Das Whatsapp- Seminar

Die Kita Bienenschwarm in Michelstadt/Odenwald auf neuen Pfaden – erste Erfahrungen mit einem Kitaseminar per Smartphone während der Corona-Krise in 2020

 

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Dieser Artikel dient als Werkzeug. Ich möchte ihn nutzen, um zu reflektieren, was durch die plötzlichen Veränderungen – insbesondere durch das Gebot der sozial-körperlichen Distanzierung – im Bereich Weiterbildung (un)möglich geworden ist. Und ich möchte ihn natürlich nutzen, um diese Erfahrungen zu teilen.

Die Vorgeschichte

Das ursprüngliche Seminar, eine Konzeptionswerkstatt mit viel Anschauungsmaterial und echtem Sozialkontakt, war seit etwa einem Jahr geplant gewesen. Die Zugtickets lagen schon bereit, das kleine Hotel in der Innenstadt war reserviert. Aufrichtige Vorfreude, denn wir arbeiten schon eine Weile zusammen.

Wann ahnte ich, dass es ausfallen wird? Ich glaube, mein persönlicher Groschen fiel in einem Seminar in einer Berliner Kita Anfang März 2020: Über 40 Leute auf engstem Raum, mittags Fingerfood von einem gemeinsamen Buffet, heute unvorstellbar. Ich aß meine eigene Stulle und dachte: Nicht gut, was sich da an den Tischen abspielt! Aber sie hatten sich so viel Mühe gegeben. Regeln und Auflagen gab es damals noch keine. Nur ein mulmiges Gefühl, verstohlene Blicke. Individuelle Vorsichten.

Am zweiten Tag brach die Leiterin die Veranstaltung auf halber Strecke ab. Der Auslöser war der Anruf einer Erzieherin, die am ersten Tag noch teilgenommen hatte. Sie lag mit Grippesymptomen danieder, war in einem dieser Clubs gewesen, in dem es so viele Infektionen gegeben hatte. Zwar nicht zum fraglichen Zeitpunkt, doch… wer weiß. Wir sollten alle nachhause gehen. Die Leiterin war ruhig und souverän. Sie würde sich melden, sobald die Testergebnisse der Kollegin da wären. Drei Tage später wussten wir, sie waren, glücklicherweise, negativ.

Es war das erste Erlebnis von Schreck, Ernstfall und persönlichem Betroffensein. Ich ahnte ganz allmählich, dass dem ein Erdrutsch folgen könnte. Waren nun alle meine Seminare in Frage gestellt?

Sie waren es. Ein Verschiebungsgesuch nach dem andern in den Folgewochen. Auch das Seminar in Michelstadt, durch die dortige Stadtverwaltung, mit ausdrück­lichem Bedauern. Die Kitaleiterin (Heidi Birkenstock, im Folgenden Heidi genannt) und ich wollten es nicht richtig glauben. Wir telefonierten, seufzten, fluchten, spannen herum. Am Ende stand die Idee im Raum, zunächst nur zum Spaß, das Seminar einfach über Whatsapp (WA) zu probieren.

 

 

Das Experiment

Warum Whatsapp (WA)? Die Kolleg*innen dieses Kitateams sind zuhause nicht alle mit einem PC ausgestattet. Smartphone und WA haben hingegen alle und sie sind gewieft im Umgang damit. Heidi und ich rechneten mit unseren Fingern: Da haben wir Audio, da haben wir Film, da haben wir Text und da haben wir Bild. Gar nicht so schlecht. Ich debattierte mit Freunden über den mangelhaften Datenschutz von WA, das ja zu facebook gehört. Doch ich muss mir eingestehen, dass ich nur mit halbem Ohr zuhörte. Ich wollte es einfach ausprobieren. Es gab auf die Schnelle keinen anderen Weg. Jetzt hätten alle Zeit zusammenzuarbeiten. Auch wenn wir uns nicht physisch begegnen würden, so wären wir doch intensiv in Austausch, könnten vieles in die Tiefe denken. Ein Seminar mit den Methoden aus meinem Buch „Die Konzeptionswerkstatt in der Kita“ war vereinbart gewesen. Ließe sich da nicht einiges machen? Es war ein Experiment, inwieweit ich, die so gern anschaulich und mit viel Krempel arbeitet, auf diesem ungewohnten Wege etwas zustande- und voranbringen könnte.

Nachdem wir eine Nacht darüber geschlafen hatten, beschlossen Heidi und ich, der zuständigen Sachbearbeiterin der Stadt, Stéphanie Lang, einen entsprechenden Vorschlag zu machen. Wir würden meine Arbeitsstunden entsprechend der zwei Seminartage auf 14 Tage strecken, zum selben Preis. Im Nachhinein stellte sich dies als unterkalkuliert heraus, denn den Prozess einer Kita über Wochen zu begleiten ist etwas anderes, als punktuell und konzentriert vor Ort zu sein. Dennoch war es eine Situation, von der beide Seiten profitierten: Die Kita, weil das Seminar nun doch stattfinden konnte und zwar, wie sich bald zeigen sollte, weitaus intensiver als hätten wir nur zwei Tage vor Ort miteinander verbracht. Und ich, weil ich ad hoc und bezahlt ein Seminarformat ausprobieren konnte, das zu erproben zuvor nicht möglich gewesen war.

