Partizipation im Kita-Alltag – Ideen aus der Praxis
Hier gibt es den Artikel als PDF: Partizipation Kitaalltag_#wamiki_1_2022
Wir Erwachsene können in unserem Leben viel entscheiden. Besonders in alltäglichen Situationen, zum Beispiel wann wir schlafen gehen, was und wie wir essen, wie oder wo wir unsere Freizeit verbringen und wen wir treffen. Das ist ganz normal für uns.
Vergleichen wir das mit dem Alltag der Kinder, dann wird klar: Es ist ein Privileg, das nicht alle Menschen haben. Kindern wird das Recht der Beteiligung und Selbstbestimmung oft abgesprochen. Insbesondere alltägliche Entscheidungen traut man Kindern nicht zu, weil Erwachsene es vermeintlich besser wüssten.1
Allerdings enthalten die rechtlichen Grundlagen und das aktuelle Bildungsverständnis klare Maßgaben für Kindorientierung und Partizipation. Entwicklungspsychologische Erkenntnisse untermauern das und belegen nicht nur, dass Kinder schon im frühesten Alter über sich selbst bestimmen wollen, sondern dass sie das auch können und damit Erfahrungen von Ganzheit, Vitalität und Freiwilligkeit machen.2 Mit Blick auf die UN-Kinderrechtskonvention, insbesondere Artikel 12, und auf Paragraf 8 SGB VIII sind Kinder Rechtsträger. Sie haben das Recht, in allen Angelegenheiten mitzuentscheiden, die sie betreffen. Erwachsene hingegen tragen Verantwortung: Sie müssen dafür sorgen, Kindern diese Mitsprache zu ermöglichen – egal, wie alt die Kinder sind. Denn: „Kinder lernen in einer partizipativen Umgebung mehr und entwickeln sich kognitiv, sozial, emotional und motivational besser.“3
Zum einen können Kinder demokratierelevante Kompetenzen nur im alltägliche Erfahren und Handeln entwickeln. Zum anderen hängt die Kompetenz von Kindern bezüglich ihrer Mitbestimmung und Verantwortungsübernahme vom Grad der Selbstbestimmung ab, den sie in ihrem Umfeld erleben.4 Weil Toleranz und Demokratiebildung bei den Jüngsten in der Gesellschaft beginnen, hat die Kindertagesbetreuung neben der Familie besonderen Stellenwert. Denn auch hier geht es darum, mit Kindern das Zusammenleben in einer vielfältigen Gesellschaft zu gestalten.5
Für das Erleben von Beteiligung und Selbstbestimmung sind Alltagssituationen besonders relevant.6 In solchen Situationen erleben Kinder, ob ihre Sicht auf ihre ureigenen Themen beachtet oder ob über ihre Köpfe hinweg entschieden wird. Meist gibt es routinierte Abläufe, Beteiligung und Selbstbestimmung stehen eher seltener im Fokus der konzeptionellen pädagogischen Planung. Deshalb wird ihnen wenig Zeit und Aufmerksamkeit geschenkt.
Auf der Fachtagung „Partizipation im Kita-Alltag“, die am 19. und 20. August 2021 im Jugendbildungszentrum Blossin stattfand, setzten sich die Teilnehmenden – pädagogische Fachkräfte, Leiter*innen, Praxisberater*innen, Wissenschaftler*innen und weitere Expert*innen – intensiv mit Schlüsselsituationen im Alltag auseinander. Dazu gehörten: Essen, Schlafen, Körperhygiene, Bilderbuchbetrachtung, Widerstand und Beschwerden. Die Beteiligten trugen Fachwissen, Erfahrungen, Praxisideen und -impulse zusammen. Die Ergebnisse erscheinen im März 2022 bei wamiki (siehe S.32). Im nachfolgenden Beitrag dokumentieren wir Erfahrungen und Praxisideen zum Umgang mit kindlichem Widerstand und Beschwerden.
Widerstand und Beschwerden im Kita-Alltag
Beschwerden jeglicher Art begegnen einem Menschen, ob groß oder klein, im Alltag immer wieder. Meist rücken die Beschwerden in den Fokus der Aufmerksamkeit, die am lautesten verbalisiert werden. So ist es auch in der Kita. Ein Schreien, ein Weinen, der Blick eines anderen Kindes – jegliche Beschwerde-Formen müssen von den Fachkräften wahrgenommen werden. Aber wie kann das im Alltag gelingen? Wie umgehen mit kindlichem Widerstand und Grenzverletzungen durch Erwachsene?
