„Die letzte Fahrt antreten“

Sachbuch

… „Über die Klinge springen“ oder „sein Ablaufdatum erreicht haben“ – bereits das Vorsatzpapier dieses Kindersachbuchs bereitet anschaulich auf das Thema vor, indem es vielfältige Formulierungen dafür listet, „das Zeitliche zu segnen“. Katharina von der Gathen und Anke Kuhl schreiben und illustrieren lebendig, einfühlsam, multiperspektivisch und informativ zu den Themen Sterben und Tod.

Die kindliche Neugier auf den allzu oft tabuisierten Tod trifft im Text auf eine Fülle kulturgeschichtlich umfangreicher Informationen, die den Drahtseilakt zwischen tröstlichen Hinweisen zum Umgang mit Trauer und ungewöhnlich leichtfüßiger Wissensvermittlung, u. a. zu Totenversorgung, Krematorien oder Beerdigungszeremonien, virtuos bestehen.

Humoristisch-frech durchziehen die Illustrationen das Buch und schaffen es auf einzigartige Weise – sachlich und zugleich augenzwinkernd – die Information zu vertiefen. Es sind befreiend witzige und mithin empowernde Zeichnungen, die zart, tröstend und aktivierend Ängste ernst nehmen und gleichzeitig den Mut transportieren, dass gesagt und gezeigt werden kann, was gesagt und gezeigt werden muss. Ab 8.

Der Wolfspelz

Kinderbuch

Bellwidder Rückwelzer lebt allein in einem kleinen Haus am Waldrand. Er ist ein genügsames Schaf, das nicht viel mehr braucht zum Glücklichsein als ein paar saftige Brombeeren. Das Problem: Dort, wo sein Lieblingsessen wächst, ist es gefährlich, denn dort gibt es Wölfe. Doch Bellwidder hat eine Idee: Verkleidet als Wolf begibt er sich in den Wald, wo er prompt auf andere Wölfe trifft, die den Neuling interessiert in ihre Gemeinschaft einladen.

Es kommt, wie es kommen muss: Die Täuschung fliegt auf und überraschende Konsequenzen treten ein.

Durch die Umkehr des bekannten Motivs vom Wolf im Schafspelz hat Sid Sharp eine neue Fabel kreiert und in ausdrucksstark-bunten Aquarellen vor dunklem Hintergrund spannend in Szene gesetzt. Atmosphärisch dichte Doppelseitenbilder wechseln sich ab mit kleinschrittigen Einzelbildfolgen. Zusammen erzählen sie klar und eingängig von den Nöten und Ängsten, derentwegen wir uns hinter einer Tarnung verstecken. Und sie erzählen davon, wie befreiend es sein kann, nicht länger eine Rolle spielen zu müssen. Eine existenzielle Erfahrung, die auch schon jungen Leserinnen vertraut sein dürfte. Ab 8.

Wolf

Kinderbuch

Obwohl Ich-Erzähler Kemi ungern in der Natur ist, muss er in den Ferien ins Waldcamp. Er ist still. Ein Außenseiter. Mit im Camp ist Jörg, der mit seiner etwas nerdigen Begeisterung für Natur besonders auffällt. Während Kemi „lediglich“ gleichgültige Ausgrenzung erfährt, handelt es sich bei dem, was Jörg erleben muss, um brutales Mobbing. Die beschämende Erleichterung des Verschonten lässt Kemi seine Beobachterrolle nur zögerlich verlassen. Ein Wolf, der ihm in variantenreichen Träumen begegnet, setzt seinen inneren Konflikt metaphorisch kraftvoll ins Bild.

