Die Grande Dame der Frühpädagogik, Ilse Wehrmann, hat ein Buch zur Lage des Kita-Systems geschrieben. Warum? Und was sind die Kernbotschaften? Was tut not? Weiter lesen…
Die Grande Dame der Frühpädagogik, Ilse Wehrmann, hat ein Buch zur Lage des Kita-Systems geschrieben. Warum? Und was sind die Kernbotschaften? Was tut not? Weiter lesen…
Frauke Hildebrandt greift die Fragen von Kornelia Schneider auf und stellt ihre Argumente zur Diskussion.
Hier gibt es den Artikel auch als PDF: ohne Erwachsene_#2_2023
Den Begriff „Raum der Gründe“ prägte Wilfried Sellars1, für mich einer der wichtigsten Philosophen des 20. Jahrhunderts. Er sagte sinngemäß, dass es einen von uns bewohnten Raum gibt, den wir geistig teilen, in dem wir uns aber genauso begegnen können wie in der Küche oder im Wohnzimmer. Im „Raum der Gründe“ geht es darum zu schauen, wie die Phänomene in dieser Welt mit anderen Phänomenen oder Sachverhalten zusammenhängen, und zu fragen: Warum ist das eigentlich so? Wie wäre es, wenn die Sachen anders wären, als sie sind? Was würde daraus folgen? Nach Sellars treffen wir uns im „Raum der Gründe“, um miteinander nachzudenken, zu diskutieren, Gründe, Motive oder Zwecke miteinander in Bezug auf bestimmte Sachverhalte auszutauschen. Also nicht: Jeder Mensch denkt abgekapselt irgendwas und hat seine Begründungen dafür, sondern man muss miteinander ins Gespräch kommen.
Kinder sind sehr daran interessiert, mit Erwachsenen in solche Gespräche einzutreten. Wenn wir sagen: „Guck mal, da ist ein Vogel. Jetzt fliegt er weg, weil er einen Schreck gekriegt hat, denn wir sind ihm zu nahe gekommen“, dann haben wir einen Zusammenhang im „Raum der Gründe“ beschrieben. Es geht also nicht um philosophische Themen, sondern darum, Sachverhalte, die man beobachtet, in Zusammenhang mit anderen Sachverhalten zu bringen. Das kann man schon mit ganz jungen Kindern thematisieren. Sie sind sehr früh im Raum der Gründe, und wir können sie dabei unterstützen, wenn wir mit ihnen reden und keine Sonder-Sorte von Begründungen anbieten. Es geht auch nicht darum, Begründen zu trainieren, sondern wir lernen im Gespräch voneinander, wie man Sachverhalte in Zusammenhang mit anderen Sachverhalten setzt, um dadurch Dinge besser zu verstehen. Selbst anderthalbjährige Kinder sind zu Dialogen darüber imstande, warum der Vogel wegfliegt. Natürlich braucht man dazu die Sprache. Mit ihr betritt man eine andere Welt als nur mit dem Körper, obwohl die Körpersprache, gerade bei sehr jungen Kindern, auch einen Beitrag in solchen Dialogen leisten kann, zum Beispiel wenn wir die Zeigegesten der Kinder aufgreifen.
Da gibt es einen Dissens mit Kornelia Schneider. Wir gehen mit Tomasello2 davon aus: Wenn zwei, drei oder vier Babys auf einer einsamen Insel sind und miteinander interagieren sollen, entsteht keine menschliche Sprache, kein „Raum der Gründe“. Das, was man bekommt, wenn man in eine Gesellschaft einsozialisiert wird, in der Menschen schon einsozialisiert wurden, nämlich eine kulturelle Praxis, entsteht nicht. Zu sagen, wenn es den Kindern irgendwie gut geht, sie ihr Essen kriegen und liebgehabt werden, dann passiert der Rest schon von allein – das glauben wir nicht.
Wir haben in Deutschland eine Chancenungleichheit, die zum Himmel schreit. Es gibt Kinder, in deren Familien der „Raum der Gründe“ wenig bis kaum betreten wird. Da hilft auch kein isoliertes Förderprogramm. Nein, die Kinder müssen einsozialisiert werden, denn wir kommen nur in diesen Raum, wenn Erwachsene miteinander und mit uns reden.
Das heißt nicht, dass Kinder nicht auch von sich aus sehr viel mitbringen. Kornelia Schneider hat Recht, wenn sie schreibt, dass niemand für jemand anderen lernen kann: Lernen ist immer Selbsttätigkeit, und Kinder sind von Geburt an damit beschäftigt, die Welt um sich herum zu begreifen – zuerst körperlich und dann eben zunehmend – auch sehr junge Kinder – sprachlich-begrifflich vermittelt. Aber die Fähigkeiten der Kinder zur Hypothesenbildung und zum Herstellen von Zusammenhängen, ihre natürliche Neugierde und ihr Drang zu lernen müssen von den Erwachsenen aufgegriffen werden, damit die Kinder sich gut weiterentwickeln können.
Es wird unterschätzt, was die Erwachsenen tun. Wichtig ist jedoch, dass sie nicht anfangen zu kommandieren, zu instruieren und zu sagen, was zu tun ist und was nicht. Sie dürfen nicht verbieten und kindliche Autonomiegrenzen überschreiten. Sie sollen die Kinder in den Shared thinking-Prozess, in den Diskurs hineinbringen, damit die Kinder sich daran gewöhnen, die Mittel und Techniken verstehen, mit denen man sich im „Raum der Gründe“ bewegt. Aber viele Eltern tun das nicht. Deshalb müssen die Kita-Teams das unbedingt praktizieren, und zwar bewusst, nicht intuitiv aus dem Bauch heraus und nicht allein mit Körpersprache.
Ja, das müssen sie. Natürlich haben sie die Anlage dazu, und sie fragen ständig – explizit oder implizit – von sich aus: Warum? Aber was passiert mit diesen Warum-Fragen? Werden sie aufgegriffen, geschätzt, weiterentwickelt? Werden Kinder in diesen gemeinsamen positiven Prozess hineingeholt oder nicht?
Sicherlich gibt es auch vorsprachliche, körperlich und sinnlich vermittelte Wege der Welterschließung. Aber in unserem Beitrag haben wir uns auf das Denken im Sinne der Fähigkeit, im „Raum der Gründe“ zu navigieren, fokussiert. Das bedeutet, dass man lernt, seine Meinung zu begründen, auch vor sich selbst, und prüft, wie triftig die eigenen und die Gründe des anderen Menschen jeweils sind. Denn nur so wird man einerseits dazu befähigt, sich selbst gut begründete Ziele zu setzen. Und andererseits wird auch nur so ein gleichberechtigtes, demokratisches Zusammenleben möglich.
