Das Märchen von der Chancen­gleichheit im ­Bildungssystem

Es waren einmal zwei Kindertagesstätten am Rande einer großen Stadt – der „Kindergarten Goldfasan“ und die „Kommunale Kindertagesstätte Kirchenmäuse Römisch Zwei“. Der Kindergarten „Goldfasan“ befand sich in Trägerschaft einer unermesslich reichen Fee. Die Kita „Kirchenmäuse“ unterstand einer armen Fee, die ihre Kinder nichtsdestotrotz genauso lieb hatte.

Hier gibt es den Artikel als PDF: Das Märchen_wamiki_#5_2021

Eines Tages sauste die reiche Fee mit ihrem allerneusten Tesla Y an der Kita „Kirchenmäuse“ vorbei, stoppte scharf und gewahrte die arme Fee am ramponierten Klettergerüst, das aus dürren Stöcklein und alten Paketschnüren zusammengebastelt war. „Ei, liebe Fee“, höhnte sie, „wie ärmlich dünkt mich euer Kindergärtlein! Schämt ihr euch nicht, euren Kindern den Weg in die Zukunft zu verbauen? Man sollte den König bitten, euer Haus zu schließen.“ Trotzig entgegnete die arme Fee: „Unsere Kinder werden im Leben zu Glück und Wohlstand gelangen, weil wir sie in Liebe und Wärme aufwachsen lassen, statt sie mit schnödem Mammon zu blenden.“ Da schnaubte die reiche Fee: „Das wollen wir mal sehen! Wir treffen uns in 50 Jahren wieder! Dann wägen wir ab, welche Kinder es im Leben zu mehr Glück und Wohlstand gebracht haben. Wer aber gewinnt, der nimmt das Haus der anderen in Trägerschaft!“ „Abgemacht“, murmelte die arme Fee, griff sich eine Rolle Billig-Packband und flickte den Sitz einer kaputten Schaukel.

Flugs eilte die reiche Fee in ihren Kindergarten, kippte einen Haufen Goldstücke auf den Tisch des Personalraums und befahl den Erzieherinnen: „Kauft davon die teuersten Spielwaren aus dem güldenen Kindergartenausstatter-Katalog! Stellt top-ausgebildete Spezialkräfte ein, bilingual, digital und mit einschlägiger Vorbildung in sämtlichen Erfolgsberufen, um den Betreuungsschlüssel auf eins zu drei zu heben – oder gleich drei zu eins? Lasst die Innenräume unseres Hauses von den besten Designern in Themenwelten verwandeln, ersetzt den Flur durch eine begehbare Skulptur aus hochglanzpoliertem Sichtbeton wie auf dem Cover einer Architekturzeitschrift! Schafft mir überall bodentiefe Fenster zum Garten, der wie ein skandinavischer Steinstrand mit grobem Kiesel, Edelbauminseln und Trockenrasenmatten gestaltet wird!“ Da taten die Bediensteten der Goldfasane, wie ihnen geheißen.

Zur gleichen Zeit schlich die arme Fee mutlos in ihr bescheidenes Häuschen. „Meine Lieben“, sprach sie zu den Mitarbeiterinnen und dem einen Mann, „gegen die Goldfasane sind wir leider chancenlos. Lasst uns einfach so weitermachen wie bisher und jeden Tag gegen neue Herausforderungen ankämpfen. Apropos: Kann jemand sich trotz Überstunden um den Bauraum kümmern – zumindest wenn der Brandschutzbeauftrage die teileingestürzte Hochebene untersucht?“

Wie über Nacht verwandelte sich der Kindergarten „Goldfasan“ in einen glänzenden Pädagogik-Palast. Glücklich errichteten die Jungen im Bauraum mit beleuchtbaren Magnet-Glitzerbausteinen fantastische Turmkonstruktionen und erkundeten in Original Star-Wars-Kostümen die Intergalaxis-Ecke der Rollenspielhalle, während die Mädchen die nach dem Vorbild von Influencerinnen gestalteten Barbie-Unikate mit winzigen Sneakers beschuhten und in der Küche aus dem von toskanischen Bauern biologisch erzeugten Dinkelmehl Cupcakes im sechsflammigen Herd buken, gefüllt mit allerfeinster Trüffel-Creme.

Derweil knaupelten die Kirchenmäuse die letzten Reste der Raufasertapete von der Wand, um Pappmaschee herzustellen. „Ei, daraus lässt sich trefflich formen“, freute sich die kleine Cemile und baute mit den anderen Mädchen und Jungen eine riesige Miniaturwelt.