Definiert wird eine Beschwerde meist als Äußerung von Unzufriedenheit mit einer Person oder einer Situation. Verschiedenste Ursachen können zu einer Beschwerde führen, denn die Erwartungen und Bedürfnisse eines jeden Menschen sind individuell und können von den Vorstellungen abweichen, die das jeweilige Gegenüber hat.
Beschwerden können grob in zwei Arten unterteilt werden. Es gibt Verhinderungsbeschwerden: Ein Kind möchte eine bestimmte Handlung der Fachkraft vermeiden. Und es gibt Ermöglichungsbeschwerden: Ein Kind möchte etwas Bestimmtes erreichen, beispielsweise eine Veränderung, um eine neue Situation herbeizuführen.7
Ein Beispiel:
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„Wir hatten mal so eine Situation: Ein Junge wollte seine neue Bommelmütze unbedingt beim Essen tragen. Schon länger gab es die Regel, dass Mützen oder Käppis nicht drinnen und erst recht nicht am Tisch getragen werden dürfen. Dem Jungen war die Mütze an diesem Tag aber total wichtig, und er wollte sie partout nicht abnehmen. Meine Kollegin sprach mit ihm. Er weinte und sagte, er will sie aufbehalten. Toll, dass er das so klar zeigte. Da wusste die Kollegin nicht mehr weiter. Sie wollte ihn ja nicht zwingen.
Ich kniete mich zu dem Jungen und fragte, warum ihm das mit der Mütze so wichtig ist. Sein Papa hatte sie ihm wohl geschenkt. Weil seine Eltern getrennt sind, war das etwas ganz Besonderes. Für mich war das ein Aha-Moment, denn ich verstand, was dahintersteckte. Ich erklärte dem Jungen, warum uns das mit den Mützen wichtig ist, und sagte, dass ich mit der Kollegin sprechen werde und wir gemeinsam eine Lösung finden werden.
Schließlich machten wir die Sache mit allen Kindern zum Thema, und sie konnten sagen, wie sie es sehen. Viele Kinder waren tatsächlich mit unserer Mützen-Regel nicht einverstanden. Mir leuchtete das ein. Aber für einige Kolleginnen gehörte es zur Tischkultur, keine Mützen zu tragen. Der Kompromiss: Wir einigten uns auf einen Mützentisch, an dem Mützen getragen werden dürfen. An diesem Tische saß auch ich dann, weil mich Mützen nicht störten. Ich fand es toll, dass wir das zusammen besprochen hatten und gemeinsam die Lösung fanden.“
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Im Praxisbeispiel ist klar zu erkennen, dass die Beschwerde des Jungen, der seine Mütze nicht abnehmen will, einen tiefer liegenden Hintergrund hat, also nicht mit dem Einhalten einer Regel zusammenhängt. Daher ist es umso wichtiger, dass Fachkräfte einen Raum schaffen, in dem Kinder die Möglichkeit haben, ihr Recht in Anspruch zu nehmen und zu äußern. Dies wird im Praxisbeispiel zu Dialog und Haltung (siehe unten: Ideen und Impulse aus der Praxis) ebenfalls deutlich.
Fachkräfte müssen ihre eigene Haltung und das daraus resultierende Verhalten selbst und im Team reflektieren. Oft ist nicht klar ersichtlich, dass eine Handlung oder eine Interaktion mit einem Kind bereits Grenzen verletzt oder übergriffig wirkt. Im Abschnitt Grenzverletzungen von Erwachsenen (siehe unten ) regen Praxisbeispiele dazu an, sich dem Thema im Team zu widmen. Darüber hinaus kann es sinnvoll sein, es in Elterngesprächen aufzugreifen oder einen Themenelternabend dazu zu veranstalten. Auch Eltern profitieren davon, sich damit auseinanderzusetzen.
Im Jahr 2012 trat das Bundeskinderschutzgesetz in Kraft. Darin wurden geeignete Beteiligungs- und Beschwerdeverfahren für Kinder gesetzlich verankert. Das unterstreicht den Auftrag der Pädagog*innen, Kinder dabei zu unterstützen, ihre Rechte zu erkennen, wahrzunehmen und angstfrei mit anderen Menschen zu kommunizieren, so dass sie in der Lage sind, sich selbst zu schützen. Denn zunehmend lernen sie, ihre Gefühle wahrzunehmen, zu verbalisieren und sich in andere Personen hineinzuversetzen.
