Unterm Bett

Besuch vom Amt für nachträgliche Geburtenkontrolle

Eines Morgens erwachte der Nazi, und ihm stand sofort alles vor seinen hellblauen Augen: seine morgendliche Hasserektion und auch die Lage des Landes. Es wurde alles immer schlimmer, außer er tat etwas. Etwas, was andere schlimm fanden, aber wessen Schlimm das schlimmere Schlimm war, das entschied immer noch… ja, wer eigentlich?

Komisch, dass einem die Lage vor Augen stehen kann, dachte er, wegen liegen und stehen, verstehste? Verstehen von stehen. Wow, das war ja krass. Er war immer ganz aufgeregt, wenn ein Gedanke gleichzeitig auf ihn einstürmte.

„Guten Morgen!“, sagte eine Stimme unter seinem Bett. Und die Stimme klang ruhig und überlegen, obwohl sie unter ihm lag. Manchmal sagen die Positionen noch nichts aus.

„Sei ruhig, oder ich schlag dich tot!“ sagte der Nazi.

„Das ist ein Totschlagargument“, daraufhin die Stimme unterm Bett und lachte ein bisschen.

Jetzt wird’s mir zu bunt, dachte der Nazi. Das mag ich nicht. Er beugte sich über den Bettrand, und so sahen sie sich in die Augen, verkehrt herum, und wer wem schon mal verkehrt herum in die Augen geschaut hat, der weiß wie befremdlich das ist. Denn die Pupillen sehen zwar aus wie die Pupillen aussehen, und der Geist ist bereit, diese Augen als Augen zu sehen, aber die Form in der diese Pupillen stecken, dieses unangenehm bekannt Unbekannte, das lässt die Instinkte ausflippen, lachen oder ekeln oder totschießen. Was man mit unangenehmen oder befremdlichen Augen in unangenehmen und befremdlichen Augenblicken eben so macht.

Der Mann unterm Bett hielt dem Blick stand.

Da schlug dem Nazi die Halsschlagader aus. „ALTER, was machst du hier?“

„Was machst DU HIER?“, fragte der Mann, zog sich an der Bettkante nach vorne und setzte sich auf dem Boden auf. Er trug einen Anzug, am Rücken hafteten die Wollmäuse vom Naziboden. Aber sonst war er tadellos, zeitlos und mit keinem Hinweis auf kulturelle Hintergründe.

„Wenn ich mich vorstellen darf: Herr Tau von der nachträglichen Geburtenkontrolle. Sie sind illegal geboren worden, Herr Oleander!“

„Was?“, stutze der Nazi. „Waswaswas? Illegal was?“ Illegal, ein Wort, dass er stets wie einen Pfeil warf, und nun sollte er selbst eine Zielscheibe sein? Das ging doch nicht. Entweder war man der, der warf oder der, auf den geworfen wurde. Darum hieß es ja auch Vorwurf, oder? Und da er der war, der warf… oder… Jetzt hatte er sich in zwei Gedanken verheddert, weil sie mehr als einer waren.

Herr Tau stand auf und putzte sich die Wollmäuse vom Hosenboden. „Das Amt für nachträgliche Geburtenkontrolle hat festgestellt, dass Sie illegal geboren wurden, demnach kein Recht haben, am Leben zu sein. Da Sie nun schon seit 34 Jahren illegal am Leben sind…“

Dem Nazi schäumten die Augen über. „ALTER, hör jetzt auf mit dem Scheiß! Ich schlag dich tot.“

Herr Tau weiterhin sehr ruhig: „Du kannst nicht alles töten, was dir nicht passt. Das mag eine Weile gut gehen, aber dann erwischen sie dich, und du kannst das Erwischtwerden nicht töten, und sie verurteilen dich, und du kannst das Verurteiltwerden nicht töten, und deine Mutter wird enttäuscht sein, und die Enttäuschung einer Mutter ist unsterblich, und du wirst Gram haben, und der Gram stirbt erst, wenn du stirbst, und wenn du dich tötest, dann hast du nicht den Tod getötet, sondern nur dich. Alles ist größer als dein Töten.“

Der Himmel ist voll, aber auch die Hölle hat ihre Obergrenze erreicht.