Den Rahmen finden

Stéphanie Lang hatte Vertrauen in uns und sagte zu. Die Erzieher*innen waren mittlerweile alle in „Homeoffice“. Sie hatten jeweils unterschiedlich viele Stunden abzuleisten, zwischen drei und acht, je nach Vertrag und persönlicher Situation. Durch unser WA-Seminar nutzten sie diese Arbeitszeit sinnvoll und zusammenhängend, statt nur im Standby-Modus zu sein oder lauter Aufgaben zu erhalten, die nach einer Weile vermutlich einer Beschäftigungstherapie geglichen hätten.

Wir trafen zunächst folgende Verabredungen für den Rahmen: Täglich würde das Team zu 8 Uhr eine Aufgabe und ggfs. Rückmeldung über WA von mir erhalten. Zu 16 Uhr würden sie selbst das in die Gruppe schicken, was sie tagsüber erarbeitet hatten. Ich würde nicht Teil der WA-Gruppe sein, damit ich ggfs. nicht mit der Kommunikation über andere Kitathemen behelligt würde. Leiterin Heidi, die stellvertretende Leiterin Elena und ich bildeten eine eigene WA-Gruppe. Die beiden leiteten die Nachrichten unermüdlich hin und her. Das war zugegebenermaßen umständlich, doch es hat funktioniert und wir haben daraus gelernt. Nach ein paar Wochen fanden wir einen anderen, weitaus einfacheren Weg, doch dazu später.

Haupt- und Nebenanliegen klären

Das Hauptanliegen von Stadt und Kita war, dass das Team in absehbarer Zeit endlich eine eigene, von allen gemeinsam entwickelte Konzeption in den Händen halten und damit arbeiten könnte. Zudem, dass es durch das gemeinsame Erarbeiten weiter zusammenwachsen würde. Das Bienenschwarmteam hatte, wie so viele Kitas, eine veraltete Konzeption im Büro liegen, die weder Team noch Eltern nützte.

Es war an der Zeit, sich zu sortieren und herauszufinden, auf welche Weise und inwieweit alle pädagogisch an einem Strang würden ziehen können. Eine Kita-als-Dorf-Werkstatt, wie in meinem Buch „Kita als weltoffenes Dorf“ beschrieben, lag bereits zwei Jahre zurück. Wie würde sich der Dorfgedanke auf die niedergeschriebene Konzeption auswirken? Welche Klarheiten gäbe es zu feiern? Welche Unklarheiten würden aufploppen?

 

Ein Nebenanliegen von meiner Seite war der Wunsch, die Kolleg*innen persönlich zu stärken, in dieser Zeit der Verunsicherung durch die Pandemie und die täglichen Horrormeldungen in allen Medien. Das Seminar sollte der besonderen Situation gerecht werden. Ich wollte nichts Unmögliches verlangen, sondern im Idealfall erreichen, dass unsere Arbeit zwar herausfordert, doch uns zugleich auch ein wenig stabilisiert. Einfach, weil wir etwas Sinnvolles gemeinsam tun. Und weil ich Methoden wählen wollte, die dazu beitragen können, sich zu „erden“ und als ganze Person beteiligt zu sein, mit Herz und Hand, von Kopf bis Fuß.

Sinnlich arbeiten – digital kommunizieren

Nachdem ich alle begrüßt und die geplante Arbeitsweise per Video präsentiert hatte, ging es gleich los mit dem ersten sinnlichen Arbeitsauftrag. Die Kolleg*innen waren eingeladen, irgendeinen Kern aus ihrem Haushalt eingehend zu untersuchen. Ob Apfel- oder Nusskern, irgendetwas fanden alle. Welche Eigenschaften hat ein Kern? Diese Übung war dazu gedacht, die Arbeit mit einem konzeptionellen Kern vorzubereiten und diesen später gemeinsam zu entwickeln. Die Vorgehensweise habe ich in meinen Büchern* ausführlich beschrieben. Es geht darum, die Wertorientierung eines Teams und das Grundanliegen, das in der Gestaltung sämtlicher Bereiche des Kitaalltags zum Ausdruck kommt, in einem einzigen, griffigen Satz zu bündeln. Ich verzichte in diesem Artikel darauf, die Methoden ausführlich zu beschreiben und den gesamten Seminaraufbau lückenlos zu skizzieren. Es geht mir eher um etwas Übergeordnetes. Welche Möglichkeiten der Zusammenarbeit gibt es in Zeiten einer Pandemie? Was gibt es zu entdecken? Lassen sich sogar einige Vorteile ausmachen?

Ein erster Vorteil sei gleich genannt. In außergewöhnlichen Situationen sind Menschen offen für neue, außergewöhnliche Wege. Allen ist klar, dass herkömmliche Herangehensweisen nicht funktionieren können. Kreativität ist gefragt, manche nennen es Notlösungen. In jedem Fall haben innovative Ideen es leichter, Gehör zu finden.