Durch die Erwachsenen. Sie müssen deutlich machen: „Super, dass du diese Warum-Frage stellst! Ich glaube, dass es so und so ist.“ Aber sie dürfen nicht anfangen zu erklären: „Hör mal gut zu, so und so ist die Welt.“ Sie sollen weiterfragen: „Könnte es auch anders ein? Lass uns mal überlegen. Ich stelle mir vor, dass es so ist. Was denkst du?“ Um diese Art von Dialog geht es, und man kann damit beginnen, wenn Kinder etwa ein Jahr alt sind. Darauf müssen sie zunächst noch gar nicht antworten. Aber sie nehmen die sprachlichen Impulse wahr, auch wenn sie vieles hören, das sie zunächst nicht verstehen.
Im Hirn der Kinder spielt sich ein Struktur suchender Prozess ab, das Hirn sucht nach Regeln und ordnet sie. Je reichhaltiger der Input in Bezug auf Begründungen ist, desto mehr nehmen die Kinder auf. Sicherlich, und da stimmen wir Kornelia Schneider wieder zu, spielen dabei auch sozial-emotionale Prozesse und das Herstellen von Resonanz eine wesentliche Rolle, selbst wenn dies nicht im Fokus unseres Beitrags steht. Aber noch einmal: Ohne Erwachsene, die ihnen eine konkrete Struktur anbieten, kommt ein Kind nicht in den „Raum der Gründe.“
Dazu eignet sich jeder Moment, jede Situation: beim Essen, beim Anziehen, beim Rausgehen, beim Spazierengehen, beim Aufräumen. Immer kann man fragen: „Warum machen wir das eigentlich? Könnten wir es auch anders machen?“ Tausend Fragen sind in jeder Sekunde möglich, wenn man daran anknüpft, was ein Kind tut, was es für Fragen stellt, wenn man mit ihm darüber nachdenkt und es so in den „Raum der Gründe“ lockt.
Kornelia Schneider sagt: Das ist ja nur kognitiv. Aber wir beschäftigen uns nun mal mit der kognitiven Entwicklung. Natürlich brauchen Kinder Zuwendung, Zugehörigkeit und nonverbale Signale dafür, dass sie angenommen sind. Sie denken nicht über Gründe nach, wenn die Situation um sie herum feindlich ist oder ihnen nicht auf Augenhöhe begegnet wird, ihre eigenen Impulse und Bedürfnisse nicht wahrgenommen werden.
Darüber kann man viel sagen, aber das ist an dieser Stelle nicht unser Thema. Wir gucken, was passieren muss, damit Kinder kognitiv in den „Raum der Gründe“ kommen. Im Beitrag von Sabine Hebenstreit-Müller wird ausführlich dargelegt, unter welchen Bedingungen Dialoge mit Kindern gelingen und was pädagogische Fachkräfte dabei tun können.
Das geht nur, indem man konsequent epistemisch markiert. Das heißt, man sagt: „Ich denke das so, ich glaube, dass es so ist.“ Und dann begründet man, warum man das so sieht. Dabei merken die Kinder, dass man nicht die Weisheit mit Löffeln gefressen hat, sondern ein Angebot macht. Das ist auch eine Art von Einsozialisierung.
Für mich gibt es zwei Varianten. Entweder fängt man selbst an, darüber zu reflektieren, was man spannend findet, und versucht, Fragen dazu zu stellen. Oder man nimmt sich vor: Ich lerne jetzt, mit den Kindern so zu reden und andere Fragen zu stellen als: „Wie war es denn bei Opa? Hat das Essen geschmeckt?“
Ich finde die zweite Variante vielversprechend, denn wenn ich anders mit Kindern rede, kriege ich natürlich auch anderes Feedback. Dadurch provoziere ich andere Inputs für mich, die mich dazu bewegen können, anders zu denken. Oft kommen überraschende Aussagen, die dazu anregen, die eigene Sicht zu überdenken und zu hinterfragen. Und damit werden wir Erwachsene, genau wie Kornelia Schneider es ja fordert, eben auch selbst zu Lernenden im Dialog mit Kindern.
Wichtig ist der gemeinsame Fokus: Wenn ein Kind etwas tut und ich mich dazusetze, also auf Augenhöhe bin, geht es um Folgen und Benennen. Das heißt, ich sage: „Aha, du nimmst die Erbse und legst sie da rein.“ Damit signalisiere ich: Ich sehe, was du tust. Wenn das Kind dann ins Sprechen kommt, kann ich sagen: „Ja, ich habe das auch probiert, aber die Erbsen werden gar nicht weich. Ich frage mich, wie…“ Wir kommen ins gemeinsame Nachdenken, wenn eine Situation so aufrechterhalten werden kann, dass sie spannend ist. Dafür gibt es Techniken, die wir mit Pädagoginnen trainieren.
Noch einmal: Das müssen wir Erwachsene tun. Es ist unsere Verantwortung, denn das machen keine Gleichaltrigen. Warum-Fragen werden von Kindern übrigens auch nicht an Gleichaltrige gerichtet, sondern an Menschen, von denen die Kinder erwarten, dass sie sie einsozialisieren.
Interview: Erika Berthold
Erkenntnisse und Anregungen zum
Denken mit jungen Kindern
Was mit Kindern GmbH, Berlin 2022
Nachdenken mit Kindern, gemeinsam überlegen, in den Dialog miteinander gehen – all dies ist wünschenswert und wird sicherlich von niemandem in Zweifel gezogen, passiert im pädagogischen Alltag jedoch viel zu selten. Das kann viele Gründe haben: mangelnde Zeit und Ruhe, um ins Gespräch mit Kindern zu gehen, aber auch versäumte Gelegenheiten im Alltag. Und manchmal fehlt schlicht das Know-how, das Wissen, wie man es macht, wie man einen Dialog in Gang setzt, Fragen der Kinder aufgreift und im Gespräch erweitert.
Dialog, das bedeutet Interaktion auf Augenhöhe, die nur gelingen kann, wenn Kinder ernst genommen werden und Erwachsene sich aktiv als Mit-Denkende und Mit-Handelnde einbringen. Das erfordert, ein – falsches – Verständnis von Selbstbildungsprozessen zu korrigieren, das sich in den letzten Jahren vielerorts gebildet hat und darauf vertraut, dass Kinder sich am besten selbst und ohne die Einwirkung Erwachsener entwickeln. Die Bedeutung der Interaktion mit Erwachsenen und ihre Rolle für das kindliche Lernen geraten dabei tendenziell in den Hintergrund. Im angloamerikanischen Raum wird das als „Early Childhood Error“ bezeichnet.