„HALT DIE FRESSE! Und hau ab.“ Leander Oleander begann im Raum die Fäuste zu werfen, die Arme zu drehen, eine Windmühle zu sein und dem Hass die meisten Sitze in seinem inneren Bundestag zu geben.

Herr Tau lächelte und zuckte leicht die Achseln. „Wer nicht das Recht hatte, geboren zu werden, der hat es auch nicht das Recht, da zu sein. Wir können doch nicht über Regeln streiten. Die sind da, um sich dran zu halten. Ihr Name ist wirklich Leander Oleander?“

„Ja.“ Der Nazi erhob sich aus seinem eigenen Niveau und stieg aus seiner braunen, von Opa geerbten Bettwäsche, in der er es immer sehr bequem gehabt hatte. „Meine Eltern haben mich so genannt.“

„Schon klar“, nickte der Mann. „Können Sie nichts für. Nun, ich muss Sie bitten, entweder von selbst zu sterben, oder ich sterbe Sie. Ihre Mutter ist als sicherer Herkunftsort klassifiziert worden und Sie hätten nicht herkommen dürfen.“

Der Nazi versuchte schnell ein paar Argumente einzufangen. Sie huschten herum wie Flackerschatten eines angezündeten Flüchtlingsheimes. „Das geht doch gar nicht. Ich konnte doch gar nicht in meiner Mutter bleiben. Das ging doch gar nicht. Das geht doch gar nicht. Das hätte niemand gekonnt. Ich konnte da nicht bleiben.“

Herr Tau hörte sich geduldig die Argumente an, die nur eins waren. „Ihr Vater ist ebenso als sicherer Herkunftsort klassifiziert. Sie hätten auch in Ihrem Vater bleiben können.“

Leander Oleander fuhr sich durch die sehr kurzen Haare „Das geht doch gar nicht, was Sie sagen. Selbst wenn, ich wusste das nicht. Das hätte doch meine Mutter wissen müssen, oder? Ich dachte, jeder darf am Leben sein.“

Mit ruhigen Bewegungen zog Herr Tau derweil ein Blatt Papier aus seinem feinen Jackett. „Ihre Ablebe-Aufforderung!“, sagte er „Tja nun, so leid es mir tut. Wenn jeder am Leben sein könnte, dann könnte ja jeder am Leben sein. Dann wäre ja jeder am Leben. Stellen Sie sich vor, wie voll es dann wäre, wenn jeder geboren werden würde. Ihre Mutter wollte Sie natürlich zur Welt bringen. So sind Mütter.“

„Und nun bin ich da.“ Dem Nazi wollte das nicht in den Kopf, dass was er etwas Unrechtes getan hat, nur, indem er lebte. „Ich würde es ja nicht wieder tun, aber nun bin ich da. Da kann ich doch auch bleiben?“

Herr Tau schüttelte den Kopf. „Was das für eine Signalwirkung für alle Ungeborenen hätte. Verstehen Sie? Die lassen sich dann auch alle gebären. Sie werden abgeschoben, Herr Leander Oleander. Leider ist es so, das muss ich Ihnen noch schnell sagen, dass sie nach dem Tod ohne Gebärgenehmigung auch keine Weiterreisegenehmigung in den Himmel erhalten. Der Himmel ist voll. Aber auch nicht in die Hölle. Die Hölle hat ihre Obergrenze erreicht.“

Dem Nazi wurde so anders. Was sollte er denn tun? Wohin?

Herr Tau ging zur braunen Gardine und schob sie ein Stück nach links. Das gab einen ganz anderen Blick auf den engen Hinterhof frei.

 

Foto: Weigand/photocase.de

ist Schriftstellerin, Lesebühnenautorin und Kolumnistin und lebt in Berlin. Mehrere Veröffentlichungen bis heute. Sie schreibt regelmäßig Kolumnen für »Das Magazin« und ist Mitglied bei der Lesebühne »Fuchs und Söhne«.

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