„Auffällig“ heißt das Thema dieses Heftes. Das Wort hat es in sich, obwohl es doch – Achtung: Wortspiel – so unauffällig daherkommt. Denn „auffällig“ kann mit ganz unterschiedlichen positiven wie negativen Wertungen versehen sein, die sich gut unter der Unauffälligkeit des Wörtchens verstecken lassen.
Begeben wir uns auf eine Reise durch verschiedene Deklinationen des Wortes und ganz unterschiedliche Verwendungsweisen.
Ich falle auf.
Wer diese drei Wörter selbstbewusst ausspricht, merkt: Mit dem Auffallen hat es eine besondere Bewandtnis. Obwohl das Verb im Aktiv steht, ist Auffallen keine aktive Tätigkeit. Ich kann zwar durch besonderes Benehmen oder Bekleidung versuchen, die Aufmerksamkeit anderer Leute auf mich zu ziehen. Aber ob ich auffalle oder nicht, entscheiden letztendlich die anderen. Das wissen besonders die Menschen, die aufgrund von Behinderung, Hautfarbe, Körpergröße, Gewicht oder anderer Dispositionen auffallen, ohne dass sie das möchten. Sie werden ständig betrachtet, während das „Mauerblümchen“ übersehen wird.
Interessant: „Ich falle mir auf“ funktioniert sprachlich, aber nicht inhaltlich.
Du fällst mir auf.
Viele persönliche Beziehungen beginnen mit einem besonderen „Auffallen“. Person A nimmt unter vielen anderen Menschen Person B als etwas Besonderes wahr. Person B fühlt sich entweder geehrt, weil sie Person A aufgefallen ist, oder ihr ist A selbst „aufgefallen“. Ideale Grundlage für einen Flirt? Dazu sagen WissenschaftlerInnen: Offenbar finden Menschen andere Personen besonders dann positiv „auffallend“, wenn sie erstens gängigen Schönheitsklischees entsprechen und zweitens im positiven Sinne durchschnittlich wirken. „Du bist mir gleich aufgefallen“ könnte also heißen: „Du erinnerst mich an einen Mix aus diversen Schönheitsklischees.“
Er fällt auf.
In vielen Märchen, Mythen und Geschichten gibt es einen „besonderen“ Mann oder Jungen. Joseph aus der Bibel sieht mit besonders buntem Rock besser aus als seine Brüder. Mozart ist schon als Kind ein Wunderknabe, Leonardo wird es als Erwachsener. Viele dieser Helden fallen erst auf und dann auf die Fresse: Mozart verarmt, Siegfried wird ausgetrickst, Van Gogh wird verrückt… Zwar scheint die Zeit der Heldenverehrung heute passé. Doch immer noch führen uns Filme und Bücher den „auffallenden“ männlichen Einzelkämpfer vor, der die Dinge auf seine Art regelt – von Wickie im Trickfilm bis zum eigenbrötlerischen Kommissar im Sonntagskrimi.
Sie fällt auf.
Als auffallende Männer noch das Nonplusultra waren, waren auffallende Frauen verdächtig. In den Kinderbüchern der Fünfzigerjahre waren das beispielsweise die „Wildfänge“: Mädchen, die durch burschikoses Verhalten, lautes Lachen und allzu kräftige Stimmen auffielen, bevor sie dann von einem toleranten Jung-Förster gezähmt wurden. Auch heute noch gelten Frauen als auffallend, wenn sie sich in Männerdomänen behaupten wollen. Dann zeigen sie „ungewöhnliche Härte“, „eisernen Willen“ oder „beißen“ gar männliche Rivalen weg, die sich ihnen eigentlich überlegen fühlten.
Es fällt auf…
…dass es immer bestimmte Personen sind, die…
Egal, ob es um Kevins Verhalten im Matheunterricht oder statistisch ermittelte Durchschnittsverhaltensweisen irgendwelcher Bevölkerungsgruppen geht: Die Formulierung „Es fällt auf…“ bietet sich immer an, wenn man Vorurteile und Vorverurteilungen loswerden möchte, ohne allzu konkret zu werden. Zum Beispiel fällt auf, dass viele Maskenverweigerer in der Bahn männlich sind, eine bestimmte Herkunft haben, bis zum Plattenbauviertel fahren… Das Praktische an diesem „Es fällt auf…“ ist: Achtet man mal darauf, ob etwa „alle Kevins verhaltensauffällig sind“, wird jeder Treffer dieses Bild bestätigen.
Ist dir schon aufgefallen, dass unter den Maskenverweigerern wirklich jede Bevölkerungsschicht vertreten ist? Eben.
Wir fallen auf!
Auffallen kann sehr schön sein, wenn man es gemeinsam tut. Fällt der Kirchenchor aus Bad Sumpfingen durch lautes Gackern in der Berliner S-Bahn auf, steigert das die Stimmung der Beteiligten. Gemeinsames Auffallen hat nämlich nichts mit dem Leid einsamen Auffallens zu tun, sondern verleiht das Gefühl: Jetzt setzen wir die Norm, indem wir gegen die von der Mehrheit gesetzte Norm verstoßen! Viele eher randständige soziale Gruppen genießen es, ihr individuelles Außenseitersein durch gemeinsames Auffallen zu kompensieren.
Ihr fallt auf!
Häufig hören Kinder in Gruppen und erst recht Jugendliche diese streng gemeinte Feststellung – gerne garniert mit dem Adjektiv „unangenehm“. Wer die Formulierung verwendet, macht klar, dass er auf der Seite derjenigen steht, die über richtiges – „unauffälliges“ – und falsches Verhalten entscheiden. Dazu steht im Widerspruch, dass wohl jede pädagogische Einrichtung heute behauptet, „jedes einzelne Kind im Blick zu haben“. Damit das auch wirklich klappt, ist Auffallen aber geradezu nötig. Andererseits suggeriert der Tadel „Ihr wolltet immer auffallen“, dass es nichts Besseres gibt, als von PädagogInnen übersehen zu werden.
Sie fallen auf.
So geht „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“: Man ordnet Menschen einer Gruppe zu, um ihnen danach eine gemeinsame Differenz zum angeblich „Normalen“ zu unterstellen. Ein Trick, der fast in jeder Diktatur funktioniert, weil er Gruppen besser stabilisiert als jedes Teambildungs-Seminar. Norbert Elias1 kennt das Rezept: Man bildet aufgrund irgendwelcher simpler Merkmale (Hautfarbe, Religion, Sprache, Körpermerkmale) eine Außenseiter-Gruppe, der man die als negativ wahrgenommenen Eigenschaften innerhalb der eigenen Gruppe unterstellt („gemein zu Frauen“, „geizig“, „fauler als andere Menschen“). Das entlastet die eigene Gruppe („Ich bin nicht so frauenfeindlich wie die…“) und vereinfacht die Rollenfindung auf beiden Seiten. Innerhalb kleinerer Gruppen übernehmen die anfangs irritierten „Außenseiter“ nun teilweise die vorgegebenen Rolleneigenschaften, um nicht noch mehr „aufzufallen“.
1 Der deutsch-britische Soziologe Norbert Elias (1897-1990) gilt als einer der Begründer der modernen Soziologie.
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