Mit diesem Buch stärken die Autor*innen die Relevanz der Interaktion von Erwachsenen und Kindern beim gemeinsamen Denken. Deutlich wird: Die Interaktion mit Erwachsenen bringt einen erheblichen Mehrwert für die kindliche Entwicklung – allerdings nur, wenn sie eine bestimmte Qualität aufweist. Diese Qualität zu beschreiben, wesentliche Impulse für die Praxis zu geben und zugleich auf Forschungsdefizite hinzuweisen, das ist Anliegen dieses Buches.
Einladung zum fachlichen Diskurs aus guten Gründen
Text: Kornelia Schneider
Hier gibt es den Artikel auch als PDF: herumstochern_#2_2023
Ich hatte schon vor einiger Zeit davon gehört, dass Frauke Hildebrandt vom „Navigieren im Raum der Gründe“ spricht, wenn es darum geht, zusammen mit Kindern nachzudenken. Was für eine großartige Idee! Sie hat mich sofort angesprochen und interessiert. Denn ich liebe es, auf Spurensuche zu gehen und nach Gründen für gelebte Praxis sowie nach Begründungen in der Darstellung theoretischer Zusammenhänge zu forschen. Also war ich hoch erfreut, nun ein Buch zur Auseinandersetzung über „Erkenntnisse und Anregungen zum Denken mit jungen Kindern“1 vorzufinden.
Nachdem ich die beiden einführenden Beiträge im ersten Kapitel2 gelesen habe, bin ich allerdings enttäuscht. Laut Einleitung sollten sie „eine übergeordnete pädagogische und philosophische Perspektive auf das Thema liefern“3. Ich erfahre zwar, dass „der Raum der Gründe“ bei dem Philosophen Wilfried Sellars aufgestöbert wurde. Gut zu wissen. Doch will ich nicht erst noch in seinem Werk nachlesen, wie er darauf gekommen ist, sondern gleich an Ort und Stelle mit dem forschenden Verarbeiten neuer Gedanken anfangen. Bei diesem Unterfangen stößt mein Forschergeist auf etliche Ungereimtheiten, auf Unklarheiten und Widersprüche in den theoretischen Grundannahmen. Es gibt keine in sich stimmige Theorie, sondern nur Versatzstücke aus unterschiedlichen Theoriegebäuden, die meiner Meinung nach wenig passend sind für die Erforschung von Bildungswegen junger Kinder. Die Ausführungen gehen nicht von der Welt der Kinder aus, auf die Erwachsene sich einstellen sollten, wenn sie mit ihnen ins Gespräch kommen wollen, um deren Begründungswege kennenzulernen.
Da sich das Buch mit seinen verschiedenen Beiträgen aus unterschiedlichen Blickwinkeln ums Denken rankt und speziell um die Rolle von Erwachsenen, hätte ich im Einführungskapitel erwartet, etwas über kommunikationstheoretische Voraussetzungen und über den Eigensinn von Zugängen der Kinder zur Welt zu lesen. Denn mich interessiert brennend, was Erwachsene tun können, um Denkprozesse junger Kinder gut begleiten oder auch herausfordern zu können. Wie können sie zusammen mit Kindern denken? Wie kommen Erwachsene in „gemeinsam geteiltes Nachdenken“4 mit Kindern – in der Fachsprache als „sustained shared thinking“ bezeichnet – ? Dieser Frage widmet sich in erster Linie der Beitrag von Hebenstreit-Müller. Er umfasst auch eine Auflistung von Fähigkeiten und konkreten Verhaltensweisen Erwachsener, die dazu dienen, Gedankenaustausch mit Kindern oder unter Kindern in Gang zu bringen5. Das ist gut, doch fehlt mir die Seite der Kinder. Was geht von den Kindern aus, was mich als Erwachsene ins Denken bringt? Wenn ich mich damit nicht beschäftige, bleibe ich in der Rolle der Lehrenden und Vermittelnden und begebe mich nicht in die Wechselseitigkeit, durch die auch ich zur Lernenden werde.
„Sustained shared thinking“ liegt mir schon seit vielen Jahren am Herzen. So bin ich froh, dass sich inzwischen mehr Expertinnen und Experten damit befassen, zumal sich seit der Erkenntnis, dass diese Art von Austausch in Kindertageseinrichtungen kaum verbreitet ist, offensichtlich immer noch nicht viel getan hat. Da es außerordentlich schwer für Erwachsene ist, mit Kindern in einen gemeinsamen Gedankenaustausch zu gehen, der Kinder nicht gängelt, hätte ich gern mehr darüber erfahren, was es für Hürden gibt und wie sie zu überwinden sind. Wie kann ich den Widerspruch bewältigen, „auf die Welt der Kinder einzugehen, ohne darauf zu verzichten, eigene Erfahrungen und Wissen einzubringen“ und dabei zugleich darauf zu achten, „ihnen die eigene Weltsicht nicht überzustülpen“ 6.? Wie gehe ich damit um, dass sich die Begründungspraxis von Erwachsenen und von Kindern unterscheidet? Wie gut kommen Kinder mit ihren Begründungen zum Zuge? Nehme ich wahr, was sie dazu beitragen, diese Dialogform zu praktizieren und weiterzuentwickeln? Und wie funktioniert „sustained shared thinking“ mit Kindern, die über Körpersprache vermitteln, was sie zu sagen haben?
Ich bin davon überzeugt, dass dialog-basierte Interaktion, zu der alle gleichermaßen beitragen, ein entscheidender Faktor für eine hohe Qualität von Beziehungen ist, die auf Anteilnahme und Mitwirkung aller beruht. Denn zu erleben, dass die eigene Stimme zählt und dass sowohl das eigene Denken als auch das der anderen durch Austausch inspiriert wird, bestärkt Kinder auf vielfältige Weise in ihrer Persönlichkeits- und Denkentwicklung. Diese Überzeugung beruht auf Erkenntnissen aus verschiedenen Studien zur frühpädagogischen Praxis und aus der Arbeit mit Lerngeschichten in Neuseeland.
