Was passiert, wenn Kita-Fachkräfte zwei Tage lang (fast) nur Ja sagen?
Hier gibt es den Artikel als PDF: Yes-Day_#2_2025
Wie oft sagen wir im Kita-Alltag automatisch Nein? Und was würde passieren, wenn wir stattdessen Ja sagen? Diese Fragen stellte sich Philip Nesemann, Auszubildender bei Fröbel, im Rahmen seiner Abschlussarbeit. Herausgekommen ist ein ungewöhnliches Experiment: Zwei Tage lang hieß es in der Berliner Fröbel-Kita Lisa-Fittko-Straße so oft wie möglich „Ja“. Nicht wahllos – sondern im Rahmen einer durchdachten Struktur, bei der Kinderrechte und Partizipation im Mittelpunkt stehen.
Warum Yes Days?
Die Idee stammt aus dem internationalen Raum und wird dort bereits in Familien und Kitas ausprobiert: Für einen oder mehrere Tage bestimmen die Kinder, was passiert – und die Erwachsenen sagen „Ja“, soweit es verantwortbar ist.
Philip Nesemann wollte herausfinden, wie viel Beteiligung im Kita-Alltag wirklich gelebt wird – gerade in einem Umfeld, das sich den Kinderrechten verschrieben hat. Wo liegen die Grenzen? Welche Rolle spielen Bequemlichkeit, Routinen, Ängste?
Vorbereitung: Ein Ja-Experiment mit Haltung
Wie reagierte das Team? Zunächst mit gemischten Gefühlen, erzählt Philip Nesemann. „Einige waren sofort dabei, andere eher noch skeptisch“, erzählt Philip. Besonders spannend: die Diskussion in der Krippe. „Wie sollen unsere Zweijährigen mitmachen?“ Doch genau darum ging es – wie kann Beteiligung auch mit den Jüngsten funktionieren?
Im Team wurde diskutiert und entschieden: Wie viele Tage? Was geht – und was nicht? Schnell war klar: Ein einzelner Tag reicht nicht. Also wurden zwei „Yes Days“ angesetzt.
Den Eltern wurde das Ganze als „gemeinsames Abenteuer“ angekündigt – mit der Bitte, das Thema nicht vorab mit den Kindern zu besprechen. Ziel: herausfinden, was die Kinder wirklich wollen – ohne elterliche Regie.
Natürlich gab es Grenzen, gemeinsam mit den Kindern wurden einfache Regeln erarbeitet: Niemand darf zu Schaden kommen, nichts darf kaputt gehen, Wünsche müssen in den Kita-Alltag passen (also nix mit Ausflug nach Paris!), und es sollen keine langfristigen Verpflichtungen entstehen („Ich wünsche mir einen Hund für die Kita“ – leider nein). So wurde ein sicherer Rahmen geschaffen, der trotzdem genug Raum für echte Entscheidungen ließ.
Yes Day 1: Noch zaghaft.
Yes Day 2: Jetzt geht’s los!
Am ersten Tag passierte nicht viel. Die Kinder konnten mit dem Konzept nicht sofort etwas anfangen. Es brauchte Impulse, Ermutigung, Ideen. Doch spätestens am zweiten Tag kippte die Stimmung. „Heute ist ein verrückter Tag!“, riefen die Kinder durch die Räume des Kindergartens. Und tatsächlich war vieles anders. Frühstück auf dem Außengelände, Mittagessen auf dem Boden oder ein Besuch in der Kita-Küche – die Wünsche der Kinder wurden ernst genommen. Es wurden Küchenräume erkundet, riesige Nudelpackungen entdeckt, Spieltürme beim Mittagessen besucht, mit den Händen gegessen, Wünsche ausgesprochen, von denen man vorher nichts ahnte. Der Blick auf die Kinder veränderte sich – ihre Interessen, ihre Bedürfnisse, ihre Perspektiven – alles rückte näher heran.
Was hat das Team überrascht? Philip: „Wie viel Einfluss wir Erwachsenen auf die Tagesstruktur haben – auch unbewusst. Wer mit wem isst, wann gespielt wird, was gegessen wird – das alles geben wir oft vor. Die Yes Days haben das aufgebrochen. Und plötzlich entstanden neue Routinen: Essen mit den Händen zum Beispiel. Daraus wurde eine Diskussion über kultursensible Pädagogik. Jetzt überlegen wir, ob wir das regelmäßig anbieten.“
Für das pädagogische Team war es ein Spiegel: Wann sage ich Nein – aus Sorge? Aus Zeitgründen? Oder weil es unbequem wäre, jetzt „Ja“ zu sagen? Und wann ist ein Nein notwendig – etwa aus Gründen des Kinderschutzes oder der Aufsichtspflicht?
Warum sagen wir Nein – und wann ist das sinnvoll?
