wir achten auf Achtsamkeit!
Einsamkeit kann gut tun, und Zweisamkeit ist noch schöner, besonders am lauschigen Ufer der Dreisam. Danach kam nichts mehr, bis vor einigen Jahren die vielleicht herrlichste -samkeit überhaupt ausgerufen wurde, nämlich die Sechs-? Nein! Sieben-? Nein! Selt-? Die gab es schon. Neu ist aber: Achtsamkeit. Tadaa!!!
Achtsamkeit ist Trend. Sie passt so gut in unsere Zeit wie Vollholzmöbel, dieses dänische Glücksgefühl „Hygge“ mit den Kerzen, grüne Smoothies und lange, bewegende Gespräche im Viergenerationenhaus. Also macht jeder mit, allen voran die kleine Kita am Rande der Stadt, und erst nach zwei Jahren fragt das Team irritiert: „Was is’n das eigentlich, Achtsamkeit?“
Höchste Zeit für diesen Text, einen Blick aus blitzgescheiten, sympathisch nickelbebrillten Augen und das Geständnis: „Ich weiß es auch nicht.“ Gefolgt vom pädagogisch korrekten „Aber ich werde es dir trotzdem erklären“.
Achtsamkeit ist Atmung. Eine weit verbreitete Achtsamkeitsübung für Erwachsene ist es, bewusst zu atmen. Eine wirksame Achtsamkeitsübung mit Kindern ist es, mit ihnen gemeinsam zu atmen. Vorteil der Übungen: Atmen muss man sowieso. Also kann man versuchen, das mal bewusst wahrzunehmen. Nachteil der Übungen: Bewusst Atmen ist nach dem zweiten, spätestens dem dritten tiefen Atemzug irgendwie langweilig. Trotzdem muss man weiteratmen – und steigert seine Achtsamkeit unachtsam.
Achtsamkeit ermöglicht, sich an kleinen Dingen erfreuen zu können, die man normalerweise übersieht oder sogar blöd findet, wenn man sich nicht fest vornimmt, sie zu beachten. Gut, dass es im pädagogischen Alltag viele dieser kleinen Dinge gibt, oft sogar in Kombination: Wenn man auf einem kleinen Stühlchen im kleinen Raum sitzt, um kleine Kinder zu betreuen, und dafür nur ein sehr kleines Gehalt bekommt, dann hat man sie beisammen – all die kleinen Dinge, über die man sich auch manchmal freuen kann.
Achtsamkeit bedeutet, die Umgebung ganz bewusst wahrzunehmen – mit allen Sinnen. Die Welt hält so viele Klänge, Bilder und Düfte bereit, die wir im hektischen Alltag allzu oft übersehen, weil unsere Augen, Ohren und Nasen nicht achtsam genug sind.
Wer achtsam ist, entdeckt plötzlich überall unverwechselbare Reize – mitten im Kitaalltag: Das neue Tattoo auf der entblößten oberen Pobackenhälfte von Hausmeister Ronny, 54. Den Klang von 18 aufgeregt herumkreischenden Vorschülern in der Turnhalle. Den Duft beim abendlichen Leeren des Windeleimers.
Achtsamkeit heißt, nur still dazusitzen, zu lauschen und zu schauen, was passiert. Das entspricht den beiden klassischen Kernbeschäftigungen des Pädagogen: Beobachtung. Und Gartendienst. Achtsamkeit gibt es auch als Affirmation: „Gib acht bei allem, was du tust.“ So steht es in einem Achtsamkeitsbuch. Früher sagte man schroff: „Träum nicht!“ Oder: „Schau nach links, schau nach rechts…“ Ist man achtsam, wird wahnsinnig viel Oxytocin ausgeschüttet. Ist man nicht achtsam, schüttet man den Früchtetee beim Frühstück aus und bekleckert die Tischdecke.
Achtsamkeit vermittelt man weiter, indem man sie anderen vorlebt – den Kindern zum Beispiel. Es darf aber nicht stressig und laut dabei sein. Leider sind Kinder oft laut und stressig. Um ihnen Achtsamkeit vorleben zu können, sollte man die Anzahl der Kinder reduzieren und diejenigen auswählen, die leise sind und nie Stress machen.
Achtsamkeit bedeutet auch, freundlich zu sein. Man kann Kindern das nahe legen, indem man sie bittet, immer „bitte“ und „danke“ zueinander und zu den Erwachsenen zu sagen. Und indem man sich dafür bedankt, dass sie dieser Bitte nachkommen. Vorteilhaft ist: Das trainierte man all die Jahre schon, in denen es noch keine Achtsamkeit gab. Nachteilig ist: Der Satz „Wie heißt das Achtsamkeits-Zauberwort“ klingt ziemlich kompliziert.
Achtsamkeitsexperten schlagen vor, Kinder kleine Steine sammeln zu lassen, die Steine zu befühlen und darüber zu sprechen, wie sie sich angefühlt haben. Besser als Zementbröckchen von der nächsten Baustelle fühlen sich glatte Kiesel an, die man bei Amazon ordern kann. Man kann sie im Kreis auslegen und mit sanfter Stimme sagen: „Jeder nimmt nur einen Kiesel. Jetzt streichelt jeder über seinen Kiesel und sagt dazu, was er fü – Der Kiesel wird nicht geworfen, Marvin. MARVIN! MARVIIIN! Clarissa, dass du… So, jetzt reichts! Gebt die Kiesel zurück! Wenn ihr nicht achtsam sein könnt, hat das hier alles keinen Zweck.“
Achtsamkeit beinhaltet, auf bewusstere Weise zu essen. Jeden Bissen soll man zweihundertmal kauen, bevor man den feingemahlenen Speisebrei den Schlund hinabwandern lässt – langsam und sehr, sehr achtsam. Vorteilhaft beim Essen ist: Der oft belächelte und kritisierte Kostehappen wird endlich als wertvolle Übung verstanden. Nachteilig für die Kinder: Bewusst gegessene zerkochte Möhrchen schmecken leider noch schlechter als hastig hinuntergeschlungene.
Achtsamkeit heißt, auf die Signale des Körpers zu hören. In dieser schnelllebigen Zeit vergessen wir das oft. Achtsam sein heißt, zu spüren: Mein Körper braucht jetzt Ruhe. Und eure Körper, liebe Kinder, brauchen das jetzt auch. Also: Husch husch in den Achtsamkeitsraum, auf die Achtsamkeitsmatte und mucksmäuschenstill auf die Stimme des eigenen Körpers hören. Nicht flüstern!
Ich mache jetzt ganz achtsam Pause…
Achtsamkeit ist wichtig in dieser Zeit voller Leistungsdruck. Sie hilft Kindern, wieder zu sich zu kommen. Denn achtsame Kinder können abends besser einschlafen und sind am Morgen wacher. Tagsüber sind sie bei der Sache, können ihre Emotionen besser regulieren und sich viel besser auf den Lernstoff konzentrieren. Achtsame Schüler haben bessere Noten. In unserer leistungsorientierten Zeit, in der alle immer perfekt funktionieren müssen, hilft Achtsamkeit, immer perfekt zu funktionieren.
Achtsamkeit ist bestimmt eine gute Idee. Aber in der Praxis heißt Achtsamkeit oft: Malt das Mandala aus, esst langsamer und gründlicher, ruht jetzt, seid dankbar, nicht so gierig, höflicher, leiser. Dann ist Achtsamkeit genau das, was wir in Zeiten wie diesen brauchen: ein neues Deckmäntelchen für uralt-schlechte Pädagogik.
Oder?
Foto: Unschuldslamm/photocase