Die Mode-Diagnosen für die 30er, 40er, 50er — bis in die 80er Jahre
Hier gibt es den Artikel als PDF: Auffaellig durch die Zukunft_#4_2022
Hach, die 90er!
Bine und Tine, die beiden Kita-Urgesteine, sitzen im Teamraum, lassen die Vergangenheit Revue passieren, und passend dudelt auf Radio Charivari James Blunt. Gerade erinnert sich Bine: „Weeste noch, als damals det mit dem Zappeln übaall in den Medien war? Dieset ASD?“ Tine korrigiert: „ADS meinst du. Das gabs doch später als ADHS! Und dann hamse noch dit vaträumte ADS rausjebracht, so ne Art Soft-Version. Ob das noch wer hat?“
„Naja, in den Nullerjahren mit den janzen Autismus-Büchern wurde Asperger mit Inselbejabung modern …“
„… oder nicht diagnostizierte Autismusspektrumsstörung“, ergänzt Tine. „Und jetzt quatschen alle von diesem Hochsensibiliätsding, wat wiederum…“
„… bei den Nachkommen der Hochbegabungs-Verdachts-Kinder aus den 80ern total in is“, weiß Tine.
Luna starrt die beiden fasziniert an. Welchen Trend-Diagnosen werde ich wohl, fragt sich die Zweiundzwanzigjährige, in meinem gerade erst begonnenen Berufsleben begegnen? Gut, dass sie die zufällig im Teamraum ausliegende aktuelle Ausgabe von „wamiki“ aufschlägt – und sofort über die Zukunfts-Trend-Diagnosen informiert ist.
Mariecharlottismus-Syndrom
(MCS)
„Marie-Charlotte ist kein Name, sondern eine Diagnose“, titelt 2036 ein bekannter Eltern-Blog. Ein viel gelesener Artikel von Dr. Sara-Lara Schneidereit, Expertin für frühkindliche Verhaltensbesonderheiten, bringt Details zur Sprache: Die von MCS betroffenen Kinder leiden an einem Übermaß an Interesse für Musik-, Ballett-, Reit-, Frühenglisch- und Früh-Reiki-Kurse. Statt die Betroffenen und ihren „Schrei nach Frühbildung“ wahrzunehmen, behandeln unsensible PädagogInnen – die leider allzu selten von diesem Syndrom betroffen sind – sie genauso wie sogenannte Standard-Kids. Die Folge: Schwere Unterforderungsschäden und Verlust des Interesses am Geigen- und Schachspiel zugunsten sogenannter Trivial-Beschäftigungen.
Die Anzahl neuer Mariecharlottismus-Diagnosen nimmt rapide ab, nachdem ein Netzwerk investigativ ermittelnder Vier- und Fünfjähriger feststellt: Alle Belege sind gefälscht – von einem von Frankfurt-Nordend, Berlin Prenzlauer-Berg und Hamburg-Ottensen operierenden Mami-und-Papi-Kartell. „Mir wurde nachgesagt, ich würde nachmittags freiwillig Brahms auf der Bratsche spielen. Lächerlich!“ bricht Uwe-Kai (5) sein Schweigen.
Sensibilitäts-Defizit-Syndrom
(SDS)
Rechtzeitig zu Lunas 25. Dienstjubiläum bringt der Sommer 2047 einen neuen Mode-Diagnosetrend: „Immer mehr Kinder sind niedrigsensibel“, klagen Eltern und PädagogInnen. Niedrigsensiblen Kindern fällt es schwer, die Bedürfnisse anderer Menschen wahrzunehmen, geschweige denn zu befriedigen. „Werden unsere Kinder zu Muttertags-Vergessern?“ fragt ein Bestseller aus dem Bösel-Verlag und nennt haarsträubende Beispiele von Kindern, die auch nach zwei veganen Eiskugeln mit Sahne nicht von sich aus „Danke“ sagen oder nach dem teuren Familienausflug zum Freizeitpark behaupten, nicht den tollsten Tag ihres Lebens erlebt zu haben. Gegen Ende der SDS-Welle kommt gottlob heraus, dass ein Teil der Kinder quasi immun gegen schlimmere SDS-Formen ist: Eigene Kinder zeigen nur ab und zu Symptome (Situatives SDS), während MitschülerInnen, Nachbarskinder und von langjährigen PädagogInnen betreute Kinder „Dauer-SDS“ zeigen. Als Folgekrankheit tritt häufig TUGM-NA-WIFDGH-S (Total Undankbar Gegenüber Mir Nach Allem Was Ich Für Dich Getan Habe-Syndrom) auf.
