Wo beginnt das Sprachspiel? Wie können Wörter Geschichte machen? Wo beginnt Poesie? Diese Fragen stehen im Mittelpunkt des Beitrages von Eva Maria Kohl. Teil 1 erschien in wamiki, Heft 2/2018. In diesem Beitrag (Teil 2) berichtet Eva Maria Kohl von einer Schreibwerkstatt mit Kindern zwischen 8 und 14 Jahren in den Sommerferien.
Die Struktur dieser vier Tage beschreibt exemplarisch den Weg des poetischen Entdeckens und Fabulierens, die vom Wortspiel ausging und in der eigenen Geschichte mündete.
Unser Zusammensein beginnt am Montagmittag und endet am Freitagmittag. Wir haben drei volle und zwei halbe Tage Zeit. Am Anfang steht Fremdheit.
Tag 1: Der Kennenlerntag
Deshalb bleiben wir am ersten Nachmittag alle zusammen. Wir machen einen gemeinsamen Rundgang um die Gebäude und Plätze von Recknitzberg. Wir besuchen die Tiere im Gehege, die Vögel in der Voliere, den Sportplatz, die Hochstände und Buden auf dem Spielplatz im Wald. Wir laufen am Fluss entlang bis zur Brücke und suchen das alte Steingrab. Beim Gehen kommt das eine oder andere Kind, erzählt was von sich, seinem Zuhause, seinen Geschwistern. Es ist alles ganz zwanglos, scheinbar ohne Plan. Ich habe nur gesagt: „Der erste Tag ist unser Kennenlerntag“. Wir wollen versuchen, uns die Namen der anderen zu merken.
Zurückgekehrt schieben wir die Tische im Kaminsaal so zusammen, dass ein gemeinsamer, großer Arbeitsplatz entsteht, an dem wir alle Platz haben. Jetzt spielen wir die ersten Wörterspiele. Die Wörter in unserem Kopf, dem großen Vorratsschrank, müssen tüchtig gerüttelt und geschüttelt werden, damit die brauchbaren herausfallen. Unser Material muss sozusagen angewärmt, trainiert werden, so, wie man im Sport Liegestütze und Kniebeugen für die Muskeln macht. Wir betreiben Kopfgymnastik. Die Kinder schreiben zunächst Wörter auf, die ihnen spontan einfallen und suchen dann in ihrem Kopf nach ihrem Lieblingswort. Die Wörter werden vorgelesen und verglichen.
Dann folgt das Wörterspiel mit dem eigenen Vornamen. Der Vorname ist das privateste Wort, das jeder besitzt. In den Buchstaben des Vornamens, untereinandergeschrieben, verbergen sich wiederum andere Wörter. Aus diesen, möglichst rasch notierten Wörtern werden dann ein einziger oder mehrere kurze Sätze gemacht. Letzteres wird von uns zum ersten Gedicht erklärt. Die Kinder gestalten ein kleines Büchlein, in das ein Strichmännlein gezeichnet, mit einem ausgedachten Namen versehen und eine Art Steckbrief oder kleine Geschichte hineingeschrieben und gemalt wird. Diese kleinformatigen Bücher, aus denen ich später die Zeichnungen kopiere, legen wir kurz vor dem Abendbrot vor uns auf den Boden, stehen darum und bewundern sie.
J – Julitag
U – und
L – lila
I – Igel
A – Apfel
n – nehmen
E – Europa
Es war einmal
ein wunderschöner Julitag.
In dem lila Europa
nahmen die Igel
die Äpfel vom Baum
Und trugen sie zu ihren Kindern,
die sie schmatzend aßen.
B – Bett
E – Eltern
T – Teer
T – Tanne
I – ist
N – Nacht
A – alle
In dem geteerten Bett
schlafen in der Nacht
die Eltern.
Es ist ganz dunkel.
Alle haben Angst und die Tanne rauscht im
Wind
leise.
Tag 2: Der Rätseltag
Am zweiten Tag teilen wir uns in zwei Gruppen. Wir wollen uns Plätze zum Schreiben draußen in der Natur suchen und wieder treffen, wenn etwas entstanden ist. Das wollen wir uns dann gegenseitig vorlesen. An einen Wettbewerb untereinander ist nicht gedacht. Das betone ich ausdrücklich. Wir trennen uns nur, um mehr Ruhe und Konzentration zum Schreiben zu haben.
Der Weg durch die Wiesen, am Fluss entlang hoch zum Feld, ist ganz entspannt und fröhlich. Noch liegt Tau auf den Wiesen, die Sonne beginnt zu wärmen. Wir suchen uns eine schöne Stelle am Feldrand, von der aus wir über das Land hinunter zum Fluss sehen können.
