Offene Arbeit in Zeiten der Pandemie

„Kinder machen bei der Bekämpfung des Infektionsrisikos gut mit. Sie verabschieden ihre Eltern an der Kita-Eingangstür, lassen sich in Gruppen einteilen, halten Abstand und waschen sich oft die Hände. Die Gefahr, dass dabei lebenswichtige Bedürfnisse nach Verbundenheit, Autonomie und Sicherheit zu kurz kommen, wird kaum thematisiert“, stellte man im Netzwerk Offene Arbeit Berlin/Brandenburg (NOA) fest. Christiane Feuersenger berichtet von den Erfahrungen, Positionen und Vorschlägen des Netzwerks.

Den Artikel gibt es als PDF hier: offene arbeit_wamiki_#5_2021

Dass 24 Kinder und eine Fachkraft in einem Raum besser geschützt sind als 25 Menschen in einem Bereich aus zwei oder drei Räumen plus Flur, ist lediglich eine Annahme. Kinder, die wählen können, verkrümeln sich zum Spielen in Zweier- oder maximal Fünfer-Gruppen. Müssen sie sich allerdings zum Morgenkreis versammeln, sollte man eher diese Praxis in Frage stellen, denn von sich aus kommen kleine Kinder selten in großen Gruppen zusammen.

Nach der zweiten Welle der Pandemie mehrten sich Stimmen, die die Einbindung der Träger und der Leitungen vor Ort in die Erarbeitung von Maßnahmen anmahnen und Partizipation der Kinder gerade in dieser Zeit fordern: „Kinder und Jugendliche dürfen nicht zu Verlierern der Corona-Krise werden – sie haben ein Recht auf Beteiligung, Kinderschutz, chancengerechte ganzheitliche Bildung und soziales Miteinander.“ Ihnen ist „die Mitgestaltung ihres Alltags und das Erleben von Selbstwirksamkeit dringend wieder zu ermöglichen.“1

Und der Geschäftsführer der Deutschen Liga für das Kind, Jörg Maiwald, verwies darauf, dass der Vorrang des Gesundheitsschutzes in der ersten Phase der Pandemie, also die vollständige Schließung der Kitas, Schulen und Horte, zwar nachvollziehbar war – aber danach? Erst zu Beginn des Jahres 2021 drangen Berichte über die seelischen Belastungen der Kinder in die Öffentlichkeit.

Das Grundproblem: Seit Langem und bis heute werden Kinder in Kita und Schule vor allem als Objekte von Bildung gesehen. Die Schließung dieser Einrichtungen wurde vor allem beklagt, weil Wissenslücken schwer auszumerzen wären und die Kinder mangelhaft auf den Übergang in die Schule vorbereitet seien. Horte wurden in der öffentlichen Wahrnehmung fast vollständig ausgeblendet, obwohl auch sie lange Zeit Notbetreuung anboten. Immerhin ist die Tatsache, dass jede Schule in Berlin jetzt Schulsozialarbeiter einstellen kann, ein Hoffnungsschimmer.

Die Interessen der Kinder und das Infektionsrisiko

Corona-Verordnungen haben die Praxis der Offenen Arbeit erschwert. Der Bewegungsradius der Kinder und damit ihre Entscheidungsfreiheit wurden beschränkt. Das kann man beklagen oder dagegenhalten, denn die Prinzipien der Offenen Arbeit – Achtsamkeit, Differenzierung, Selbstbestimmung und Partizipation – werden durch Hygieneverordnungen nicht außer Kraft gesetzt. Gerade jetzt gewinnen sie an Gewicht, weil es darum geht, nicht nur die körperliche Gesundheit der Kinder im Blick zu haben, sondern auch für ihre seelische Gesundheit zu sorgen. Diese ganzheitliche Sicht geht verloren, wenn wir Erwachsene uns nicht für die Interessen der Kinder stark machen, sondern uns daran gewöhnen, dass Absperrbänder im Garten den Bewegungsdrang und das freie Spiel einschränken, obwohl die Ansteckungsgefahr draußen wesentlich geringer ist und Kinder sich von „Natur aus“ nicht freiwillig in großen Gruppen zusammenfinden. Warum wird das dennoch getan? Weil der Träger es anordnet, weil die Hygieneverordnung es vorschreibt und so weiter. Wieso werden neue Erkenntnisse der Wissenschaft, zum Beispiel der Aerosolforschung, ignoriert, wenn es um Kinder geht?

Die Schere im Kopf

In der 36. Trägerinformation der Berliner Senatsverwaltung, herausgegeben im März 2021, heißt es: „Die Betreuung muss, soweit organisatorisch umsetzbar, in getrennten und stabilen Gruppen stattfinden.“ Wer bestimmt, wie groß stabile Gruppen sind und in welchem Rahmen sie sich bewegen? „Stabile Strukturen“ müssen keineswegs nur einen Raum umfassen.