In meinem Fall setzte ich von vornherein auf ein Prinzip, das ich „Verschränkung statt Beschränkung“ nennen möchte. Ich wollte uns nicht auf digitale Arbeitsweisen beschränken, sondern diese mit sinnlichen Arbeitsweisen verschränken und verknüpfen. Ich wünschte mir, dass die Kolleg*innen sich mindestens so schöpferisch erleben wie in Präsenzseminaren mit Kleingruppenarbeiten und Forum. Dies wollte ich durch Methoden und Aufgaben mit Materialien erreichen, die in jedem Haushalt oder in der Natur vorhanden sind: Eine Badezimmertür kann wie ein Din A2 Karton oder wie ein Flipchart mit Karten und Klebestreifen bestückt werden. Wer keine Karten hat, beschreibt Filtertüten von der Kaffee­maschine. Wer keinen Marker hat, schreibt die Nachricht mit Lippenstift auf den Spiegel und fotografiert es ab. Somit ermöglicht ein solches Seminar zahlreiche haptische und gestalterische Freuden und kleine Erfolgserlebnisse am Rande. Nicht zuletzt das gemeinschaftlich gestaltete Cover der Konzeption. Alle trugen ein Puzzle­stück dazu bei.

Auf sich gestellt sein als Vorteil

Eine Überraschung war für mich, die Einzelarbeit der Erzieher*innen als Gewinn zu erleben. Viele der Teilnehmenden haben mir das ähnlich zurückgespiegelt.

In Präsenzseminaren überwiegen normalerweise die Kleingruppenarbeit und die Arbeit im großen Kreise aller. Beim WA-Seminar überwog die Einzel- und die Paararbeit, denn zu zweit lässt es sich noch unkompliziert am Telefon arbeiten. Es war also nicht mehr möglich, sich hinter einer Gruppe von vier bis sechs Leuten zu verstecken. Jede einzelne Person wurde sichtbar. Das erforderte persönlichen Mut und alle brachten ihn auf. Wenn um 16 Uhr die Ergebnisse des Tages hochgeladen wurden und nach und nach – pling pling pling – auf meinem Smartphone landeten, war ich oft tief beeindruckt. Nicht nur von dem Geleisteten selbst, sondern von der persönlichen Auseinandersetzung, die sich darin zu erkennen gab. Manchmal war freilich auch ein entschuldigender Kommentar beigefügt: Heute war nicht so mein Tag, soweit bin ich immerhin gekommen!

Rückmeldekultur entwickeln

Vom ersten Tag an war klar, dass diese Art von Seminar eine besonders aufmerksame Rückmeldekultur benötigt. Wenn die Teilnehmenden ihre Werke und Gedanken täglich mit einem Klick auf eine virtuelle Bühne befördern müssen, ohne die Reaktionen der anderen wie gewohnt anhand von Mienenspiel, Kommentar oder Applaus ablesen zu können, brauchen sie Vertrauen. War es bereits vorhanden? Musste es erst geschaffen werden? Ich vermutete beides und nahm mir vor, noch mehr als sonst, von Anfang an für eine ebenso lern- wie fehler­freundliche Atmosphäre zu sorgen.

Das bedeutete unter anderem, den Kolleg*innen Rückmeldung per Audio zukommen zu lassen. Ich sprach die Arbeiten und die geschilderten Prozesse und Fragen direkt an. Häufig in einem Clip an die gesamte Gruppe, wobei ich auf einzelne Arbeiten und Personen einging. Manchmal auch durch kleine Audios an einzelne Personen, die Heidi oder Elena an die betreffende Person weiterleitete, wenn mich eine Einsendung besonders beschäftigt hatte. Immer wieder mal bekam ich eine Reaktion oder einen Dank auf genau diesem Wege zurück. An anderen Tagen wählten wir Bilder und Worte als Ausdrucksmittel. So zum Beispiel im April. Ich schlug vor, dass wir uns vor den Feiertagen ja eigentlich noch mit einem Ostergruß beschenken könnten. Wir luden jede*r ein Foto hoch. Thema: Ich, mit etwas, das mich stärkt und erfreut. Von Hunden, über Kinder und Enkelkinder bis hin zu selbstbemalten Ostereiern war alles dabei.

Souverän stolpern

Einmal kamen zwei Audios von einer engagierten, älteren Teilnehmenden an die gesamte Gruppe. Sie erfreuten mich den Rest des Abends. „They made my day“. Wir hatten verabredet, die an diesem Tag entstandenen Texte nicht nur einzustellen, sondern sie laut vorzulesen. Die erste Sendung der Kollegin war derart voller Versprecher und Verleser, dass sowohl die Vorleserin als auch ich den Faden verloren. Schließlich brach sie ab. Die zweite Sendung begann souverän und in aller Ruhe mit dem Hinweis, dass so etwas passiert, wenn man seine eigene Schrift und seine eigenen Korrekturen nicht mehr lesen könne. „Jetzt also nochmal…“ und dann ging es flüssig durch die inzwischen überarbeitete Vorlage. Wunderbar!