Der zweite Tag soll unser Rätseltag werden. Rätsel sind eine ausgezeichnet geeignete literarische Form, um unmittelbare Wahrnehmung mit Textproduktion zu verbinden. Im Rätsel wird der Rätselgegenstand an seinen äußeren Eigenschaften benannt, der Name selbst aber muss geraten werden. Es muss beschrieben werden, wie der Gegenstand riecht, schmeckt, sich anhört, welche Farbe und Form er hat. Erst wenn ich diese Eigenschaften genau kenne, kann ich sie im Rätsel verwenden. Die Wahrnehmung durch unsere fünf lebendigen Sinne ist also die erste und unabdingbare Voraussetzung aller poetischen Produktion.
Während wir am Feldrand sitzen, atmen wir die uns umgebende Natur, suchen wir mit den Augen nach den Formen und Farben der Wolken, hören unsere Ohren die Vögel und den Wind, wie er durchs Kornfeld fährt, tasten unsere Hände und Füße und unsere Haut den Grashalm, den Stein, die Erde. Die Natur wird zur unmittelbaren Anregerin und Ideenspenderin. Ich horche auf den Klang der Worte, die den Kindern lieb sind. Ich achte darauf, dass sie ihren eigenen Wortvorrat benutzen und stecke ihnen nicht mehr meine Erwachsenenworte in die Tasche. Ich bin nur noch Zuhörer, Reisegefährte auf einer spannenden Expedition ins Paradies der Wörter.
Jeanette, 10 Jahre:
Rätsel
Das Ding, was ich suche,
liegt ganz weit oben am Himmel.
Wenn du genau hinsiehst,
erkennst du vielleicht einen Schimmel.
Es ist weiß oder grau.
Wenn es nicht da ist,
ist der Himmel blau.
(die Wolke)
Claudia, 10 Jahre:
Rätsel
Manchmal sind ganz viele davon da.
Manchmal ganz wenig.
Oder gar keine.
Man kann hindurchfahren.
Aber sie nicht in die Hand nehmen.
Sie sind grau oder weiß.
Abends sind sie weg.
Aber dafür kommt etwas Anderes.
(die Wolken)
Tag 3: Die Verwandlung
Am dritten Tag beginnt die Verwandlung. Wir haben eine gewisse Sicherheit im Umgang mit der uns umgebenden Wirklichkeit gewonnen. Wir wissen, wie das Gras auf der Wiese riecht, wie der Käfer zappelt. Unsere Handflächen haben Steine berührt, ertastet, festgehalten. Wir sind mit den Augen über den Horizont und die Wipfel der Bäume gefahren. Das Zirpen der Grillen, das Summen der Mücken, der Ruf des Vogels hat unser Ohr erreicht. Wir wissen, dass wir mit unseren Füßen fest auf der Erde stehen und über uns der hohe, ferne Himmel sich wölbt. Das ist die Wirklichkeit. So ist sie hier und heute und in diesem Augenblick.
Juliane Bendin, 12 Jahre:
In der Ferne
In der Ferne seh ich Berge
Sie stehen wie große Zwerge
Ich rupfe Gras
Und schaue in die Ferne
Dort seh ich Kühe, Wälder
Wiesen und Felder
Ich höre den Grillen zu
Die ganz nah und doch
Ganz weit von mir zirpen
Ich atme frische Luft ein und aus
Ich schaue in den Himmel und
Sehe viele lustige Wolkenschäfchen
Hier draußen
Riecht man die Natur
Und nun nehmen wir uns die Freiheit, diese Wirklichkeit auf den Kopf zu stellen. Wir sind die Zauberer. Die Verwandlung beginnt. Ich will, dass die Kinder diesen Vorgang bewusst erleben. Sie sollen den Mechanismus kennen, ihn bewusst gebrauchen. Dazu brauche ich ein äußeres, sichtbares Zeichen dafür. Bei einem Spaziergang stoße ich zufällig darauf: Eine Schranke aus Holz, die den Weg zur Kiefernschonung versperrt.
Diese Schranke benutze ich am nächsten Tag als Schwelle ins Zauberland. Vor der Schranke sind wir die, die wir in Wirklichkeit sind. Öffnen wir die Schranke oder klettern wir darüber, verwandeln wir uns in jedes beliebige Tier oder irgendeinen beliebigen Gegenstand. Die Verwandlung soll dann in einer kleinen Geschichte beschrieben werden. Während wir den Weg zur Schranke gehen, mache ich drei kleine Vorübungen mit den Kindern. Ich nenne sie wieder „Kopfgymnastik“, und die Kinder wissen schon, was gemeint ist.