Vor gut 20 Jahren war die EPPE-Studie7 in England bahnbrechend für die Einsicht, dass sich die Bildungsqualität in Kindertageseinrichtungen erhöht, wenn sich pädagogische Fachkräfte in Gedankenprozesse mit Kindern begeben. Ihre Befunde passten bestens zum Ansatz der Reggio-Pädagogik, zur Pikler-Pädagogik und zur Bildungsphilosophie in Neuseeland, die im Nationalen Curriculum für die frühe Kindheit8 dargelegt ist und darauf zielt, Lerngeschichten von Kindern wahrzunehmen. Das Neuseeländische Curriculum setzt darauf, dass geteilte Erfahrungen in Lerngemeinschaften, an denen alle gleichermaßen mitwirken, bei Kindern Wohlbefinden, Zugehörigkeitsgefühl und Interesse an Exploration und Kommunikation stützen und dabei das Selbstbewusstsein stärken, eine Person zu sein, die eigene Interessen und Ideen hat und gut lernen und kooperieren kann9. Damit solche Lerngemeinschaften auch zwischen Kindern und Erwachsenen entstehen können, müssen die Erwachsenen ihre gewohnte pädagogische Rolle als Lehrende verändern und sich auch als Lernende begreifen.
Entscheidend für gemeinsam geteilte Erfahrungen ist die Resonanz von Erwachsenen, wie Schäfer es nennt10, das Mitgehen und Mitschwingen mit Ideen von Kindern. In Neuseeland spricht man von „Responding“: Wahrnehmen, was Kinder tun, und sich feinfühlig darauf einlassen. Das setzt Interesse und Anteilnahme voraus, basierend auf dem Willen zu verstehen, was Kinder anstreben: worin ihre Bildungsinteressen und -wege bestehen, wie sie an eine Sache herangehen, welche Fähigkeiten sie einsetzen, welche Absichten sie verfolgen und welche Beweggründe dahinter stehen. Responding dient dazu, das Lernen von Kindern und ihr Selbstbewusstsein zu unterstützen. Es kann die unterschiedlichsten Formen annehmen: zuschauen und zuhören, dokumentieren, Impulse der verschiedensten Art setzen und das so zu machen, dass die Möglichkeit besteht, in „sustained shared thinking“ einzusteigen.
Mir gibt zu denken, dass die Begründung des Ansatzes, mit Kindern zusammen in den Raum der Gründe einzutauchen, so wenig auf die Motivation und Lerndispositionen von jungen Kindern eingeht und sich im Wesentlichen nur auf kognitive Prozesse des Argumentierens bezieht. Ich habe etliche Fragen dazu und hoffe, damit Gelegenheiten für „sustained shared thinking“ unter Erwachsenen anzuregen: unter pädagogischen Fachkräften und Fachleuten, die in der Lehre und in der Forschung tätig sind.
Diesem Thema widmet sich der zweite Beitrag von Hildebrandt/Musholt. Doch erschließt er mir nicht wirklich den Raum der Gründe. Es wird nicht erklärt, was genau damit gemeint ist. Ich wüsste gern: Wo ist dieses Konstrukt theoretisch verankert? Wie und wobei tut sich der Raum der Gründe auf, wie gelange ich dahin? Was von Sellars zitiert wird, lässt erkennen, dass seine Philosophie wenig mit Kindern in den ersten Lebensjahren zu tun hat.
Abgesehen davon versäumen die Autorinnen, 1. ihr Bildungsverständnis zu erklären, 2. zu definieren und zu beschreiben, was sie unter Denken verstehen, 3. den Zusammenhang von Denken und Begründen zu erläutern. Es ist die Rede von Autonomie, doch wird nicht aufgegriffen, wie sich das Erleben von Autonomie in der frühen Kindheit abspielen kann. Die verwendeten Begriffe sind mit Inhalten gefüllt, die nicht zur Welt der Kinder in den ersten Lebensjahren passen. Das Gedankengut stammt aus einer Philosophie, die offensichtlich für Erwachsene gedacht ist. Damit wird dem althergebrachten Defizitblick auf Kinder Vorschub geleistet, von dem wir uns doch lösen müssen, um zu verstehen und zu inspirieren, was in den Köpfen von Kindern vor sich geht.
Zwar wird gesagt, dass es darauf ankommt, „sich in die Perspektive von Kindern hineinziehen zu lassen, in ihre andere Sicht auf die Dinge“, doch bleibt diese Sicht, was die Perspektive von Kindern betrifft, in der Benennung von „manchmal eigenartigen Deutungen von Phänomenen“11 hängen. Wenn Deutungen der Kinder eigenartig genannt werden, klingt eher Befremden an als Interesse am Zustandekommen der Sichtweise von Kindern. Es käme ja gerade darauf an, sich 1. so auf die Perspektiven von Kindern einzulassen, dass wir mehr davon erfahren, worin der Eigensinn von Kindern besteht, wenn sie etwas begründen, und 2. zu ergründen, welchen Sinn das aus ihren Erfahrungen heraus macht12.
Spannend wäre auch, mehr darüber in Erfahrung zu bringen, wie sich die Begründungen von Kindern in der forschenden Auseinandersetzung mit der dinglichen Welt und mit anderen Kindern oder auch Erwachsenen verändern und weiterentwickeln.
Wieso wird von Hebenstreit-Müller, Hildebrandt und Musholt ein Gegensatz aufgemacht zwischen einerseits „Selbstbildung“ und andererseits geteilter Erfahrung in Bildungsprozessen, zu denen pädagogische Fachkräfte beitragen oder die von Erwachsenen angeregt werden? Daraus spricht für mich ein unklares Bildungsverständnis. Der Begriff „Selbstbildung“ ist überflüssig wie ein „weißer Schimmel“, denn Bildung ist – der aktuellen Hirnforschung nach – ein aktiver, selbstgesteuerter Prozess. Kein Mensch kann gebildet werden, sondern jeder Mensch bildet sich selbst – ganz gleich welchen Alters. Es reicht also, von Bildung zu reden.
Die Vorstellung von Bildung als „handwerkliche Tätigkeit“13 mit der Zielsetzung, anderen etwas zu vermitteln, ist passé. Bildung besteht im Gegensatz zur Sichtweise von Hildebrandt/Musholt eben nicht „hauptsächlich in der aktiv von Erwachsenen gestalteten Einsozialisierung in die Sprachpraxis und schließlich in die Praxis des Begründens“14. Auch als pädagogische Fachkräfte oder Lehrpersonen mit „Bildungsauftrag“ bewerkstelligen wir nicht die Bildung von Kindern, sondern können sie höchstens anregen. Denn jede Person wählt für sich, welche der verfügbaren Bildungsgelegenheiten sie ergreift und welche sie für sich selbst herstellt – auch schon jedes Baby. Das geht selbstverständlich nicht wie von selbst oder nur „aus sich selbst heraus“15, was Viele offensichtlich unter „Selbstbildung“ verstehen.