Eine Beschwerde wird oft als unangenehm empfunden. Doch ein Perspektivwechsel ermöglicht zu erkennen, dass eine Beschwerde auch die Chance für Veränderung enthält. In den Bereichen Beschwerdekultur und Entscheidungen vorbereiten und treffen finden sich Praxisbeispiele, die zeigen, wie ein Beschwerdeverfahren durchgeführt werden kann.
In einer Beschwerde steckt immer ein Entwicklungspotenzial für die Fachkräfte, die Einrichtung und die beteiligten Kinder. Dies gilt es zu erkennen, sich von festen Strukturen freizumachen und sich auf das Miteinander zu konzentrieren, insbesondere in der Kommunikation. Dabei ist eine feinfühlige, achtsame Art der Fachkraft gefragt, denn Kinder äußern ihre Beschwerden nicht nur verbal, sondern auch nonverbal.8 Die Praxisideen im Abschnitt Nonverbale Prozesse (siehe S.33) geben erste Anregungen dazu.
Beschwert ein Kind sich, muss die Fachkraft das zeitnah aufgreifen, dem Kind einfühlsam und wertschätzend Verständnis zeigen und nachfragen: Worum geht es dir? Was ist dir wichtig? Nimmt sie eine fragende Haltung ein, ermöglicht sie dem Kind, seine Gedanken und Gefühle in eigene Worte zu fassen. So erlebt das Kind, dass es gehört und gesehen wird, dass seine Ideen und Vorstellungen berücksichtigt werden.
Kommen Fachkraft und Kind in einen Austausch über die Beschwerde und entwickeln eine Lösung, muss diese Lösung im Kitaalltag verbindlich umgesetzt werden. Nur so entsteht für das Kind Verlässlichkeit.
Der Prozess der Problemlösung sollte für das Kind so transparent wie möglich gestaltet werden. Ist es über alle Einzelheiten des Prozesses informiert, bleibt der Prozess transparent, und das sorgt für eine Vertrauensbasis.9
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1 Der Fachbegriff für das Besserwissen aufgrund des Alters ist Adultismus.
2 Ryan/Deci, 2000; Ryan u. a., 2006
3 Hildebrandt/Wronski, 2022
4 Webb-Williams, 2006; Pajares/Schunk, 2001
5 16. Kinder und Jugendbericht, BMFSFJ, 2020
6 Hildebrandt et al., 2020
7 Backhaus/Wolter, 2019
8 Schubert-Suffrian, 2014
9 Schubert-Suffrian, 2014
Quellen
Backhaus, A., Wolter, B. (2019): Wenn Diskriminierung nicht in den Kummerkasten passt. Eine Arbeitshilfe zur Einführung von diskriminierungssensiblen Beschwerdeverfahren in der Kita.
Verfügbar unter: https://kids.kinderwelten.net/de/50%20Publikationen/kids_arbeitshilfe.pdf?download
Gesetz zur frühen Bildung und Förderung von Kindern (Kinderbildungs-
gesetz – KiBiz). Viertes Gesetz zur Ausführung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes – SGB VIII – in der ab 1. 8. 2015 geltenden Fassung. Paragraf 13, Abschnitt 6
Schubert-Suffrian, F., Regner, M. (2014): Beschwerdeverfahren für Kinder. kindergarten heute praxis kompakt. Herder, Freiburg
wamiki-Tipp: Alice Hildebrandt, Melanie Julia Wiemann, Katrin Macha, u. M. v. Nadin Klüber, Frauke Hildebrandt (Projektleitung)
PARTIZIPATION IM KITA-ALLTAG
Impulse aus der Praxis
48 Seiten,
ISBN 978-3-96791-016-2,
9,90 Euro,
Erscheint bei wamiki im März 2022
www.wamiki.de/shop
Ideen und Impulse aus der Praxis
Dialog
„Ich finde es wichtig, wirklich in den Dialog zu gehen, und zwar auf Augenhöhe. Also dem Kind tatsächlich zuzuhören, Raum zum Erzählen zu geben, eine fragende Haltung einzunehmen und nicht vorschnell zu urteilen oder Lösungen anzubieten. Es gibt einen Grund für die Beschwerde, und es ist wichtig, gemeinsam auszuhandeln, wie man das Problem lösen will.“
„Manchmal ist es sinnvoll, die Kinder gezielter in die Ideenfindung einzubeziehen. Wenn es ein Problem in der Gruppe gibt, dann fragen wir, wer Lust hat, nach Lösungen zu suchen. Erst letztens stritten sich die Kinder um die Dreiräder, weil wir nur ein paar haben, aber alle fahren wollten. Wir bildeten eine kleine Gruppe, die Lösungsideen suchte und allen Kindern vorstellte.“