Kopfgymnastik
Übung
Wir gehen ein Stück Weg und merken uns alle Dinge, die unsere Augen sehen. Dabei sprechen wir kein Wort und konzentrieren uns ganz stark auf das Sehen.
Eingesammelt werden:
Bäume – Büsche – Gräser – Löwenzahn – Brennnesseln – Disteln – Kletten – Steine –
Fliegen – Blumen – Insekten – Spinne – ein junger Baum – Brennnesselwiese – Vogelbeerenbusch – Fliederbusch – Sand – Bettina – Schmetterling
Übung
Wir betrachten den Wald in der Ferne und überlegen, was hinter dem Wald sein könnte.
Genannt werden:
Kühe – die Recknitz – Gräser – ein Dorf – eine Wiese mit Kühen – ein Fluss – eine Straße – ein Dorf – Weide – ein Schloss – Kühe – Wiese – Dorf – ein Bauernhof – eine Stadt – eine Bushaltestelle – eine Eisenbahn – ein Telegrafenmast – ein Graben – Zäune – ein Hexenhaus – der Aufstieg in den Himmel – der Versammlungsplatz der Rehe – eine große Wiese
Übung
Wir schreiben die ersten Sätze eines Märchens auf, das dort hinter dem Wald spielen
könnte.
Es entstehen Anfänge:
Hinter dem Wald steht ein hohler Baum, in dem wohnt eine Hexe.
Hinter dem Wald lebt ein Zauberer und der will, dass ihm die Welt gehört. Das Haus ist unsichtbar.
Hinter dem Wald steht ein Schloss. Der König heißt der König mit den Turnschuhen.
Hinter einem großen Wald ist ein Himmelsaufstieg.
Hinter einem großen Wald steht ein Zauberteich.
Hinter dem Wald steht ein Hexenhaus. Daneben ein hoher Baum. Dort führt eine Treppe hinab. Der Gang, der führt zur Hölle. Dort werden alle bösen Geister gebraten.
Hinter dem Wald ist ein Schloss, darin ist ein Gang, der führt zum Himmel. Der König heißt König Biest.
Hinter dem großen Wald steht ein vom Blitz zersplitterter Baum. Wenn Du hinaufsiehst, entdeckst du ein großes Tor. Davor fliegen viele Engel.
Ein Schloss steht hinter dem Wald mit einer Prinzessin. Die heißt Prinzessin.
An der Schranke angekommen, erkläre ich ihre Bedeutung. Die Kinder gehen sofort darauf ein. Wir treffen eine gemeinsame Verabredung zu einem Spiel. Diese Verabredung wird akzeptiert und macht ihnen Spaß. So entstehen die Verwandlungsmärchen:
Doreen Detloff, 10 Jahre:
Die Verwandlung
Ich ging spazieren. Plötzlich sah ich eine Schranke. Ich lief hin und kroch durch. Dann ging ich ein paar Schritte weiter. Da sah ich ein Haus und ging hinein. Es war niemand zu Hause.
Plötzlich kam eine alte Frau mit sehr vielen Tieren: Einem Geparden, einem Goldhamster und zwei Katzen. Sie ging in das Haus. Und sie sah mich.
Die alte Frau sagte einen Zauberspruch auf. Ich wurde ein Hund. Es wurde langsam dunkel. Wir wurden in einen dunklen Stall gesperrt. Die Tiere erzählten mir alles. Noch in der gleichen Nacht versuchten wir zu fliehen. Aber die Alte bemerkte es. Wir wurden wieder in den dunklen Stall gesperrt.
Plötzlich entdeckten wir einen Ritz in der Stalltür. Wir brachen noch ein Stück ab, dass wir alle durchpassten.
Wie liefen zur Schranke, einer machte sie auf und wir wurden wieder Kinder.
Felix Hofmann, 11 Jahre:
Ich bin ein Haar
Ich verwandle mich in ein Haar.
Ich bin ganz dünn und lang und wachse
ganz schnell.
Aber irgendwann muss der Mensch ja auch
zum Friseur, um sich die Haare abschneiden
zu lassen.
Deshalb geht der Mensch, auf dem ich
wachse, leider morgen zum Friseur.
Heute ist mein Todestag gekommen.
Der Mensch will eine Glatze haben.