Schäfer, der diesen Begriff in den Fachdiskurs eingebracht hat, erklärt ausdrücklich: „Selbstbildung ist nicht Von-selbst-Bildung“16. Besser wäre gewesen, ganz auf diesen Begriff zu verzichten, da er nur Verwirrung stiftet. Denn weder gibt es Fremdbildung (als Gegenteil von Selbstbildung), noch unterschiedliche Typen von Bildung, sondern Bildung – gleich welcher Art – ist immer der Prozess, der sich in jedem Menschen vollzieht, der sich Wissen und Können aneignet – unabhängig davon, was der Anlass dafür war.
Zweifellos entstehen Bildungsinteressen und -wege eines Menschen nicht unabhängig von seinen Beziehungen mit Menschen, Dingen, Orten und Zeit in seinem Lebensraum. Bildungsprozesse sind grundsätzlich gesellschaftlich und kulturell eingebettet und ergeben sich aus dem Wechselspiel von eigenen Interessen und von Verfügbarkeiten, die die Umweltbedingungen bieten. Insofern geht es gar nicht um die Frage, ob eine Initiative zur Beschäftigung mit einer Sache von einem Kind oder einer pädagogischen Fachkraft ausgeht, sondern ob Kinder selbst bestimmen können, wofür sie sich entscheiden und wie sie vorgehen wollen.
Es steht nicht in Frage, „welchen Anteil Kinder und Erwachsene jeweils am Lernprozess haben“17 oder mit welchem Anteil ein Kind „sich an der Erschließung der Wirklichkeit beteiligt“18, denn ein Lebewesen kann sich nur etwas aneignen, indem es selbst lernt. Ein Mensch, der lernt, hat nicht Anteil an seinem Lernen, sondern ist der Lernende. Niemand kann für jemand anderen lernen oder die Wirklichkeit erschließen. Es geht vielmehr darum, Kindern vielfältige Möglichkeitsräume zu ihrer Erschließung der Welt offen zu lassen oder zugänglich zu machen und ihnen Spielraum zu lassen, ob und wie sie darauf eingehen mögen, wenn wir als Erwachsene etwas einbringen, wenn wir sie anleiten, fordern, fördern und lenken, wenn wir ihnen etwas einräumen, eröffnen, vorschlagen, zeigen, vorleben oder zu denken geben. Und dabei ist wesentlich, wie wir Kindern ein Vorbild darin sind, Lernen und Denken in Austausch mit anderen erfahrbar zu machen. Können sie uns selbst als Lernende und Denkende erleben?
Der aktuelle Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis ist, dass Kinder als lernende und denkende Wesen auf die Welt kommen. Sie müssen nicht lernen zu lernen oder zu denken. Das Gehirn ist so gemacht, dass wir lernen und denken können. Es bleibt uns gar nichts anderes übrig, als zu lernen und zu denken, denn unsere Erlebnisse und Erfahrungen werden zu Verbindungen von Nervenzellen und -strängen im Hirn verarbeitet. Wir stellen sie in Zusammenhang, vergleichen, was wir schon kennen und was neu ist, und ziehen Schlüsse daraus, sodass wir uns immer mehr Handlungs- und Denkmöglichkeiten erschließen.
Lernen und Denken an sich muss nicht gelernt werden, sondern höchstens eine bestimmte Art oder Möglichkeit zu lernen oder zu denken, die einer Sache dienlich ist, die sich bewährt hat oder erwünscht ist. „Denken lernen“ ist daher in vielerlei Hinsicht ein irreführender Titel. Er verleitet zur Annahme, es ginge darum, wie Kinder denken lernen. Es kann nur gemeint sein, wie Erwachsene lernen, mit jungen Kindern zusammen zu denken, wie der Untertitel des Buchs sagt: „Erkenntnisse und Anregungen zum Denken mit jungen Kindern aus Forschung und Praxis“.
Ist Denken so ohne weiteres gleichzusetzen mit „Navigieren im Raum der Gründe“, mit der „Fähigkeit, sich in diesem Raum bewegen zu können“19, oder gibt es auch ein Denken außerhalb des Raums der Gründe? Wie sieht ein Raum der Gründe für Erwachsene aus und wie sieht er für Kinder aus? Wie denken Kinder im Austausch miteinander, wenn keine Erwachsenen dabei sind? Ist die Festlegung von Denken auf den Raum der Gründe nicht schon von vornherein erwachsenenlastig? Welche Art von Denken deckt sich mit dem Navigieren im Raum der Gründe? Passt es für junge Kinder, den Schwerpunkt nur auf reflexives Denken zu legen, das an Sprache mit Worten geknüpft ist und direkt ausgesprochen wird?
Was Hildebrandt und Musholt von Sellars übermitteln, enthält einen sehr hohen Anspruch: „Das menschliche Denken … wird von den Normen der theoretischen und praktischen Rationalität geleitet, die autonomes Denken ermöglichen. … Sich im Raum der Gründe bewegen zu können bedeutet, sich nicht von bloßen Neigungen und Affekten leiten zu lassen, sondern sich die Frage ‚Was sollte ich glauben oder tun?‘ zu stellen und sie mit Bezug auf Gründe beantworten zu können. Man lässt sich also in seinem Handeln und Denken von der eigenen Vernunft leiten und ist auf diese Weise autonom“20. Zu dieser Annahme gehört, dass im Raum der Gründe Autonomie trainiert wird.
Wie viele von uns Erwachsenen können diesen Anspruch erfüllen? Welchen Sinn macht es, ihn an Kinder zu stellen? Ich muss doch nicht unbedingt bewusst Überlegungen anstellen, um mich „aus guten Gründen heraus – und damit selbstbestimmt – für ein bestimmtes Ziel entscheiden zu können“21. Kinder handeln immer aus guten Gründen, auch wenn sie diese nicht aussprechen und wenn sie von Erwachsenen nicht erkannt werden. Abgesehen davon besteht Autonomie auch nicht nur in autonomem Denken, sondern hat viele Facetten. Der Grundstein für Autonomie wird keinesfalls nur durch die Fähigkeit gelegt, „die eigene Praxis reflexiv einzuholen“22 und in Worten zur Sprache zu bringen. Es gibt durchaus Bereiche, in denen schon Babys autonom handeln können.
