Unsere Bilder von Natur

Jeden Tag sehen wir Bilder von und aus der Natur. Sie erzählen von Umweltzerstörung, von der Klimakrise und ihren immer spürbareren Folgen. Wie fühlst du dich dabei?
Vielleicht macht es dich sprachlos oder sogar hoffnungslos? Was wäre, wenn du Bilder sehen könntest, die dich nicht einfach überwältigen, sondern dich inspirieren? Die dich irritieren, bewegen und dich anregen, Natur aus einer neuen Perspektive zu betrachten?

Kirsten Winderlich stellt aus ihrer neuen Anthologie* zwei ­außergewöhnliche Bilderbücher vor.

Hier gibt es den Artikel als PDF: Unsere Bilder von Natur_1_2025

Buch 1: A Stitch Out of Time

Anaïs Beaulieu und die Kunst, Natur zu bewahren

 

„Sticken bedeutet, eine Zeichnung auf ein Stück Stoff zu übertragen, das sich in einen Schatz verwandelt“, schreibt der französische Garten- und Landschaftsarchitekt Gilles Clément im Vorwort zu diesem außergewöhnlichen Bilderbuch. Außergewöhnlich nicht nur wegen der überraschenden Darstellungsweise der Pflanzen, sondern auch, weil es unsere Wahrnehmung für die Natur sensibilisiert. Ein Buch, das uns auffordert, jede einzelne Pflanze als Schatz zu hüten – unabhängig von ihrer Nützlichkeit für uns.

Anaïs Beaulieu lernte das Sticken mit acht Jahren von ihrer Großmutter, wie sie im Nachwort berichtet. Eine Kunst, die über Generationen weitergegeben wurde. Doch in diesem Buch geht es um mehr als Familientradition. Hier wird Sticken zur ästhetischen Praxis, zur Strategie der Hingabe.

Beaulieus Stickbilder erinnern nicht an verzierte Tischdecken oder Gardinen. Statt auf Stoff stickt sie auf weggeworfene schwarze Plastiktüten – Symbole der Umweltverschmutzung. Die Idee dazu kam ihr in Burkina Faso, als sie aus einem Bus heraus beobachtete, wie Plastiktüten die Felder übersäten und die Vegetation verdrängten. Ihr künstlerischer Akt ist eine Form von „Rache“ an der rücksichtslosen Zerstörung der Natur.

Plastiktüten werden in Beaulieus Händen zu lebendigen Kunstwerken. Ihre Stickereien zeigen Pflanzen wie Eibe, Efeu oder Fächerkoralle – fragile Wesen, die uns mahnen, sorgsam mit der Natur umzugehen. Der Prozess des Stickens auf Plastik verdeutlicht diese Zerbrechlichkeit: Jeder Stich muss mit Bedacht gesetzt werden. Die Nadel durchdringt das Material wie ein Schnitt durch die Natur, jeder Fehler könnte das Bild – und damit das Leben – zerstören.

In poetischen, assoziativen Texten beschreibt Beaulieu die Pflanzen: Die Eibe als Verursacherin „traumähnlicher Zustände“, den Efeu als „geschickt orchestrierten Faden“, der sich trotz „Unordnung“ immer wieder entwirrt. Die Fächerkoralle, die „wie ein tiefer Atemzug im Meer hin und her wiegt“. Jede Pflanze zählt. Jede ist einzigartig und unersetzlich.

Ob wir nun auf Plastiktüten sticken, auf Stoffbeutel oder ein anderes Material – die Botschaft dieses Buches ist klar: Wir können nicht warten, bis sich die Erde selbst heilt. Wir müssen handeln. Jetzt. Plastikberge verschwinden nicht von allein. Recycling darf nicht nur bedeuten, etwas wieder brauchbar zu machen. Es kann auch heißen, Unsichtbares sichtbar zu machen. Beaulieus Kunst tut genau das. Sie setzt einen Stich – zeitlos und unübersehbar.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Buch 2: Ein Bilderbuch als filmische Poesie

„Tu es là“ ist eine Hommage an uns Menschen und unsere Verbindung zwischen den Generationen.

 

Bäume wachsen aus dem Nichts, Menschen kommen und gehen, Pflanzen drängen sich ins Bild und verschwinden wieder. Landschaften, Himmelsszenen und Vogelschwärme überlagern Begegnungen, während Blüten und Blumen durch Köpfe hindurchscheinen, Röcke schmücken und sich mit den Jahreszeiten verändern. Das Kommen und Gehen der Kinder spiegelt sich in den wechselnden Farben der Natur – ein ständiges Spiel zwischen Abschied und Neubeginn.