Marena Bars, 11 Jahre:
Ich bin ein Grashalm
Ich bin ein Grashalm und der kleinste von
der ganzen Wiese. Die großen Grashalme
lachen mich aus. Aber da kommt ein Rasenmäher und schneidet die großen Grashalme ab. Zum Glück werde ich nicht ab-
gemäht. Nun bin ich der größte von allen.
Jetzt lache ich alle aus und die anderen
schämen sich sehr.
Grit Schumacher, 10 Jahre:
Ich träume
Ich träume, ich würde eine Wolke sein.
Dann würde ich mich in viele Dinge ver-
wandeln. Ich würde mich nicht vor die
Sonne schieben, damit sie das Wasser zum
Baden wärmen kann.
Im Winter würde ich Schnee herunter
schicken.
Ja, einen Tag möchte ich gerne mal eine
Wolke sein.
Tag 4: Ein Tag zum Träumen
Der vierte Tag und beinahe letzte Tag wird von uns als „Tag zum Träumen“ bezeichnet. Es entstehen unterschiedliche Texte, deren Inhalt und Form jeder selbst bestimmt. Die Motivation ist nur die Lust am Spiel mit den Wörtern oder die Lust auf das Aufschreiben von Gedanken und Gefühlen. Dazu suchen wir uns den schönsten, behaglichsten Platz in der Natur. Durch die Nähe des Wassers entstehen einige Wassermärchen. Jannette hat Lust auf komische Tierverse, Bettina reimt ein Tieralphabet, einige Kinder zeichnen ihr Selbstporträt.
Alle Gedichte von Janette, 10 Jahre:
Der Tintenfisch
Der Tintenfisch
Kunterbunt
der isst sich dick und rund.
Der lustige Fisch
Die Sardine
klettert an der Gardine.
Die faule Katze
Die faule Katze
liegt auf der Matratze.
Das Hermelin
Das weiße Hermelin,
wandert bis Berlin.
Am Abend und am nächsten, letzten Vormittag stellen wir unsere Textbücher zusammen.
Jeder hat sein eigenes Exemplar. Auf dem Titel sind ein Selbstporträt und die Aufschrift „MEIN BUCH“. Dieses Original nimmt jedes Kind mit nach Hause. Im Gepäck haben die Kinder aber mehr: Die Erfahrung, dass man in einer aufgeschlossenen, kreativen Gemeinschaft richtige kleine Geschichten und Verse schreiben kann und dass man dazu nicht mehr braucht, als ein waches Auge, ein empfindliches Ohr, fühlende Hände, die Bereitschaft, über alles nachzudenken, seinen Sinn zu suchen, sein Bild zu entschlüsseln oder auch selbst zu schaffen.
Die Kinder sind vier Tage lang Schöpfer gewesen. Wir als Erwachsene haben sie dazu immer wieder ermuntert, haben ihnen ihre Kraft bewusst gemacht, herauszufinden versucht, worin ihre eigentümlichen, individuellen Fähigkeiten lagen und diese unterstützt. Die Kinder sind keine anderen geworden, aber sie sind mehr sie selbst als vorher.
Es war eine Kunst zum Anfassen, die wir betrieben haben, kein heiliges Mysterium. Sie ist entstanden, indem wir auf besondere Weise zusammenlebten. Unser Zusammenleben war durch eine gemeinsame Tätigkeit bestimmt, die eindeutig künstlerischen Charakter trug und die wir hochschätzten. Jeder freute sich mit, wenn dem anderen ein besonders komischer Vers gelungen war oder eine zauberhafte Geschichte. Immer wieder, jeden Vormittag und Nachmittag lasen wir in großer Runde die entstandenen Texte vor.
Genauso wurde Anteil genommen, wenn Doreen vor Heimweh Bauchweh bekam und weinte oder die Jungs Decken für ihren Zeltbau brauchten. Wir erfanden das „Stadträuberknobelspiel“, saßen am Lagerfeuer, tanzten und gruselten uns schrecklich bei der Nachtwanderung, wo richtige Wildschweine schnauften.
Über manches, was wir im Laufe des Tages erlebten, würden sich Texte schreiben lassen – jetzt, wo man wusste, dass die Wörter dafür im Kopf schlummerten und nur heraus geschüttelt zu werden brauchten. Wo man nur einen guten Ort, ein besonderes Licht der Sonne dafür brauchte, um schreiben zu können.
Überall, denke ich, in jedem Augenblick, kann Poesie entstehen, wenn ich nur wach und bereit genug für sie und ihre Zauberkraft bin.
Illustrationen: Catrin Welz-Stein
Eva Maria Kohl, Autorin und Professorin für Grundschuldidaktik/Deutsch, lebt in Halle.