Sag die Wahrheit!

Hier werden Rechtsfragen aus der Pädagogik verhandelt.
Diesmal geht es um das Kinderrecht auf Information.

Hier gibt es den Rechthaber als PDF: Rechthaber_#4_2025

Charlotte, überall Lottchen genannt, möchte später Detektivin werden. Den ersten Fall bearbeitet sie schon: „Papa war heute verschwunden! Mama hat gesagt, er musste ganz lange arbeiten und morgens ganz früh wieder raus. Deshalb hätte ich ihn nicht gesehen. Aber ich hab genau gemerkt, dass er nicht da war, weil: Das Bettzeug war ganz glatt!“ „Pfiffig kombiniert“, lobt Erzieherin Marie das muntere Kind.

„Na, Lottchen“, fragt Marie eine Woche darauf die Fünfjährige, die nachdenklich in der Nähe des Teamraums herumspaziert, „klärst du wieder einen Fall auf?“ „Naja, ich hab bisschen was rausgefunden“, antwortet das Mädchen. „Gestern Abend hab ich mit Mama gekuschelt, und da hab ich gemerkt, dass Papas Schlafanzug gar nicht da lag. Mama hat so komisch gesagt: Der Papa kommt schon noch. Aber wie soll der ohne Schlafanzug schlafen? Und wieso will er uns nicht sehen?“ „Hm, ist ja wirklich merkwürdig“, sagt Marie und fügt schnell hinzu, „aber dafür gibt es bestimmt eine ganz einfache Erklärung, alles gut.“

„Hey, Lottchen, alles gut?“ Charlotte zuckt nur mit den Schultern. Als die Erzieherin nach neuen Detektivergebnissen fragt, reagiert das Mädchen unwirsch: „Mir glaubt ja eh keiner, was ich herausfinde!“ „Du kannst mir alles erzählen, was dich…“, will Marie klarstellen, aber Charlotte läuft weg.

„Ist alles in Ordnung mit Lottchen?“ will Marie im Elterngespräch von Charlottes Mutter wissen – anders als sonst ist der Vater diesmal nicht dabei. Erst ein glasiger Blick, dann erzählt die Mutter stockend, man habe derzeit eine „herausfordernde familiäre Situation“ zu meistern, der man mit einer „zeitweiligen, wenn auch nicht befristeten räumlichen Trennung“ begegnen wolle. „Ah, verstehe“, sagt Marie empathisch. „Uns ist schon aufgefallen, dass Lottchen seit einiger Zeit so in sich gekehrt ist. Wie geht sie mit der, ähem, Trennung um? Seit wann weiß sie denn darüber Bescheid?“ „Also, das heißt…“, stottert die Mutter unsicher und gesteht dann, bisher noch keinen günstigen Moment gefunden zu haben, aber sie habe fest vor…

Immer verschlossener wirkt Charlotte in den folgenden Wochen. Schade, dass Marie darüber nicht mit der Mutter sprechen kann, die beim Bringen und Abholen immer so schnell verschwindet, als drücke sie sich vor der Erledigung einer schwierigen Hausaufgabe.

Gut, dass Marie heute im Garten endlich mal ein freundliches „Alles gut?“ an Charlotte richten kann. Sofort bricht das Mädchen in Tränen aus: „Alle sagen immer: Alles gut! Aber keiner sagt mir, dass Mama und Papa sich gescheidet haben! Die sind doch gescheidet, oder? Sag die Wahrheit!“ Da steigen auch Marie die Tränen in die Augen. Aber sie fasst sich und sagt: „Komm her, ich drück dich mal. Und dann erklär ich dir, was ich weiß…“

 

____ Lars Ihlenfeld — Kitarechtler, antwortet:

 

Wie so oft lautet die juristische Antwort: Ja, aber…

Ja, Kinder haben ein Recht auf Information.

Artikel 13 und 17 der UN-Kinderrechtskonvention sagen: Kinder dürfen sich Informationen beschaffen, und Erwachsene sollen sie dabei unterstützen – natürlich altersgerecht und in ihrem besten Interesse. Auch das SGB VIII, also das Sozialgesetzbuch für Kinder- und Jugendhilfe, spricht vom Recht auf Beteiligung und Information.

Aber: Marie ist nicht die Elternsprecherin im Scheidungsprozess. Ihr Wissen stammt nicht aus einem offiziellen Elterngespräch, sondern aus einem bröckelnden Satz der Mutter und Charlottes klugen Schlussfolgerungen. Damit bewegt Marie sich juristisch und emotional auf dünnem Eis.

Also: Darf Marie sagen, was sie weiß?

Nicht einfach so. Solange keine akute Kindeswohlgefährdung besteht – und die ist hier trotz trauriger Lage nicht ersichtlich –, gilt: Die Information über Trennungen ist primär Sache der Eltern. Auch wenn sie sich winden wie ein Aal.

Marie darf Lottchen trösten, ihr zuhören, sie stärken. Und sie darf sagen: „Ich sehe, dass dich das sehr beschäftigt. Ich glaube, deine Mama und dein Papa sollten dir bald erklären, was los ist, denn du hast ein Recht darauf, es zu wissen.“

Was Marie nicht tun sollte: Die Sache der Eltern „übernehmen“ und die Trennung selbst offiziell erklären. Das kann leicht nach hinten losgehen.

Die clevere Lösung?

Marie greift nicht zur Lupe, sondern zum Telefon. Sie bittet die Mutter um ein ruhiges Gespräch, idealerweise nimmt auch ein Kollege oder die Leitung teil. Und dann: Freundlich, klar und empathisch deutlich machen, dass Charlotte längst mehr weiß, als ihr gut tut – und dass es jetzt höchste Zeit ist, sie ehrlich aufzuklären.

Man kann Kinder nicht vor der Wahrheit schützen, aber man kann sie liebevoll begleiten, wenn sie mit der Wahrheit umgehen müssen.

 

 

Abschied von Lars

Seit 2017 war Lars Ihlenfeld unser „Rechthaber“ bei wamiki: Jurist,
Waldkindergarten-Gründer, Kita-Mensch, Vater … — und vor allem einer von uns.
Er hat Recht immer als Schutzraum für Kinder und
Fachkräfte gedacht, nicht als Drohkulisse.

In unseren Redaktionstreffen war Lars jemand, mit dem wir
lachen, zweifeln und begeistert Pläne schmieden konnten.
Mit ihm konnten wir teilen, was uns bewegte, freute, nahe ging, aufregte
oder ungerecht erschien. Uns verband ein gemeinsamer Humor,
Vertrauen in Menschen und ihre Eigensinnigkeit – und die Lust,
Arbeiten und Zusammenarbeiten anders zu denken.

Lars ist plötzlich verstorben. Die Lücke, die er hinterlässt, schmerzt.
Wir sind sehr traurig – und zugleich dankbar für die Zeit mit ihm,
für seine Fragen, seine Klarheit, seine Zugewandtheit
und die guten Gespräche mit ihm.

Unsere Gedanken sind bei seiner Familie und bei allen, die ihm nahe waren.

Erika Berthold, Michael Fink,
Eva Grüber, Lena Grüber, Erik Neumann,
Frank Seiffarth, Natascha Welz

 

Fotos: Cardia Gong / unsplash; privat

(1972-2025) war Jurist, dreifacher Vater, Wald­kindergarten-Gründer und Mitglied des Leitungsteams der Kita Sandvika in ­Hamburg-Altona

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