Hildebrandt/ Musholt nehmen an, dass sich Autonomie als zentrale Fähigkeit „durch das Navigieren im Raum der Gründe entwickelt“23. Doch es könnte genauso gut sein, dass sich gerade andersherum die Fähigkeit, im Raum der Gründe zu navigieren, durch die zentrale Fähigkeit zur Autonomie und zur Verbundenheit mit anderen entwickelt. Handelt es sich beim „Navigieren im Raum der Gründe“ ausschließlich um eine kognitive Fähigkeit, die der Anregung bedarf? Sind nicht auch soziale und emotionale Erfahrungen ausschlaggebend dafür, eigene Ansichten und Absichten befragen zu können und sich auf die von anderen einzulassen?
Was das Denken betrifft, kommen mir die vier Denkformate in den Sinn, die Gerd E. Schäfer 2008 für die frühe Kindheit aufgestellt hat: (1) Denken in Bewegung und Handlung (= konkretes Denken), (2) Denken in Bildern
(= szenisch bildhaftes Denken), (3) Denken in Geschichten (= szenisch sprachliches Denken), (4) theoretisches Denken. Die ersten drei ordnet er dem „szenischen Denken“ zu, das Kinder zu Beginn des Lebens praktizieren. Das theoretische Denken dagegen „erhält erst gegen Ende des Kindergartenalters einige Bedeutung. Mit ihm geht das Kind über den szenisch-situativen Zusammenhang der Erfahrungen und des Wissens hinaus“24.
Das heißt, dass wir uns von der Höherbewertung theoretischen Denkens verabschieden müssen, wenn wir uns auf das Denken von jungen Kindern einlassen und es anregen und unterstützen wollen. Hebenstreit-Müller bezieht sich bei ihrer Definition von Denken nur auf „Spielen mit Gedanken und Explorieren im Kopf“25. Wie können wir wissen, was sich beim Handeln von Kindern in deren Kopf abspielt, wenn sie es nicht formulieren? Sie können durchaus gedanklich verschiedene Möglichkeiten durchspielen und etwas planen, bevor und während sie handeln. Und selbstverständlich auch, wenn sie im Anschluss an ihre Handlungen Schlussfolgerungen ziehen. Denken ist eine Tätigkeit, die sich auch ohne den Gebrauch von Wortsprache vollziehen kann. Und jedem Handeln wohnen Gründe inne, nicht bloß dann, wenn wir sie zu hören bekommen und darüber reflektieren.
Ich gehe davon aus, dass „sustained shared thinking“ dazu dient, Beweggründe zu erschließen. Ich bin der Meinung, dass sich auch Kleinkinder die Frage stellen: „Was sollte ich glauben oder tun?“ und sie „mit Bezug auf Gründe“26 für sich beantworten. Immerhin wissen wir, dass sie nicht einfach nur unüberlegt aus dem Moment heraus handeln, sondern auch Hypothesen aufstellen und diese dann anhand verschiedener Möglichkeiten erproben27.
Bei Sellars hat der „Raum der Gründe“ keinen Platz für die körperlich-sinnlichen Erfahrungen im handelnden und bildhaften Denken. Bei seiner Vorstellung braucht das „Navigieren im Raum der Gründe“ die Sprache mit Worten als Eintrittskarte. Hildebrandt/Musholt übernehmen das, wenn sie sagen: „… indem wir eine Sprache erlernen, erwerben wir zugleich die Fähigkeit, unser vor-sprachliches ‚Wissen wie ‘ explizit zu machen. Wir versetzen uns in die Lage, darüber zu reflektieren und Stellung dazu zu beziehen, indem wir nicht einfach handeln, sondern unser Handeln begründen“28.
Denken ist jedoch nicht an Sprache gebunden. Und „einfach handeln“ kann auch begründet sein, ohne das die Gründe zur Sprache kommen. Schäfer sagt zum Denken in Bewegung und Handeln: „Kinder schweifen mit der wachen Aufmerksamkeit ihrer Sinne in die Welt und verwandeln alles in Gedanken, was ihr Interesse berührt“29. Ihr Denkprozess besteht darin, ihre Eindrücke zu geordneten Zusammenhängen zu verarbeiten: „Die erste Ordnung, die ein Kind in seiner Welt schaffen muss, ist eine handelnd-sinnlich-emotionale Ordnung. Ich nenne sie konkretes Denken“30. Darauf folgt bildhaftes oder aisthetisches Denken, das sich durch folgende Prozesse auszeichnet: „Kinder speichern ihre Erfahrungen als ganze Ereignisse – Ereignismuster; Gefühle geben den Ereignissen eine Bedeutung; vergleichbare Ereignisse erzeugen vergleichbare Gefühle und werden wieder erkannt“31.
Damit ist gesagt, dass die Schlussfolgerungen, die Babys und Kleinkinder aus ihren Erfahrungen ziehen, einer Logik unterliegen, auch wenn sie diese nicht in Worte fassen können. Befunde aus der Säuglings- und Kleinkindforschung belegen das auf vielfältige Weise. Wieso wird bei den Jüngsten ihre Art von Logik nicht mit einem Denkprozess des Begründens verbunden, obwohl anerkannt ist, dass die Kinder Gründe für ihre Ordnungen der Welt haben?
Als Schäfer die vier Denkformate entwarf, sprach auch er nur dem theoretische Denken die Suche nach Gründen zu: „Narratives Denken vergegenwärtigt und orientiert sich an inneren (subjektiven) Überzeugungen. Theoretisches Denken sucht nach Gründen und orientiert sich auch an äußeren Gültigkeitskriterien. Theoretisches Denken hat einen inneren und einen äußeren Bezugspunkt“32. Heute vertritt er – in Auseinandersetzung mit Hildebrandt und Musholt33: „Das Erfahrungslernen der Kinder ist das grundlegende Lernen in der frühen Kindheit. Kinder denken, indem sie explorieren und dabei Gedanken und Handlungen miteinander vermischen.“ Und: „Das logisch-rationale Denken ist eine verkürzte Vorstellung von Denken“34. Doch wie verhält es sich nun mit den Gründen?