Nach einigen Tagen lief bei den Goldfasanen alles wie am Schnürchen – zumindest in den Augen der reichen Fee. Ein Medienraum war ausgestattet, in dem ein 3D-Drucker unablässig Filament zu kleinen Zylindern und Würfeln braute, während codierbare Roboter auf einem Parcours durch den Raum gelenkt wurden. Derweil dozierte im Forscherraum ein richtiger Professor, angelockt von einem selbst für seine Verhältnisse unglaublichen Honorar, über die homogenkatalytische Synthese von Ethanol aus Wasser und Ethen. Im Cosmopolitan-Room hingegen begrüßte eine neue Pädagogin die Kinder: „Hellou, eim Marnie, änd ei ounli tohk inglisch tu ju! Du ju andaständ mi?“ Verunsichert wichen die Kinder in die hintere Ecke des Raums zurück, wo noch ein paar vergessene Holzbausteine lagen – vergebens. „Die sammeln wir sofort ein“, sprach Hermann, ehemaliger Key-Account-Manager aus Harvard. „Benutzt bitte die interaktiven, per iPad steuerbaren LEGO-Digital-Bricks.“

Nach einigen Monaten hatte sich die Besucherschaft beider Häuser verwandelt. Wer in der Stadt etwas auf sich hielt, brachte sein Kind zu den Goldfasanen – oder besser: ließ es fahren. Wem Ernährungskonzept, Rundum-Bildung in vier Sprachbädern, Entspannungstechniken, Instrumentalunterricht mit Dranbleib-­Garantie und Ballett-Grundkurs egal war, ließ sein Kind von den ­Kirchenmäusen betreuen und scherte sich wenig um deren Arbeit. Was dazu führte, dass die Pädagoginnen und der wackere Mann freie Hand beim Gestalten des Tages hatten: Als man mal wieder wochenlang auf neues Material wartete, beschloss man beispielweise, ganze Tage im nahen Wald zu verbringen, wo Ast und Stein, Bach und Baum die Kinder zu immer neuen Spielen verlockten.

Derweil schrien die Eltern der Goldfasane nach immer mehr verbindlichen Bildungsangeboten: „Könnte man nicht die Pause zwischen Mittagsyoga und Wirtschaftsportugiesisch – Brasilien ist ja schwer im Kommen, sagt Focus Money! – mit einem speziellen Schach-Training füllen? Thorben scheint mir in letzter Zeit allzu sehr von der sizilianischen Eröffnung nach Egmold ermüdet zu sein…“

Es kam, wie es kommen musste. Die armen Kirchenmäuse spielten sich im Wald und in den kärglichen, aber Freiraum bietenden Räumen schlau. Sie lernen in ihrer Gruppe Diversität kennen, entwickelten kluge Projektfragen und fanden Antworten in abgegriffenen Bibliotheksbüchern, denn WLAN gab es für sie nicht. Derweil entwickelten sich die dauerbeschallten Goldfasane zu passiven Wesen, die ständig neue Lerninhalte an sich vorbeiziehen ließen. In der Schule machten sich die Kirchenmäuse prächtig und wurden zu Einserschülern, während die Goldfasane beim Fremdsprachunterricht alle Sprachen durcheinanderbrachten, jegliche Musikinstrumente hassten und von zahlreichen Nachhilfelehrern mühsam zum Schulabschluss getragen werden mussten.

Wie verabredet, trafen sich die reiche und die arme Fee nach 50 Jahren wieder. „Ich bin recht stolz auf das, was ich erreicht habe“, sprach die arme Fee. „Viele meiner Kinder machten gute Abschlüsse, einige studierten. Die meisten sind wirklich zufriedene Mittelständler-Sprechpause-Innen geworden.“ „Ach je“, sagte die reiche Fee bedauernd, „meine haben es schwer gehabt, trotz der ganzen Förderung.“ „Es ist also nichts aus ihnen geworden?“ fragte die arme Fee mitleidig. „Nichts geworden? Bei den geerbten Schätzen?“ lachte die reiche Fee. „Aufsichtsratschef und Unternehmergattin, Starjurist und Immobiliengroßbesitzerin sind sie geworden! Mit Villen, soweit das Auge reicht! Und glücklich ist jeder Mensch, wenn er am Steuer seiner Yacht steht!“

„Dann habe ich also verloren…“, stammelte die arme Fee. „Ja, aber deine Kita lass ich dir. Sonst würden sie ja alle zu uns kommen, die armen Schlucker“, verkündete die reiche Fee gnädig und fuhr los, um ihren Kindern eine Runde Trüffel-Kanapees zu spendieren.

Fotos: Karn, rawpixel.com / Beate-Helena / Photocase.com, aussi97 / Photocase, rawpixel.com /

Michael Fink ist Autor und Fortbildner.

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