestaltende Gewalt zugesprochen, die er aber durch Jesu Geburt zeitweilig abgab: „Er äußert sich all seiner G’walt, wird niedrig und gering…“, heißt es in einem Kirchenlied.

Selbst friedliche Menschen verfügen rein sprachlich über positive Gewalt, die sie zum Beispiel für Kraftanstrengungen mobilisieren, um etwas „mit aller Gewalt“ zu erreichen. Eine Gewalt, zu der ausgerechnet dann die Verbindung abbricht, wenn Menschen rohe Gewalt anwenden: „Ich hatte mich nicht mehr in der Gewalt und wurde deshalb gewalttätig.“

Interessant, dass beim Begriff Gewalt germanische Vorstellungen von einer beseelten Natur noch nach Jahrtausenden durchschimmern: Der in einem „Gewaltmarsch“ bezwungene Berg ist „gewaltig groß“, und würde man dort von einem Blitzschlag getroffen, wäre man ein „Opfer höherer Gewalt“.

Woher kommt die Gleichset­z­erei von höherer, staatlicher und roher Gewalt? Das protogermanische Verb „waltan“ bedeutet dem ­gewaltigen Online-Lexikon zufolge „stark sein, herrschen“.

Also setzten die germanischen Vorfahren vieler Deutscher ordnende mit destruktiven Formen der Machtausübung gleich, während schon die Römer zwischen der ordnenden Staats­gewalt „potestas“ und der zerstörerischen „violentia“ unterschieden.

Man könnte angesichts dieser sprachlichen Prägung darüber nachdenken, ob Deutschsprachige besonders anfällig dafür sind, beide Formen von Gewalt zu verwechseln, etwa beim freiwilligen Wählen von gewalttätigen Herrschern oder beim Diffamieren staatlicher Gewalt als unrechtmäßigem Eingriff in persönliche Rechte, anstatt anzuerkennen: Wo keine staatliche Gewalt herrscht, herrscht willkürliche Gewalt.

Entlastend für Deutschsprecher, belastend für die Menschheit: Überall auf der Welt beweisen Verschwörungstheoretiker wie Gewaltherrscher, dass sie trotz verschiedener Wörter für staatliche und personale Gewalt deren Unterschied nicht wahrnehmen möchten. Genauso wie alle, die Gewalttaten einzelner Menschen missbrauchen, um unter Begriffen wie „wohltemperierte Grausamkeiten“ Gewalt gegen missliebige Mitbürger anzudrohen.

So viel Geschichte und Politik – aber geht es jetzt auch mal um die Kinder? Na klar, denn obwohl der Begriff Gewalt in der Pädagogik hauptsächlich in seiner negativen Bedeutung verwendet wird, erleben sie die subtilste Gewalt genau im Zwischenbereich zwischen „potestas“ und „violentia“. Nämlich dann, wenn Fachkräfte ihre zugesprochene Macht verwenden, um Kinderbedürfnisse zu unterdrücken. Wer Kinder zu Koste-Häppchen, Hauptgericht vor Nachtisch, Wenigstens-Aus­ruhen und Ähnlichem zwingt, nutzt vom Staat verliehene Verfügungsgewalt aus, um Kindern Gewalt anzutun.

Foto: photocase

Michael Fink ist Autor und Fortbildner.

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