Aus der Perspektive eines Zuschauenden, der Mobbing geschehen lässt, ohne einzuschreiten, entfaltet Saša Stanišić ein ebenso spannendes wie bedrückendes Geschehen. Mit alltagsnaher Erzählsprache, die trotz der Schwere des Themas bestechend komisch und wortwitzig ist, werden die Leser:innen nah herangeführt an Kemis Gedanken zur Frage danach, was eigentlich zu Mobbing führt. Autor und Figur erweisen sich als scharfe Beobachter des Sozialen: Das vollständige Versagen des pädagogischen Personals wird genauso erfahrbar gemacht wie Kemis aus dem Nichtstun resultierende Scham. Regina Kehns scharf konturierte Illustrationen in Schwarz-Gelb lassen ein vielschichtiges Text-Bild-Geflecht entstehen und geben Impulse zum Nach- und Weiterdenken. Ab 11.

Wünsche

Bilderbuch

Mu’o’n Thi Văn erzählt in nur 13 kurzen Sätzen von der Fluchterfahrung ihrer Familie aus Südvietnam. Sie tut dies, indem sie Dingen und Phänomenen der Fluchtumgebung personifizierende Wünsche zuschreibt. Die Tasche, die Uhr, der Pfad, das Boot, die See … Sie alle würden gerne der Flucht die Bedrohlichkeit nehmen. Victo Ngai hat die hohe poetische Verdichtung der prägnanten Sätze in farbstarken Bildern eindrücklich verstärkt. Die Reduzierung auf Exemplarisches und Wesentliches, die die Text- und Bildsprache gleichermaßen prägt, lässt mit zugänglicher Direktheit das Ausgeliefertsein von Menschen auf der Flucht erfahrbar werden.

Was die 16 Doppelseiten des Bilderbuchs über die Erlebnisse eines Kindes erzählen, das mit seiner Mutter und zwei jüngeren Geschwistern sein Zuhause verlassen muss, bekommt eine raum- und zeitübergreifende universelle Dimension, die für Erwachsene und Kinder gleichermaßen berührend ist. Großvater und Hund müssen zurückgelassen werden, die Gefahren der Reise sind lebensbedrohlich, aber die Kraft des Wünschens trägt, bis helfende Hände da sind. Petra Steuber hat den 75 Wörter umfassenden Originaltext erzählstark ins Deutsche übertragen. Ab 6.

Der erste Schritt

Bilderbuch

Vor farbenprächtiger Internatskulisse entfaltet „Der erste Schritt“ eine Parabel über eine Revolte gegen Begrenzungen und soziale Ungleichheit. Die in Frage zu stellende Ordnung bewacht eine Vorsteherin, die mit dem hintersinnigen Wort „Schäfin“ bezeichnet ist. In Gestalt eines Hundes und mit Trillerpfeife gibt sie einer Kinderschar vor, was zu tun ist. Markantes Symbol der Willkür ist eine das Gelände begrenzende weiße Linie, die nicht zu überschreiten ist. Obwohl alle Kinder Topfhaarschnitt tragen, unterscheiden sie sich maßgeblich. Die Privilegierten in blauen Roben dürfen lernen, spielen und ruhen, während die mit schmutziggrauen Kitteln zu Bediensteten Erklärten dienen, putzen und räumen müssen. Nach und nach verliert die kindliche Erzählerfigur den in der Übersetzung von Jana Hemer gut getroffenen lakonischen „So-ist-es-eben“-Ton ihres Berichts. Die Brutalität der Verhältnisse wird erkannt und Veränderung eingeleitet. Auf einen Rollentausch folgen weitere Macht auflösende Taten der Kinder. Sie bringen die „Schäfin“ an den Rand der Erschöpfung und die Kinder – endlich – über die Linie.

Die Mitentdeckung des Fragwürdigen und die Mitfreude an entdeckten Handlungsmöglichkeiten kann für Leserinnen dieser politischen Bilderbuchparabel zu einer wichtigen demokratiebildenden Erfahrung werden. Ab 5.

Bär ist nicht allein

Bilderbuch

Bär spielt Klavier für die Tiere des Waldes. Als er müde wird, fordern sie begierig: „Mehr!“ Bär gerät in innere Konflikte und fährt schließlich mit Bärengebrüll aus der Haut. Einzig das Zebra bleibt sanft und geduldig bei ihm. Aber ist es das, was Bär braucht? Will er nicht einfach allein sein? Die Lösung des Dilemmas findet sich in direktem und übertragenem Sinne „im Buch“.