Digital-Medien-Desinteresse-Syndrom
(DMDS)
„Unsere Kinder leiden an Analoger Demenz“, warnt der Hirnforscher Alfred Spritzer 2053 in seinem viel diskutierten Bestseller. Die Befunde sind besorgniserregend: Immer mehr Kinder betrachten Bildschirme nur flüchtig, starren danach stundenlang aus Fenstern oder praktizieren im sogenannten Analog-Raum eigenaktiv den „Handelnden Umgang“. Dabei werden reale Objekte ohne dazwischen geschaltete Bildschirme berührt und bewegt.
„Weil Maltes Erzieherin sich für einige Minuten offline geschaltet hatte, konnte mein Junge heute unbemerkt an einen nicht demontierten Fenstergriff gelangen, ihn drehen und das Fenster auf Kipp stellen. Ganz ohne die App“, berichtet eine Mutter fassungslos.
Schon schlagen Experten wie Lehrerverbandssprecher Dr. Luan Dimpfl-Moser Alarm: „Um sich sicher in der sogenannten Realwelt zu bewegen, brauchen Kinder jahrelange intensive Erfahrungen im virtuellen Raum.“
Simply-The-Best-Syndrom
(STBS)
Jonathan Simply und Theodore „The“ Best von der Richwood University Harlow veröffentlichen 2064 ein aufsehenerregendes Buch mit dem Titel „Ihr Kind, einfach unverbesserlich – Wie umgehen mit dem berechtigten Neid Ihrer Umwelt“. Die Autoren legen den Fokus auf besonders intelligente, wirklich außergewöhnlich schöne, überaus talentierte und noch dazu stets flippig angezogene Kinder von besonderen Eltern, nämlich den Lesern des Buchs. Simply und Best fanden heraus, dass diesen Kindern ihre Einzigartigkeit systematisch abgesprochen wird – von sämtlichen Betreuungs- und Lehrpersonen, aber auch von Nachbarn, Spielplatzbekanntschaften und Gleichaltrigen. Eine Mutter klagt: „Die Fotos meines süßen Fratzes wurden auf Instagram nur dreimal geliked! Mikrotraumatisierung pur!“
Deshalb liefern Simply und Best nützliche Tipps für betroffene Eltern: Das Kind in einer teuren Privat-Kita oder -Schule anmelden, passende Zeugnisse und Entwicklungsberichte von Rechtsanwälten einklagen lassen, durch großzügige Spenden das Wohlwollen anderer Eltern erlangen, die dann dazu beitragen, störende MitschülerInnen aus Gruppen zu mobben. „Klingt hart“, gestehen Best und Simply ein, „ist aber im Sinne Kindzentrierter Elternschaft logisch.“
Defizit-Defizit-Syndrom
(DDS)
Kurz bevor Luna in Rente geht, leider erst im Jahr 2085, macht schließlich das Defizit-Defizit-Syndrom die Runde. Die betroffenen Kinder zeichnen sich durch das vollständige Fehlen irgendwelcher Auffälligkeiten aus. „Entsprechend“, schäumt ein Artikel auf Hocuspocus-online, „kommen die DDS-Kinder im Vergleich mit ihren AltersgenossInnen bei Fördermaßnahmen immer zu kurz, erfahren zu wenig übertriebene Fürsorge von den Eltern und werden von ihnen beim Spielplatz-Talk bisweilen verschämt verschwiegen. Die Folge: Das Versinken in immer größerer Unauffälligkeit mit der Gefahr, zum absoluten Dutzendkind zu werden. Der Alptraum aller Eltern!“
Foto: rawpixel