Ich grinste über beide Ohren und zog den Hut davor, wie selbstverständlich und gelassen sie die verworrene Situation wieder eingefangen hatte. Wir waren auf dem Weg zu Champions der Fehlerfreundlichkeit zu werden.

Senf tauschen

Eine Methode, die Teilnehmenden dazu einzuladen, auch untereinander mit Rückmeldungen nicht zu sparen, war der sogenannte Senf. Sie war entstanden, um von der Idee wegzukommen, dass es um Bewertung ginge, gar um versteckte Noten, anstatt um Austausch und um ein gemeinsames Annähern an gemeinsame Ideale und Qualitätsmerkmale in der pädagogischen Arbeit. Ich hatte per Foto ein Beispiel eingestellt: Stichpunktartige Rückmeldungen zu einem exemplarischen Text, auf einen Zettel notiert, der die Überschrift „Senf zu …“ trug. Er war an einer Ecke mit einem Glas Senf beschwert. Durch die Formulierung „Ihr seid herzlich eingeladen, ebenfalls euren Senf hier und da hinzuzufügen“ wurden die Rückmeldungen weniger als besserwissende Korrektur bewertet. Es kam zum Ausdruck, dass sie auch „nur“ aus Gedanken von Kolleg*innen zum selben Thema bestehen. Aus ihrem Senf eben. Die Teilnehmenden ahmten meine Ästhetik und Veranschaulichung zum Teil nach, einige legten munter Senftuben oder ähnliches aus ihrem Kühlschrank auf ihre eingestellten Rückmeldezettel.

Postkarten schreiben

Ein Geschenk waren für mich die Rückmelde-Postkarten nach der ersten WA-Seminarwoche. Ausschlaggebend war das Gefühl gewesen, selbst viel Rückmeldung und Ermutigung gegeben zu haben. Mir hingegen fehlte ein Echo zu unserer Arbeit auf der Metaebene: „Wie geht’s euch gerade mit dem, wie wir hier arbeiten? Mit dem Tempo? Mit dem, was ich euch vorschlage? Scheint es euch sinnvoll? Macht es euch Spaß?“ Ich schlug vor, dass sie mir jeweils eine Postkarte schreiben sollten, auf der sie ihr Resümee notierten. Alternativ dazu könnten sie es auch per Audio tun, wie ich das selbst bisher gemacht hatte.

Das Ergebnis war überwältigend. Zum Wochenende hin bekam ich x Fotos von kreativen Postkarten, zum Teil mit Blumensträußchen garniert oder sonstigen schönen oder lustigen Gegenständen. Die Kolleg*innen waren alle bei der Sache, bis auf eine, da hatte Heidi eine Krankschreibung erhalten. Eine Woche später stieß auch diese Erzieher*in wieder zu uns.

Zwei oder drei Teilnehmende hatten mir ihre Rückmeldung per Diktiergerät geschickt. Auch das war ein echter Zugewinn. Denn die eine Kollegin war neu im Team und ich hatte noch nie ihre Stimme gehört. Nun hatten wir beiden den Eindruck, uns ein bisschen kennengelernt zu haben. Einfach nur durch die einander zugewandten Stimmen. Die andere sprudelte in ihrer Audiorückmeldung so munter drauf los, dass ich mich danach fühlte, als sei ich gerade bei ihr und ihren zwei Kindern zuhause in der Küche gewesen.

Kinder mitdenken

Zum Inhaltlichen der Rückmeldungen: Gefühlt 90 Prozent der Teilnehmenden schienen Stil und Tempo zu passen und zu gefallen. Einige Kolleg*innen hatten das Gefühl, es sprenge den ihnen zur Verfügung stehenden Zeitrahmen, was sich leicht klären ließ. Peinlich war mir, dass ich nicht auf dem Schirm gehabt hatte, wie viele der Kolleg*innen zuhause ihre Kinder betreuen oder beschulen. Ausgerechnet ich. Zwar hatte ich in einer Einsendung einer Kollegin die Mitwirkung eines Kindes gesehen, doch insgesamt die Kinder nicht mitgedacht. Fortan erwähnte ich sie oft bei meinen Aufgabenaudios, versuchte manche Jobs so zu verändern, dass Kinder mit einbezogen werden konnten oder schickte ein Klatschlied, das die Erzieher*innen mit ihren Kindern singen konnten, bevor sie sich ihren jeweiligen Herausforderungen zuwandten, so gut und so lange und wann es eben möglich war.

Wie sich herausstellte, grübelten die Erzieher*innen ihrerseits ebenfalls, parallel zu unserer Konzeptionswerkstatt, über die Frage, wie sich wiederum die Kitakinder trotz einer überlangen Schließzeit eingebunden und gesehen fühlen können. Sie versandten zu verabredeten Zeiten Bienenschwarm-Post mit Grüßen und Anregungen wie „Pusteblumen haltbar machen“ oder den Auftrag, eine bestimmte Baumgruppe, von der die Familien ein Foto bekamen, aufzusuchen. Diese war in der Nähe des allseits bekannten Waldplatzes der Kita. Die Familien waren eingeladen, bei Spaziergängen jedes Mal etwas Neues zu hinterlassen, so dass der Ort zunehmend einer Geschichtenkulisse für Waldgeister glich und den Namen Wichtelhausen bekam. Die Idee dazu war über Hörensagen ans Team gelangt.