Mit knappen Worten fängt Marc Veerkamp sowohl die Zerrissenheit des Bären als auch das Drängen der Waldtiere ein. Der gewinnende Ton des Zebras spiegelt dessen Besonnenheit, die Entspannung bringt. Rolf Erdorf hat diesen Sprachduktus gelungen ins Deutsche übersetzt. Die Waldwelt, die Jeska Verstegen mit ihren Bildern entstehen lässt, lädt zum entdeckenden Verweilen ein. Die Formen der Tierarten und Figuren werden vielfach und detailreich variiert. Punktuell wird die in Schwarz, Grau und Weiß gehaltene Bildsprache durch akzentuierenden Einsatz der Farbe Rot ergänzt. Blüten und Blätter, Schmetterlingsflügel, die Sonne oder einzelne Tiere werden rot hervorgehoben – und immer das Buch des Zebras. Die Typografie als miterzählendes Element setzt nicht nur das Bärengebrüll zeichengewaltig in Szene. Ab 5.

Drachen unter uns

Bilderbuch

Dies ist die Erzählung einer hintergründig-phantastischen Leugnung. Die spielfreudige Geschichte ist angelegt auf Interaktionen wie Drehen, Schütteln sowie Entdecken der Widersprüchlichkeit zwischen Text und Bild. Sie feiert die überbordende Kraft der Phantasie und nutzt das Bilderbuch in seiner ganzen Materialität für das Auserzählen eines fröhlichen Versteck-und Entdeckungsspiels.

In den mit dynamischen Farbstiftstrichen gezeichneten, großformatigen, bunten Bildern gibt es viel aufzuspüren und zu ergründen: Ein von erfindungsreichen Kindern angerichtetes Spielchaos beherrscht alle Räume eines Mehrfamilienhauses. Nebst leuchtend orangefarbigen Drachen, von denen entgegen der Titel-Ansage auf jeder Seite mindestens einer zu finden ist, sind hierin zahlreiche Elemente und Details kindlicher Erfahrungswelt aufgehoben. Die vielen Fragen des von Elena Rittinghausen übersetzten Textes fordern die Widerlegung der Abwesenheitsbehauptung immer aufs Neue frisch und augenzwinkernd heraus. Ein metafiktionales Buch-im-Buch-Spiel, bei dem es schließlich sogar eine Menge unterschiedlicher Drachen regnet. Ab 4.

Und die Welt, sie fliegt hoch

Jugendbuch

Draußen, wo Juri nicht ist, ist Sommer. Die anderen sind im Freibad oder im Eiscafé. Er fürchtet sich vor der Welt. Wie ein Komet schlägt da eine Whatsapp-Nachricht ein. „Hallo, ist da jemand?“, fragt Ava. Ava und er kennen sich aus der Grundschule, jetzt hat Ava Hausarrest, „wegen einer Sache“. Die eine darf nicht raus – der andere will nicht. Zwischen diesen Polen entwickelt die Autorin Sarah Jäger ein exzellentes Spiel aus Selbstdarstellung und Selbsterkenntnis. Dafür bedient sie sich einer Form, die so jugendnah und zeitgemäß wie ungewöhnlich ist: Der Roman besteht ausschließlich aus Kurznachrichten. Bald sprechen Ava und Juri immer offener an, was sie umtreibt. Sie nehmen ihren Abflug ins eigene Leben in Angriff. Ab zwölf Jahren.

Aaah, diese Menschen!

Bilderbuch

In der aktuellen Flut von Rettet-die-Welt-Büchern für Kinder und Jugendliche fällt ein Buch durch Witz auf: „Aaah, diese Menschen!“ von Miro Poferl. Darin diskutiert eine Vogelfamilie die Frage: Sind alle Menschen nur schädlich und unnütz? Oder machen sie auch etwas gut? Während die Vogeleltern noch schimpfen und dem Vogelkind schlecht wird, beginnt Menschenkind Mika einen Dachgarten anzulegen … Miro Poferl zeigt uns die Welt der Menschen aus umgekehrter Sicht. Sie regt an, den Blick auch auf Positives zu wenden und Stärken zu nutzen. Ab vier Jahren.