Nach Ansicht von Hebenstreit/Musholt geht es nicht ohne Einwirken der Erwachsenen, nicht ohne „Einsozialisierung“35. Sie gehen davon aus, dass „Dialogische Eingewöhnung“36 vonnöten ist. Dazu gehören für sie in erster Linie die „Eingewöhnungsprozesse in Denken und Sprache“. Diese müssen „so gestaltet werden, dass Autonomie sich besonders gut entwickelt“37. Zwar erwähnen sie, dass es um einen „Wechselprozess des Agierens und Reagierens“ geht, bei dem Kinder ebenso Interaktionen initiieren, wie Erwachsene das tun38, doch gibt es keine Stelle, die sich auf das Konzept von „agency“ der Kinder bezieht, wie es heute in der Kleinkindforschung üblich ist39, auf die vorhandene Fähigkeit, Handlungswillen und Handlungsmacht aufzubringen. Und so endet das Fazit ihres Beitrags auch mit dem Satz: „Vieles deutet darauf hin, dass Interaktionsformate wie das SST sich besonders gut dazu eignen, Kinder in die für die Fähigkeit zur Selbstbestimmung grundlegende Praxis des Begründens einzuführen“40. Selbstbestimmung gibt es auch schon bei Babys. Sie zeigen deutlich, was sie interessiert, was ihnen behagt und was nicht, was sie fortsetzen möchten und was nicht. Dazu braucht es keine Einführung in die grundlegende Praxis des Begründens.
Vermutlich hängt diese Idee auch mit der erwähnten Vorstellung von Bildung zusammen, dass allein „Bewusstsein des Kindes Grundlage für die Möglichkeit von Bildung“ sei. Diese Setzung ist abgehoben und weltfremd. Wir wissen nicht, welches Bewusstsein der gelebten Praxis von Kindern zugrundliegt, wenn sie sich bilden. Sie können nicht äußern, was ihnen bewusst ist. Wir müssen aus ihren Handlungen auf ihre Gedanken schließen. Bewusstsein wird von Hildebrandt/Musholt mit dem Auftreten der geteilten Aufmerksamkeit (joint attention) in Zusammenhang gebracht: „Etwa im neunten Monat hat sich ein geteiltes Bewusstsein davon entwickelt, dass Kind und Erwachsener dasselbe tun“41. Auch das ist nicht unbedingt ein Bewusstsein, das in Worten formuliert ist.
Allerdings wird das Phänomen der geteilten Aufmerksamkeit in der Fachliteratur meistens als entscheidendes Moment für den Beginn der Verständigung mittels Wortsprache angesehen. Insofern zeigt sich auch hier wieder eine Orientierung an Sprache als Zeichen für Denkprozesse.
Bei den Untersuchungen, die als Beispiele für positive Auswirkungen auf die Kompetenzen von Kindern angeführt werden, geht es ausschließlich um die kognitive und sprachliche Entwicklung. Die Interaktionsdimensionen, die als wesentliche Voraussetzungen für einen positiven Einfluss auf die kognitive und sprachliche Entwicklung aufgezählt werden, beinhalten zwar nicht nur Sprechhandlungen, doch wird nicht ausgeführt, wie Erwachsene denn mit Kindern, die selbst noch nicht oder nur wenig reden, „gemeinsam denken“, „Aufmerksamkeit teilen“, wie sie „das Kind führen lassen“42 oder die „Kinder zum eigenen Hypothesenbilden ermutigen“43 können.
Die Ausführungen über „sustained shared thinking“ oder das „Navigieren im Raum der Gründe“ beziehen sich eindeutig auf Kinder, die bereits geübt darin sind, die Sprache mit Worten zur Verständigung und zum Denken zu benutzen. Die „Praxis des Begründens“ wird anhand von ausgeklügelten Differenzierungen in Argumentationsmöglichkeiten beschrieben, die sicher in Kommunikationsseminare gehören, doch für den Umgang mit den Jüngsten reichlich hoch gegriffen sind44.
Für mich ist Resonanz von Erwachsenen auf die Äußerungen von Kindern die Grundlage für wechselseitige Kommunikation, die als Dialog auf der Basis von Gleichwürdigkeit und dem Wunsch nach Verständigung funktioniert. Im Babyalter läuft das über Körpersprache. Und auch im Kleinkindalter hat Körpersprache noch Vorrang, unabhängig davon, ob die Kinder bereits Worte verwenden. Die Säuglingsforschung hat nachgewiesen, dass Kinder von Geburt an auf Dialog eingestellt sind. Sie brauchen keine „dialogische Eingewöhnung“. Es sind eher wir Erwachsenen, die sich darauf einstellen müssen, mit den Jüngsten in ihrer Sprache von Körperausdruck, Bewegung und Handlung zu sprechen. Kinder sind vom Säuglingsalter an Meister darin. Das zeigt sich besonders, wenn wir Kontakte und Austausch in der Welt der Kinder erkunden45.
Klar ist: „Viele Situationen lassen sich für Dialoge nutzen“. Ziel ist, möglichst viele Gelegenheiten, „in denen man ohnehin in Kontakt mit den Kindern ist“, als Möglichkeiten „für gemeinsames Nachdenken zu nutzen“46. Doch leider wird nicht beschrieben, wie aus Kommunikation in Alltagshandlungen „Nachdenkgespräche“ werden. Wie erfasse ich denn, wann ein guter Anlass wäre, die Initiative zu ergreifen, um Kinder ins Denken zu bringen bzw. ihr Denken zu inspirieren? Wann macht das Sinn? Wann würde es eher stören?
Völlig unvermittelt ist die Rede vom „Gespür für Gelegenheiten, um sich in das kindliche Spiel einzubringen und Anknüpfungspunkte zu finden, um Gedanken und Ideen auszutauschen“47. Gerade das Einmischen ins Spiel von Kindern beinhaltet die Gefahr, zum Abbruch zu führen. Denn wenn Erwachsene sich am Spiel der Kinder beteiligen wollen, müssen sie sich auf die Spielidee und Spielweise der Kinder einlassen, um den Spielfluss zu bereichern. Wenn sie ihnen jedoch das Heft aus der Hand nehmen, zerstören sie das Spiel der Kinder48.
Aus welchem Grund sollten sich Erwachsene ausgerechnet in das Spiel von Kindern einbringen, um es zu befragen? Wenn sie das Denken der Kinder bereichern wollen, müsste es doch eher darum gehen, Momente aufzugreifen, die Anlass zum Nachdenken geben oder in denen klar ist, dass Kinder bei dem, was sie tun, mit Denken beschäftigt sind. Und dann bleibt immer noch die Frage, wie Erwachsene und Kinder gut zusammen denken können, ohne dass Kinder in ihren eigenen Handlungen und Verarbeitungsprozessen unterbrochen oder gar aus ihrem Fluss des Denkens herausgeholt werden.