Apropos Rückmeldekultur. Ich hoffe sehr, das Team hat seinerseits für den beschriebenen fantasievollen Brückenschlag Anerkennung und Feedback von den Kindern und ihren Familien erhalten.

(Nicht) hörbar sein

Wer sich lange nicht räumlich-körperlich begegnet und nur digital kommuniziert, fragt sich früher oder später was fehlt. Was genau ist es, was den unmittelbaren Kontakt so unersetzlich macht? Sind es Randbemerkungen und Nebengespräche? Ist es die gemeinsam verbreitete Körperwärme? Sind es Gerüche? Ist es die gemeinsam erzeugte und erlebte Atmosphäre? Sind es die wechselnden Stimmungen oder ist es die eine oder andere Situationskomik zwischen den Arbeitsphasen?

Als Referentin spüre ich bei Präsenzseminaren in Kitas immer ein mächtiges unterirdisches Gurgeln. Vielleicht vergleichbar mit dem Rauschen, Sprudeln und Tröpfeln in der schwäbischen Alb-Unterwelt, die den dort vielfach zu findenden unterirdischen Höhlen, Quellen und Flüsschen zu verdanken ist. Bei Im-Haus-Seminaren in Kitas speist sich der Klangteppich, so leise er auch sein mag, aus den Feinkonstellationen der Beziehungen untereinander, die alle ebenfalls irgendwie im Untergrund fließen, sprudeln und blubbern und die alle ihre jeweils einzigartigen Vorgeschichten haben. Er speist sich weiterhin aus Frust und Lust und Schäker. Das große Zusammensein ist für die einen eine Bühne, für die anderen der perfekte Rückzugsort. All dies fällt in einem WA-Seminar einfach weg. Es wird, in diesem Sinne, still. Das ist angenehm und das verblüfft. Es erleichtert die Konzentration aufs Wesentliche. Auch wenn ein bisschen von dem Beschriebenen durchaus fehlt.

Schallwellen weiterleiten

Dem Bedürfnis danach, einander lebendig und mit allen Stimmen, Stimmungen und Schwingungen zu begegnen, war es wohl geschuldet, dass Kitaleiterin Heidi mir eines Tages whatsappte, wie sehr sie sich über meinen eingelesenen Text im letzten Audio ans Team gefreut habe. „Es war so schön, einfach mal wieder deine Stimme zu hören!“ Sie schlug deshalb vor, dass die Kolleg*innen ihre Texte diesmal ebenfalls laut vorlesen und als Audio hochladen sollten. Also nicht nur als Foto ihrer Handschrift oder als Word-Datei einstellen.

Beim Thema Rückmeldekultur erwähnte ich es bereits: Stimmen transportieren viel mehr und zudem etwas anderes als der reine Text. Stimmen bestehen aus Schwingungen, aus Schallwellen, die etwas über ihren Resonanzraum verraten. Sie lassen sich messen, natürlich, doch vor allem können wir sie einfach auf uns wirken lassen. Sie ermöglichen uns intuitiv, etwas von der ganzen Person zu erahnen und zu spüren, die spricht. Etwas, das weit über den Text hinaus geht. Ebenso spüren das diejenigen, die laut lesen. Da kommen plötzlich unerwartete Wahrnehmungen hinzu. „Ich kann meine Stimme nicht hören, doch meinen Text mochte ich!“ oder „Ich habe beim Lesen gemerkt, dass ich da gar nicht dahinter stehe. Ich konnte es mir nicht ‚schönlesen ‘. Ich habe gemerkt: Alles Blöff!“

Form als Inhalt erleben

Doch derlei Reflexionen gab es eigentlich erst später. Als am fraglichen Tag gegen 16 Uhr die Audiodateien bei mir eintrudelten, war es als hätte unser Seminar „Körper und Körperwärme“ bekommen. Alle Erzieher*innen schienen bei mir in der Wohnung zu Gast zu sein. Gut war es, zu wissen: Sie sind es in allen anderen Wohnzimmern auch. Gelegentliche Versprecher machten die Aufnahmen lebensnah. Gleichzeitig erinnerten sie daran, wie sehr die meisten von uns als Schulkinder eingeimpft bekamen, dass Stolperer beim Lesen Abzugspunkte zur Folge haben. So etwas bleibt haften bis ein Mensch 65 Jahre und älter ist? Ein weiterer Beweis für die Wucht und Bedeutung von diesem oder eben jenem pädagogischen Handeln. Erneut lag auf der Hand, wie wertvoll und folgenreich es für Kinder ist, wenn Erzieher*innen sich über konzeptionelle Inhalte austauschen und Verabredungen treffen, die Kinder stärken können, statt sie einzuschüchtern.