Ich bin hier!

Bilderbuch

Als ein Fluss die Stadt unter Wasser setzt, wird Jona, die gerade im Bürogebäude ihres Vaters spielt, dort vergessen – mehrere Tage lang sitzt sie fest, zwischen Aktenschränken und Drehstühlen. Aber Jona verfällt nicht in Panik und auch nicht in Selbstmitleid, im Gegenteil. Ihr Entdeckergeist verwandelt das graue Hochhaus in einen Ort voller Überraschungen. Mit Jona hat Joke van Leeuwen eine Figur geschaffen, die mit ihrem Mut, ihrer Neugier und ihrer besonderen Art zu denken an Pippi Langstrumpf und Ronja Räubertochter erinnert. Weniger frech vielleicht, aber mindestens genauso tapfer. Das Buch ist eine Heldenreise, die Kindern, und vor allem jungen Mädchen, Mut macht. Ab acht Jahren.

Das Klugscheißerchen

Kinderbuch

Ein echtes Klugscheißerchen weiß immer am besten Bescheid!

Tina und Theo Theufel sind geschlagen mit Eltern, die keinen Hund haben, aber ständig Rote Beete essen wollen. Außerdem wissen sie immer alles besser. Also die Eltern. Die Kinder auch. Der Apfel fällt schließlich nicht weit vom Stamm. Aber Theo und Tina geben wenigstens zu, dass sie Klugscheißer sind. Mama und Papa streiten es ab. Das ist natürlich absolut lächerlich. Vor Kurzem sind die Theufels umgezogen in ein altes Haus mit einem Dachboden voller Abenteuer. Obwohl Spielen auf dem Dachboden nicht gerne gesehen ist, machen Tina und Theo nichts lieber als das. Und außerdem machen die Kinder auf dem Dachboden eine seltsame Entdeckung: In einer Bücherkiste haust ein kleines Männchen mit großer Klappe. Ein waschechtes Klugscheißerchen, das behauptet, nur für seinesgleichen sichtbar zu sein! Und eines ist sicher: „Ein wirklich echter Klugscheißer zu sein, ist harte Arbeit! Man muss Bescheid wissen, man muss auf Zack sein, man muss sich unerbittlich der Korrektheit verpflichten.“ Ab sechs Jahren.

Luise

Bilderbuch

In seinem Bilderbuch „Luise“ verflüssigt der Illustrator Nikolaus Heidelbach die Grenze zwischen Tier- und ­Menschenwelten. Als Luise, ein kleiner Oktopus, eines von 55 Kindern ihrer Krakenmutter, nach den Sommer­ferien aus dem Meer zu ihrem menschlichen Freund Louis in eine ziemlich rheinisch aussehende Stadt zieht, macht sich die Mama Sorgen. Und verlässt ebenso nonchalant die See, um sich auf die Suche zu machen. Die gravitätische Oktopusdame reist durch Heidelbachs majestätisch gemalte Landschaften, in denen sie gelegentlich mit den Wolken verschwimmt. Als sie bei Louis zu Hause am Kaffee­tisch sitzt, fragt Louis‘ Mutter: „,Haben Sie eigentlich einen Mann?‘ ,Nein‘, sagt Luises Mama, „und Sie?‘ ,Nicht mehr‘, sagt Louis‘ Mama, ,er ist mit einer Robbe durchgebrannt.'“ Da sage noch jemand, die Übergänge zwischen den Tier- und Menschenwelten seien nicht fließend. Nichts ist ohne Hintersinn in Heidelbachs Welt. Weshalb es nur einleuchtet, dass die je acht Arme von Luise und ihrer Mutter nicht nur zum Schwimmen und Kuchenessen gut sind. Sie eignen sich auch hervorragend zum Händchenhalten. Ab vier Jahren.