Das Besondere an diesem Bilderbuch ist Joanna Concejos meisterhafte Nutzung der Buchseiten: Sie gestaltet die flüchtigen Momente so, als wäre jede Seite eine Filmszene. Die Rückseite schimmert durch das Bild der Vorderseite – und umgekehrt. Beim Umblättern legen sich die feinen, kolorierten Zeichnungen übereinander und verdichten sich zu einem poetischen Spiel aus Zeit, Ort, Erinnerung und Emotion.

„Tu es là“ ist eine Hommage an uns Menschen und unsere Verbindung zwischen den Generationen. Laëtita Bourgets lyrische Texte begleiten die sanfte Metamorphose der Bilder und verstärken ihre poetische Tiefe. Gleich zu Beginn erklingt eine Zeile, die das ganze Buch durchzieht:

„Tu es là, tu es vraiment là, depuis que tu n’es plus là.“

(Du bist hier, du bist wirklich hier, seitdem du nicht mehr da bist.)

Im Zentrum stehen drei Frauen aus unterschiedlichen Generationen. Sie teilen eine imaginierte Kindheit, in der Leben, Sterben und Weiterleben ineinanderfließen. Die Bilder verraten ihre Zugehörigkeit zur jeweiligen Generation vor allem durch ihre Frisuren: Ein Mädchen trägt lange, streng geflochtene Zöpfe, ein anderes einen Pagenkopf, das dritte hat offen fallende Locken.

 

Ein Film aus Licht, Schatten und Erinnerung

Beim Blättern entfaltet sich die Geschichte wie ein Film. Landschaften, Bäume, Wiesen, Wolken, Vogelschwärme, Blüten und Blumen ziehen beim Blättern vor unseren Augen vorbei – in wechselnden Tages- und Jahreszeiten. Die drei Protagonistinnen tauchen immer wieder in neuen Posen und Bewegungen auf.

Zu Beginn wiegen sich nadelartige Bäume im Wind. Ein Mädchen mit Zöpfen betritt das Bild, begleitet von einem Stofftierkaninchen. Es ist mit dem Rücken zu uns gewandt und macht erste, zögernde Schritte. Doch auf der durchscheinenden Seite gegenüber erscheint es erneut – als würde es sich selbst beim Ins-Bild-Treten beobachten.

Schon jetzt schimmert die nächste Szene durch: eine menschliche Silhouette mit einer Katze in einem wilden Garten. Darunter lesen wir die übersetzte Zeile: „Wir sind weit voneinander entfernt.“

 

Ein leises Annähern – zwischen Nähe und Vergänglichkeit

Mit dem nächsten Umblättern nimmt die durchscheinende Rückseite Gestalt an. Das Mädchen erscheint nun auf der rechten Seite, diesmal dem Bild zugewandt. Vor ihm, verborgen im Dickicht eines verwilderten Gartens, wartet eine dunkle Silhouette. Eine Hand ragt hervor, hält einen blättergeschmückten Zweig hinüber – eine Geste des Verbindens, ein stilles Zeichen des Wiederfindens. Auf der folgenden Seite steht: „Manchmal einfach nebeneinander.“

So geht es weiter: vorsichtige Bewegungen aufeinander zu, Erinnerungen, Verlieren und Wiederfinden – ein leises, sensibles Spiel zwischen den Generationen. Gleichzeitig wird die eigene Sterblichkeit spürbar. Landschaften, Blumen und Blätter überblenden sich in Miniatur oder Großform, Tiere und Pflanzen verwandeln sich spielerisch ineinander.

Die Natur wird zum atmenden Raum der Erinnerungen – ein lebendiger Spiegel der Vergänglichkeit.

„Ah oui, je suis là avec toi, parmi nous, pour toujours.“

(Ja, ich bin hier mit dir, unter uns, für immer.)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Text: Kirsten Winderlich

 

Kirsten Winderlich, Bild_Natur_Bild_Eine Anthologie zeitgenössischer Bilderbuchkunst, wamiki 2025

96 Seiten, 9783967910261, 19,90 Euro

Zu beziehen unter: wamiki.de/shop

 

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