Höhepunkte auf Seitenpfaden kreieren

Unsere ausgedehnte Corona-Konzeptionswerkstatt gab uns reichlich Zeit. Manche Fortbildungsbausteine, die bei zwei- bis dreitägigen Seminaren in relativ kleinen Zeitfenstern auf Seitenpfaden abgehandelt werden müssen, konnten bisweilen einen ganzen Tag einnehmen. Welch ein Genuss. Ich hatte den Eindruck, dass es allen Beteiligten außerordentlich guttut, wenn sie die Dinge sacken lassen und sich Zeit nehmen, oder einen Arbeitsauftrag sogar auf einen für sie passenderen Moment verschieben können. Derlei Freiheiten sind sonst nie gegeben. Druck gab es natürlich trotzdem, er war vor allem selbstgemachter Natur. Alle wollten während der Schließung soweit wie möglich kommen, so dass wir am Ende der gemeinsamen Wochen zumindest die halbe Konzeption in den Händen halten würden. Auch die Finanzierung durch die Stadt war natürlich an konkrete Ergebnisse gekoppelt.

Dennoch. Einige Höhepunkte der Konzeptionswerkstatt konnten wir ausschließlich dadurch kreieren, dass wir mehr Zeit als sonst auf Seitenpfaden verbrachten. Ich skizziere einige Beispiele aus der Phase der Schreibwerkstatt:

Sprechende Bäume

Ziemlich am Anfang gab ich den Teilnehmenden den sogenannten „Baumauftrag“. Ich dachte, es würde ihnen guttun, hinaus in die Natur zu gehen – weg von den unentwegten Corona-Nachrichten aus Radio und Fernsehen – und sie gleichzeitig darauf vorbereiten, differenzierte Fachtexte zu schreiben. Zudem sollte die Übung die ­Kolleg*innen auf den sogenannten Kitabaum einstimmen, wie ich ihn in meinem Buch „Die Konzeptionswerkstatt in der Kita“ vorgestellt habe.

 

Die Erzieher*innen waren eingeladen, spazieren zu gehen und einen Baum zu suchen, der sie besonders anspricht. Sie sollten ihn mit Muse betrachten und mit Neugier untersuchen – um ihn anschließend schriftlich so detailliert wie möglich zu beschreiben. So detailliert, dass er sogar Menschen, die noch nie einen Baum gesehen haben, beim Lesen klar vor Augen stehen würde.

Schon ab 14 Uhr trafen hinreißende Baumtexte bei mir ein. Der Tag wurde mir zum virtuellen Waldtag. Die Texte stellten die Ausdrucksfähigkeit des Teams unter Beweis. Als wir begannen, verstärkt mit Tonaufnahmen zu arbeiten, lasen die Kolleg*innen ihre Baumtexte nachträglich ein. Die Idee, eine CD mit Nebenprodukten zu produzieren, war längst geboren.

Sprechende Dinge

Eine weitere Übung der Schreibwerkstatt war die sogenannte 10/1/10-Übung. Die Kolleg*innen konnten sich einen Gegenstand aussuchen, der ihnen gerade besonders ins Auge fällt. Ob Blumentopf oder Sofakissen, alles war ok. Sie sollten diesen Gegenstand nun drei Mal auf drei verschiedenen Zetteln beschreiben. Einmal hatten sie dafür 10 Sekunden Zeit. Beim nächsten Zettel eine Minute und beim dritten Zettel 10 Minuten. Die 10-Minuten-Texte waren voller Leben, Tiefenschärfe, Gefühl und Humor. Allen wurde deutlich, dass es immer lohnend ist, sich (irgend)einer Sache eingehender zu widmen, ganz genau hinzusehen. Der Blick auf einen beschriebenen Gegenstand verändert sich für immer. Eine Beziehung ist hergestellt oder wird den Schreibenden auf neue Weise bewusst.

Sprechende Menschen

Von den Bäumen über die Dinge zu den Menschen. Die letzte vorbereitende Schreibwerkstattübung hätte genauso gut Teil eines Seminars zu Be(ob)achtung und Dokumentation sein können. Die Methode nenne ich „Verbenkind“. Ich bat die Kolleg*innen in den ersten beiden Vormittagsstunden einen Menschen so aufmerksam zu beachten, dass sie danach dessen Morgen entlang all der Verben erzählen könnten, die sie sich während der Be(ob)achtung notieren sollten. Als „Objekte der Beachtung“ kamen in Frage: die eigenen Kinder, Partner*innen, die eigenen Eltern, Mitbewohnende, Nachbar*innen im Garten, oder man selbst. Wie zuvor ging es um feines und differenziertes Beschreiben. Diesmal kam zudem Empathie ins Spiel. Ein Mensch ist kein Baum und kein Roller. Wahrnehmung und Wortfindung für Fortgeschrittene!

Ich werde diese Texte nicht wieder vergessen, zumal die Erzieher*innen auch sie, wie für ein Hörbuch, eingelesen hatten. Es gab: einfühlsame, berührende Selbstbeschreibungen. Einen Text über die bereits sehr alte Mutter einer Erzieherin auf literarischem Niveau. Die Beschreibung eines Ehepartners, so ungeschminkt, dass ich befürchtete, er könne mich abends wegen der indiskreten Hausaufgabe anrufen und sich beschweren. Wunderbar individuelle Beschreibungen von Kindern und ihrem Tun. Ich sah die Protagonist*innen alle vor mir, als ich las und las und las. Unbedingt auf die CD!