„Bei uns gibt es in jeder Gruppe eine Kinderkonferenz. Hier können die Kinder ihre Probleme benennen, darüber diskutieren, und wir versuchen, gemeinsam Lösungen zu finden. Ein Kind ist für das Protokoll zuständig und malt alles auf. Dann werden zwei Kinder für das Kinderparlament gewählt, in dem alle Vertreter mit einem Erzieher und der Leitung zusammenkommen.“
Nonverbale Prozesse
„Wir nutzen ein Handsignal als Stopp. Wenn Kinder etwas nicht möchten, können sie das auch non-verbal mit der Hand anzeigen. Das haben wir in der Kinderkonferenz für alle Gruppen so entschieden und es in den Gruppen besprochen. Es gilt für die Kinder und auch für die Erwachsenen.“
„Manchmal ist es so, dass wir Kinder bei ihren Beschwerden begleiten. Im Sommer beschwerte ein Kind sich bei mir, dass es nur im Winter Tee gibt. Es wollte auch mal Tee trinken, wenn es draußen warm ist. Die anderen Kinder stimmten zu. Ich sagte, dass ich das nicht allein entscheide und wir mit der Kita-Leitung sprechen müssen. Ein Kind malte die Beschwerde auf, und ein anderes Kind erklärte sich bereit, mit der Leiterin zu sprechen. Ich begleitete diesen Prozess und schlug vor, wie die Kinder das machen könnten.
Grenzverletzungen durch Erwachsene
„Am letzten Teamtag sprachen wir über Grenzverletzungen und Übergriffe von Erzieherinnen. Das ist ein super Thema zum Reflektieren, denn oft ist es einem gar nicht richtig bewusst, dass man das macht. Sprachlich beginnt das schon mit ‚Immer machst du…‘ oder ‚Nie kannst du…‘. Übergeht man das Nein eines Kindes einfach, dann ist das schon Zwang. Seit ich darüber nachdenke, merke ich das immer mehr.“
„Wir haben ein Codewort im Team vereinbart. Spricht jemand von uns grenzverletzend, dann kann jemand anderes das Codewort nutzen. Das ist oft leichter, als die Sache nochmal ausführlich anzusprechen. Dadurch haben wir im Team mehr Bewusstsein geschaffen und achten alle besser darauf.“
„Im Team haben wir eine Selbstverpflichtung verfasst und unterschrieben. Darin steht, dass Kinder ermutigt werden, sich bei Grenzverletzungen zu beschweren, dass wir die Beschwerden aufnehmen, bei der gemeinsamen Suche nach Lösungen helfen und später alles reflektieren. Ich finde, so etwas schriftlich festzuhalten, das macht es irgendwie offizieller und verpflichtender.“
Beschwerdekultur
„Bei uns gibt es eine Motzmauer. Aus Papier haben wir eine Art Mauer gebaut, auf deren Steine wir Beschwerden malen und schreiben können. So werden die Beschwerden für alle sichtbar und ernst genommen. Nach und nach besprechen wir gemeinsam, was auf den Steinen steht, um die Probleme abzubauen. Man kann das auch als Beschwerdewand gestalten und die Ideen oder Lösungen später für alle transparent darstellen.“
„Ich finde es wichtig, dass man Beschwerden der Kinder wirklich ernst nimmt. Für mich bedeutet das, Beschwerden weiter zu kommunizieren, wenn die Kinder es möchten. Wir haben unsere Beschwerdeverfahren transparent gemacht, die Eltern darüber informiert und mit ihnen besprochen, warum das so wichtig ist. Denn die Kinder tragen das ja mit nach Hause, und ihr Stopp soll auch dort gehört werden.“
„Ich finde, Fehlerfreundlichkeit ist auch ein Thema, das dazugehört. Wir sind ja Vorbilder, und die Kinder lernen viel an unserem Verhalten und daran, wie wir mit den Dingen umgehen. Ich versuche deshalb immer, transparent zu sein und mitzuteilen, dass ich auch mal Fehler mache. Damit die Kinder lernen: Es ist ok, Fehler zu machen. Genauso wichtig finde ich, dass wir Kolleginnen miteinander über Fehler sprechen. Natürlich wertschätzend. Denn so eine Kultur der Fehlerfreundlichkeit und des Sich-einmischen-Dürfens macht es möglich, Probleme anzugehen und sie gemeinsam zu lösen.“