Reflexion und Wirkung
Nach den beiden Tagen wurde ausführlich reflektiert: schriftlich, im Teamgespräch, mit der Leitung. Die Reaktionen? Unterschieden sich – aber alle waren sich einig: Das war wertvoll.
Einige Kolleginnen sagten: „Eigentlich sollte jeder Tag ein Yes Day sein.“
Phillipp: „Recht haben sie. Aber: Die Idee hinter dem Projekt ist, die unbewussten Neins sichtbar zu machen. Und das geht nur, wenn man den Rahmen sprengt. Deshalb wollen wir das wiederholen – vielleicht nicht sofort, vielleicht nicht jeden Monat, aber regelmäßig – als Werkzeug der Teamentwicklung und bewussten Haltungsschärfung. Wie ein Erste-Hilfe-Kurs. Nur für Haltung.“
Erste Veränderungen wurden bereits angestoßen: Eine Koch-AG wurde gegründet. Einmal im Monat kommt jemand aus dem Küchenteam in den Morgenkreis, um Essenswünsche der Kinder zu sammeln. Es gibt Überlegungen zu einem „Yes-Kalender“ mit täglichen bewussten Ja-Momenten. Denn: Nicht jedes Ja muss spektakulär sein. Aber jedes bewusste Ja zählt.
Was rät Philip anderen Teams?
„Unbedingt gemeinsam vorbereiten. Regeln klären. Haltung klären. Und: Auch mal bewusst Nein sagen – aber sich fragen: Ist das gerade wirklich nötig? Oder einfach nur bequem?“
Sein Lieblingsmoment: Ein Kollege sagt Nein zur Gitarre im Garten – weil sie oben im Raum hängt. Kurze Pause. Erkenntnis. Gitarre geholt. Gartenkonzert. „Schön war’s“, sagt Philip.
Wo setzen wir Grenzen aus Gewohnheit? Welche Möglichkeiten entgehen uns dadurch?
Fazit: Mehr Ja wagen
Die Yes Days waren kein Freifahrtschein. Sie waren ein kontrollierter Ausnahmezustand – mit Aha-Effekt.
Sie haben Routinen in Frage gestellt, Beteiligung gestärkt und Teamprozesse angestoßen.
Sie haben gezeigt, was passiert, wenn man den Rahmen dehnt. Und Kindern wirklich zuhört.
Philip Nesemann bringt es auf den Punkt:
„Yes Days zeigen nicht, wie perfekt Partizipation sein kann – sondern wie sie sich im Alltag entwickeln lässt. Ohne Zielvorgabe. Aber mit Offenheit, Reflexion – und der Bereitschaft, die eigene Praxis wirklich zu hinterfragen.“ —>
Die
Yes Days
in der Berliner Fröbel-Kita
Lisa-Fittko-Straße
… haben nicht nur gezeigt, wie viel Selbstbestimmung im Kita-Alltag möglich ist, sondern auch, wie oft Erwachsene unbewusst Grenzen setzen.
Dabei gibt es viele Gründe für ein „Nein“:
• Zeitdruck oder Stress – „Dafür haben wir jetzt keine Zeit.“
• Sicherheitsbedenken – „Das ist zu gefährlich.“
• Bequemlichkeit oder Routine – „Das machen wir immer so.“
• Sorge vor Chaos oder Kontrollverlust – „Das könnte ausufern.“
Natürlich gibt es Situationen, in denen ein „Nein“ notwendig ist – zum Beispiel aus Gründen des Kinderschutzes. Doch die Yes Days waren eine Einladung zur Reflexion: Wo setzen wir Grenzen aus Gewohnheit? Und welche Möglichkeiten entgehen uns dadurch?
Während der Yes Days wurden im Team wichtige Erkenntnisse gesammelt:
• Kinder können mehr Verantwortung übernehmen, als Erwachsene oft vermuten.
• Wenn Kinder mitgestalten dürfen, entwickeln sie Selbstbewusstsein und Eigeninitiative.
• Ein bewussterer Umgang mit Entscheidungen stärkt nicht nur die Kinder, sondern auch das pädagogische Team. Und die Familien. Denn auch zu Hause waren die Yes Days Gesprächsthema. Viele Eltern berichteten, dass ihre Kinder besonders aufgeregt aus der Kita kamen. Ein Detail fiel dabei auf: Die Kinder konnten oft gar nicht genau sagen, was sie erlebt hatten – nur, dass „alles anders war“. Für einige Familien war das Konzept so inspirierend, dass sie überlegten, es auch zu Hause auszuprobieren. Wie wäre es, wenn Eltern für einen Tag „Ja“ zu (fast) allem sagen?
Kontakt:
Fröbel-Kindergarten Lisa-Fittko-Straße
Fröbel Bildung und Erziehung gGmbH
Lisa-Fittko-Straße 9
10557 Berlin
Telefon: 030 398 949 75
E-Mail: lisa-fittko@froebel-gruppe.de
Foto: kallejipp / Photocase