Koordinierende Leiter*innen

Mit der Zeit lernte ich also die Kolleg*innen, ihr persönliches Umfeld und ihr Denken auf eine Weise kennen, die mir bei normaler Seminartätigkeit immer vorenthalten blieb. Hilfreich dabei war mindestens eine zweite Person, die den Prozess auf einer anderen Ebene mitsteuerte und begleitete. Kitaleiterin Heidi hatte den Rundumblick und leistete in der gefragten Zeit viel kleinteilige Kommunikation mit allen Beteiligten und noch vielen weiteren Menschen. Während ich mich vorwiegend um Inhalte, Methoden und Rückmeldungen kümmerte, hatte sie mit ihrer Stellvertreterin Elena die Gesamtorganisation der Kita zu leisten. Das bedeutete, nebenbei zahlreiche Telefonate zu führen, eine neue Kollegin in die Kinder-Notdienst-Betreuung einzuführen … deren kitaübergreifenden Plan aufzustellen ebenfalls Heidis Aufgabe geworden war. Wann immer es möglich war, nahm sie dennoch die Aufgaben des Seminars mit wahr, so dass die Kolleg*innen spürten, sie geht den gesamten Weg mit und delegiert nicht weichenstellende Erarbeitungsprozesse an mich, eine externe Referentin.

Bald bildeten Heidi, Elena und ich eine eigene-WA-Steuergruppe und wir berieten gemeinsam sämtliche anstehenden Entscheidungen. Ich genoss den Rückhalt und auch, dass beide die Stärken und Unsicherheiten der Kolleg*innen erahnten und mich so davor schützten, Kolleg*innen zu überfordern oder sie mit völlig unpassenden Vorschlägen zu behelligen. Anders herum halfen sie mir, auf die individuellen Stärken im Team zugreifen zu können. Der eine zeichnet gern und gut, bei der nächsten flutschen die Texte, wieder eine andere ist zwar weniger wortmächtig, bringt jedoch soviel Fachlichkeit ein, dass diese während der Korrekturschleifen als „Best of Senf“ bezeichnet werden könnte.

Gefreut hat mich zudem die emotionale Offenheit zwischen uns. Sie nahm nicht viel Raum ein, aber es war wichtig einander sagen zu können: „Himmel, ich hab das Gefühl, wir müssten schon viel weiter sein!“. Und dann, einen Tag später: „Ich bin so stolz auf uns! Was wir schon alles geschafft haben! Davon zehren wir die nächsten zwei Jahre!“

Digitale Pinwände entdecken

Eine große Verbesserung unserer medientechnischen Abläufe begann, als wir uns entschlossen, eine digitale Pinwand zu nutzen, die sich auch vom Smartphone aus gut bedienen lässt: Padlet! Padlet veränderte unser (Seminar)Leben.

Bis dato hatte Heidi viel Zeit investiert, um täglich all die WA-Daten auf den PC der Kita zu verschieben und dort zu sortieren. Eigentlich eine Zumutung. Doch wir lernten eben beim Tun und Padlet hatte ich selbst erst im April 2020 kennengelernt.

Die Plattform macht es möglich, zu unterschiedlichen Themen virtuelle Tafeln zu erstellen und Texte, Fotos, Audios, Filme übersichtlich, nach Rubriken geordnet hochzuladen. Alles ist für alle einsehbar oder auch bearbeitbar, die den Link zu der Gruppe erhalten. Das Programm ist selbsterklärend und wird von Schulen und Weiterbildungsinstituten benutzt. Für uns war es ein Glücksfall. Seit wir damit arbeiteten sind die Struktur und die Ernte des Erarbeiteten für alle geordnet sichtbar – und das gab einen neuen Motivationsschub. Wir hatten quasi einen gemeinsamen Schreibtisch bekommen.

Korrekturschleifen und -knoten lösen

Auf diesem Schreibtisch lagen mittlerweile, säuberlich in die unterschiedlichen Rubriken einsortiert: x Fachtexte, x Stichpunktsammlungen und Mindmaps für Fachtexte, x ausformulierte Praxisbeispiele, x-mal „Senf“ zu dem Erarbeiteten, x Fotos, Entwürfe für das Deckblatt der Konzeption, Anfänge einer Corona-Ballade und einiges mehr.

Während die Kolleg*innen sich bei den Übungen der vorbereitenden Schreibwerkstatt alle als schreibgewandt und strukturiert erwiesen hatten, stellte sich heraus, dass sie sofort verunsichert sind, wenn der Begriff „Fachtext“ über ihren Formulierungen schwebt. Wir hatten zwei Teams gebildet. Ein Redaktionsteam, das aus den Stichwortsammlungen eines Arbeitsteams fließende Texte generiert. Beide Teams waren gleichrangig.