Wie ist „sustained shared thinking“ möglich, ohne dass das gewohnte Denken der Erwachsenen den Gedankenfluss dominiert? Diese Frage, die meiner Meinung nach den Kern von „sustained shared thinking“ ausmacht, wird in den beiden einführenden Beiträgen nicht gestellt.
Wie machen sich Erwachsene selbst auf den Weg zum „Navigieren im Raum der Gründe“?
Wie machen sich Erwachsene, die mit Kindern zusammen denken wollen, mit der Sprache und dem Denken von Kindern vertraut? Wie stellen sie sich so darauf ein, dass sie gute Anknüpfungspunkte für gemeinsames Denken finden können, die Kinder gern aufgreifen?
1 Hebenstreit-Müller, Sabine/Hildebrandt, Frauke (Hrsg.): Denken lernen. Erkenntnisse und Anregungen zum Denken mit jungen Kindern. Berlin: wamiki 2022
Ergänzend dazu las ich mehrere Beiträge im pädagogischen Fachmagazin wamiki unter der Überschrift „Mit Kindern denken – Anregende Interaktionen gestalten“, Heft 5/2022, S. 14-24
2 (1) Hebenstreit-Müller, Sabine: Mit Kindern denken – Warum braucht Selbstbildung pädagogische Anregung? S. 10-27; (2) Hildebrandt, Frauke/Musholt, Kristina: Selbstbildung, Abrichtung oder Dialog – Wie kommen Kinder in den „Raum der Gründe“?, S. 28-47
3 Hebenstreit-Müller/Hildebrandt 2022, S. 9
4 Musholt in wamiki 5/2022, S. 20
5 Hebenstreit-Müller 2022, S. 14-16
6 Hebenstreit-Müller 2022, S. 21
7 Sylva, K./Melhuish, E./Sammons, P./Siraj-Blatchford, I./Taggart, B/Elliot, K.: The Effective Provision of Preschool Education Project – Zu den Auswirkungen vorschulischer Einrichtungen in England. In: Faust, G./Götz, M./Hacker, H./Rossbach, H. (Hrsg.): Anschlussfähige Bildungsprozesse im Elementar- und Primarbereich. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2004, S. 154-167
8 New Zealand Ministry of Education: Te Whāriki: He whāriki mātauranga mō ngā mokopuna o Aotearoa. Early childhood curriculum. Wellington: Learning Media 1996 (Neufassung 2017 online unter: https://www.education.govt.nz/assets/Documents/Early-Childhood/ELS-Te-Whariki-Early-Childhood-Curriculum-ENG-Web.pdf)
9 vgl. Carr, Margaret/Lee, Wendy: Lerngeschichten in der Praxis. Berlin: wamiki 2022
10 Schäfer in wamiki 5/2022, S. 16
11 Hebenstreit-Müller, Sabine 2022, S. 21
12 Hier können wir viel von der Praxis der Reggio-Pädagogik lernen.
13 Hildebrandt/Musholt 2022, S. 32
14 Ebd., S. 43
15 Hebenstreit-Müller 2022, S. 25
16 Schäfer, Gerd E.: Was ist frühkindliche Bildung? Kindlicher Anfängergeist in einer Kultur des Lernens. Weinheim/München: Juventa 2011, S. 69
17 Hildebrandt /Musholt 2022, S. 28
18 Schäfer 2011, S. 69
19 Musholt in wamiki 5/2022, S. 18
20 Hildebrandt/Musholt 2022, S. 29
21 Ebd., S. 31
22 Ebd., S. 37
23 Ebd., S. 29
24 Schäfer 2011, S. 74; siehe auch ders. in: Betrifft KINDER 8/9, 2008,
S. 7–15
25 Hebenstreit-Müller 2022, S. 25
26 Hildebrandt/Musholt 2022, S. 29
27 Vgl. z.B. Schneider, Kornelia: Forschendes Handeln von Babys und Kleinkindern entdecken. KiTa-Fachtexte 12/2017. Online unter: https://www.kita-fachtexte.de/forschendes-handeln-von-babys-und-kleinkindern-entdecken/uploads/media/KiTaFT_Schneider_II_2017-ForschendesHandeln.pdf
28 Ebd., S. 36f.
29 Schäfer, Gerd E.: Einführung in die Pädagogik der frühen Kindheit II. Frühe Formen des Denkens. O.J. Online unter: https://www.hf.uni-koeln.de/data/eso/File/Schaefer/Einfuehrung_in_die_Paedagogik_der_fruehen Kindheit_II.pdf, Folie 19
30 Ebd., Folie 5
31 Ebd., Folie 23
32 Ebd., Folie 46
33 bei der Fachtagung der „Forscherwelt Blossin“ Ende September 2022 (siehe wamiki 5/22, S. 14)
34 wamiki 5/22, S. 15
35 Hildebrandt/Musholt 2022, S. 43
36 Ebd., S. 37
37 Ebd., S. 39
38 Ebd., S. 37
39 Vgl. Wüstenberg, Wiebke/Schneider, Kornelia: Ich – Du – Wir. Wie Kinder in den ersten drei Lebensjahren ihre Beziehungen miteinander gestalten. Erkenntnisse aus Forschung und Praxis. Berlin: wamiki 2021, S. 18
40 Hildebrandt/Musholt 2022, S.43
41 Ebd., S. 37
42 Ebd., S. 40
43 Ebd., S. 41
44 Vgl. ebd.
45 Vgl. Wüstenberg/Schneider 2021
46 Hebenstreit-Müller 2022, S. 23
47 Ebd.
48 Vgl. Wüstenberg/Schneider 2021, S. 24 sowie 363f.
Kornelia Schneider, ist Erziehungswissenschaftlerin und Bildungsreferentin i.R.
Ihre Schwerpunkte sind: Frühe Bildung und Lerngeschichten, Situationsansatz, Pikler- und Reggio-Pädagogik, Raumwahrnehmung und Konfliktverhalten von Kindern.
Mehr unter: www.frueh-lernwerk.de
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In der Konsequenz bedeutet das: Weniger Predigt, mehr Denken und Handeln. Weniger Nicken, mehr Brainstorming und Debatte. Weniger Erlösungshoffnung, mehr Lust am Gelingen und Freude am Unvollkommenen.
Im Folgenden lassen Kornelia Schneider und Frauke Hildebrandt ihre Argumente sprechen und laden ein zum fachlichen Diskurs aus guten Gründen.
Wie lernen junge Kinder denken? Müssen Menschen überhaupt denken lernen? Welche Rolle kommt den Erwachsenen zu? Was sollten sie tun? Und was unterlassen?
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