„Ein Raum, eine Gruppe“, dieses althergebrachte Muster hat sich in den Köpfen vieler Erwachsener tief eingenistet – mit oder ohne Corona.

Was organisatorisch umsetzbar ist, bestimmen jeder Träger und jede Kita. Sind Erwachsene in den Trägerorganisationen und Kitas von der Vorstellung beherrscht, alle Hygiene-Empfehlungen umzusetzen, obwohl sie oft widersprüchlich waren und an den Lebenssituationen in der Kita vorbeigingen, gerät das Wohlbefinden der Kinder aus dem Blick. Deshalb vermutet der Dachverband der Berliner Kinder- und Schülerläden, dass dort Experten am Werke sind, die vom Kita-Alltag keine Ahnung haben.2 So konnte es dazu kommen, dass in den offenen Häusern bei wachsender Kinderzahl mehr Kinder für längere Zeit zusammen sein mussten, als sie das normalerweise waren. Es konnte passiere, dass Sechsjährige den Tag in der Kita mit einjährigen Geschwisterkindern verbringen mussten, obwohl sie das nicht wollten. Ganz bitter traf es die Jüngsten, die sich plötzlich in einer „Geschwistergruppe“ mit wesentlich älteren Kindern wiederfanden und gleichaltrige Spielpartner suchten.

Wer hinderte uns, die Kinder zu fragen, mit welchen Freunden sie zusammen sein wollen, und das auch weitestgehend zu berücksichtigen, bevor wir sie in Gruppen einteilen? Wer hinderte uns, viel stärker „in Bereichen zu denken“, Kindern mehrere Räume und damit Wahlmöglichkeiten zur Verfügung zu stellen? Wer hinderte uns, neue Rückzugsorte oder Bewegungsmöglichkeiten zu suchen, die Ideen der Kinder aufzugreifen und gemeinsam mit ihnen umzuräumen?

Alle Eltern haben FFP2-Masken. Warum müssen sie ihre Kinder immer noch vor der Tür abgeben? Besonders für die Jüngsten kann das jeden Morgen Stress bedeuten. Das dürfen wir nicht hinnehmen. Und warum werden Kinder strenger behandelt als Erwachsene? Wenn in den Schulen zwei- bis dreimal wöchentlich getestet wird, wenn alle Arbeitgeber verpflichtet sind, ihren Mitarbeitern Tests zur Verfügung zu stellen, wenn das Kita-Personal geimpft ist oder sich regelmäßig testen lässt, sinkt das Infektionsrisiko doch.

Nun „schwimmen“ wir auf der vierten Welle der Pandemie. Ex-Gesundheitsminister Jens Spahn sagte in einer Pressekonferenz, dass es vieles geben werde, was wir einander zu verzeihen haben.

Können die Kinder uns verzeihen?

Tun wir jetzt alles, was im Kindergarten möglich ist, damit es nichts mehr gibt, was Kinder uns verzeihen müssen? Dazu brauchen wir Mut und Fantasie, fanden die Mitglieder des NOA Berlin-Brandenburg, als wir uns anlässlich unseres 20. Jubiläums trafen. Wir erzählten einander, was Corona mit Kindern, Eltern, Erzieherinnen und Erziehern gemacht hat, und waren uns einig, dass die Kinder einen harten Eingriff in ihr „Kind- Sein“ verkraften müssen, eine enorme Einschränkung ihrer gelebten Freiheit im Offenen Kindergarten. Folgende Impulse zum Weiterdenken hielten wir fest:

• Die Kinder mussten ihre eigenen Ängste und die der Erwachsenen ertragen. Sie brauchen dringend die Botschaft, weder Organisationsobjekte noch eine Infektionsgefahr zu sein, sondern Menschen, die in ihrem Kind-Sein akzeptiert werden und deren Ideen gefragt sind, wenn es um Veränderungen in ihrem unmittelbaren Umfeld geht. Sie brauchen ihre Kita als Ort der Lebensfreude, der Verantwortung und der Solidarität.

• Kinder kommen nicht wegen der Erzieherinnen und Erzieher in die Kita, sondern wegen ihrer Freunde.

Zum Glück gab es mutige, verantwortungsvolle Erwachsene in der Kita und bei den Trägern, die immer wieder eine sinnvolle Balance zwischen der Minderung des Infektionsrisikos und den Interessen der Kinder herstellten, sie vor unsinnigen oder ethisch fragwürdigen Maßnahmen schützten. Zum Beispiel vor der mehrmaligen wöchentlichen Nasentestung in der Kita.

Die Macht der Worte

Während der Pandemie veränderte sich unsre Sprache. Begriffe wie „systemrelevante Eltern“, „Einteilung nach Kohorten“ und „Kinder als Virenschleudern“ sickerten in den Lebensort Kita ein. Die ganz konkreten Menschen, große und kleine, mit ihren individuellen Bedürfnissen verschwanden dahinter. Hatten diese Worte die Macht, uns pädagogische Fachkräfte zu bewegen, die „Schere im Kopf“ zu benutzen und den Widerstand gegen vorauseilenden Gehorsam aufzugeben? Die Bildungsprogramme, die Kinderrechte schienen außer Kraft gesetzt, das Wohlbefinden der Kinder schien dem Bedürfnis der Erwachsenen nach Sicherheit und Kontrolle geopfert zu sein.

Was Kinder, Eltern und Fachkräfte brauchen

Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter wies auf solche Fehlsteuerungen hin.3

Also vergegenwärtigten wir uns im NOA, was Kinder gerade jetzt brauchen:

• Kinder wollen so wahrgenommen werden, wie sie sind, und nicht so, wie wir sie gern hätten.
Sie machen mit ihren Mitteln darauf aufmerksam.
So suchten ältere Kinder bewusst Gespräche mit Erzieherinnen oder Erziehern.

• Dringender denn je brauchen Kinder eine feinfühlige Sprache und ein offenes Ohr wohlwollender, zugewandter Erwachsener.

• Kinder wollen ihr Leben in der Kita vorwiegend in selbstgewählten kleinen Gruppen gestalten. Wir müssen diese Kindergruppen und die Freundschaften zwischen Kindern stärker schützen und respektvoll begleiten. Beziehungen, die dabei entstehen, sind unersetzbar und Ausdruck gelebter Freiheit in der Offenen Kita.

Und was brauchen die Eltern? Sie geben den Fachkräften einen Vertrauensvorschuss. Wie zeigte sich das in Pandemie-Zeiten?

Wo Eltern und Kita-Teams schon vor Corona vertrauensvoll zusammenarbeiteten, gelang das auch während der Pandemie. Es gab Familien, die diese Zeit entspannt und gelassen mit ihren Kindern verbringen konnten, und Familien, die auf Grund schwieriger Bedingungen dringend Hilfe benötigten. Aber es gab auch Familien, zu denen der Kontakt abbrach, obwohl sie ihn wahrscheinlich dringend gebraucht hätten.

Eltern wollen gesehen werden. Deshalb ist es in diesen Zeiten notwendig,

• familiengerechte Bringe- und Abholsysteme zu ­schaffen;

• Familien regelmäßig anzurufen, mindestens ein Mal in der Woche, Briefe zu schreiben oder Video­botschaften zu verschicken;

• Kinder, die in problematischen Verhältnissen leben, bewusst in die Kita zu holen.

Beim NOA-Treffen tauschten wir uns auch darüber aus, was wir Fachkräfte in der Offenen Arbeit brauchen:

• Wo Teams um kreative Lösungen rangen, stärkte das ihren Zusammenhalt. Dachte man gemeinsam nach, fanden sich meist Lösungen, Vertrauen wuchs und die Selbstwirksamkeit der Teams nahm zu. So entstand zum Beispiel die Idee, Elterngespräche als „dialogische Spaziergänge“ durchzuführen.

• Gemeinsame Reflexionen in den Teams und im Netzwerk vermittelten Sicherheit, gaben Mut und Zuversicht.

• Regelmäßige Supervision kann den Austausch darüber, wie die pädagogischen Fachkräfte mit ihren Ängsten vor einer Corona-Infektion und mit den Ängsten der Eltern umgehen, begleiten und ist ein Ausdruck von Professionalität.

Fazit

Wir sollten nicht zur Tagesordnung übergehen, sondern auf die besondere seelische Situation der Kinder, auf ihre positiven und negativen Erfahrungen in der Pandemie reagieren, die Kind-Zentrierung in der Offenen Arbeit stärken und den Kindern Freiheit geben. Ideen, die in diesem Zusammenhang entstehen, kann man in der Konzeption festhalten, damit sie zur Arbeitsgrundlage des ganzen Teams werden.

Außerdem wird es Zeit, mal wieder ein Fest zu feiern. Fragen wir die Kinder, worauf sie Lust haben. Ihre Ideen und Wünsche können sie aufmalen oder erzählen, und wir schreiben sie auf. So entsteht ein „Wunschkonzert“ der Kinder – gerade jetzt. Bis Weihnachten warten wir damit nicht!

—————-

1 Siehe: Positionierung des Landesfachausschusses der AWO „Kinder, Jugend, Familie“ zur Corona-Krise. Bayern, August 2020

2 Vgl. „Bloß kein Chaos auf dem Rücken der Kinder“, Berliner Zeitung, 21. 5. 2020

3 Bundesarbeitsgemeinschaft Landesjugendämter: Thesen zu den ­Auswirkungen der Corona-Krise auf Kinder und junge Menschen. Berlin, Oktober 2020

 

Fotos: zettberlin, David W. / Photocase

Einen Kommentar schreiben

Deine Email-Adresse wird nicht veröffentlicht. Pflichtfelder sind mit einem * markiert.