Heidi übernahm das Zwischen- und ich das abschließende Lektorat. Rasch wurde mir bewusst, dass ein Großteil dessen, was ich beim Lektorieren tue, Aufräumarbeit ist. Während es allen gelungen war, den konkreten Baum von der Wurzel bis zur Krone zu beschreiben, schien es eine Herausforderung zu sein, das pädagogische Denken von der Wurzel zur Krone zu beschreiben. Von der äußeren Klarheit zur inneren Klarheit. Warum machen wir was wann wie und warum? Diese einfachen Fragen waren es am Ende, die halfen und das Niveau der Schreibgruppe stetig verbesserten. Schicke pädagogische Füllworte galten allmählich als Nebelkerzen. Eine einfache klare Sprache setzt sich seitdem mehr und mehr durch. Mit ihr lässt es sich nicht mogeln. Sie bringt einfache, klare Gedanken zum Ausdruck.

Videokonferenzen nicht überbewerten

Erst nach ca. sechs gemeinsamen Arbeitswochen rangen wir uns zu einer Videokonferenz durch. Die Kita hatte von der Stadtverwaltung einen virtuellen Raum zur Verfügung gestellt bekommen, ähnlich wie Zoom. Da, wie gesagt, nicht alle Mitarbeiter*innen des Teams die nötige Technik zu Hause haben, machten wir die Konferenz nur im Redaktionsteam. Die anderen wussten um dieses Autor*innen-Rendezvous.

Zunächst war es einfach toll, sich zu sehen. Wir waren schon so einen weiten, sportlichen Weg miteinander gegangen und hatten uns nie live vor Augen gehabt. Das tat gut. Wir machten als Einstieg eine Runde, in der wir uns mitteilten, wie es uns gerade geht. Dann ging es ums Schreiben.

Ich hatte eine Textstelle aus Janusz Korczaks Buch „Wie man ein Kind lieben soll“ herausgesucht und las sie vor. Als Beispiel einer klaren, eindeutigen Sprache. Im ersten Moment schien das Redaktionsteam sich zu ducken. „Wir sollen wie Korczak schreiben können?“ Ich bildete mir ein, diese Frage in den Gesichtern zu lesen. Doch dann hörten sie den Text:

„Das Regal. Ein Regal kann die Tafel ergänzen. Wir haben im Waisenhaus noch kein Regal, aber wir halten es für notwendig. Auf dem Regal sollte Platz haben: Ein Wörterbuch … … …“

Es folgt eine ausführliche, begründete Beschreibung dessen, was in einem Regal für Kinder in der Klasse sein sollte.“ Kein Wort zu viel. Glasklar und einfach formulierte Gedanken, Anliegen und Pläne. Die Kolleg*innen schienen beeindruckt.

Geschriebene Worte sind sichtbar gemachte Gedanken. Deswegen erleben Schreibende, die sich nicht mit „Blabla“ zufriedengeben, wie eng ihre Tätigkeit mit persönlicher Entwicklung zu tun hat. Wir lesen uns, wir kommen uns auf die Schliche, wir entdecken Denklücken, Fragen und Mutmaßungen. Gut, dass die Mitglieder eines Redaktionsteams einander haben und sich ergänzen können.

Wir beendeten die Konferenz eher philosophisch als pragmatisch. Es war schön, diese gemeinsame Konzen­tration zu erleben. Ich hatte den Eindruck, die Einfachheit von Korczaks Worten hatte bei uns allen ihre Wirkung getan.

Kooperieren ohne Worte

Kurz bevor dieser Artikel seinen Abschluss fand, erhielt ich die Fotos von unserem gemeinsam gestalteten Corona-CD- und Konzeptions-Deckblatt. Alle hatten daran mitgewirkt, zur Erholung diesmal ohne Worte. Mein Beitrag war es gewesen, eine nahezu quadratische Fläche und eine schwungvolle Flächenaufteilung auf ein A4-Blatt zu zeichnen und bei Padlet einzustellen. Jede*r Kolleg*in war eine kleine Fläche zugewiesen, mit der Bitte, sie mit einem feinen schwarzen Filzstift auszugestalten. Gern mit Inhalten, die zur Konzeptionswerkstatt passen, aber das musste nicht sein. Ein bis zwei Freiwillige klebten das Ganze am Ende zusammen und colorierten es. Das Ergebnis kann sich nun sehen lassen und passt als kleines Gemeinschaftswerk zum Charakter der gesamten Unternehmung.

 

Das Fazit

Welch eine Erfahrung. Ich bin beeindruckt von dem intensiven Prozess und den vielen Ergebnissen aus dieser gemeinsamen Zeit. Ich möchte dem Team der Kita Bienenschwarm und der Stadt Michelstadt für die ungewöhnliche Zusammenarbeit danken.

Noch einmal auf dieselbe Art angehen würde ich das Ganze natürlich nicht. Jedoch ähnlich. Wesentliches Merkmal war das Herumspielen mit Kommunikationskanälen und Erarbeitungsmethoden. Dem würde ich immer treu bleiben. Ein Seminar dieser Art müsste ansonsten sicherer und wahrscheinlich auch etwas teurer werden.

Zur Sicherheit: WA lässt sich ohne weiteres durch ein ähnliches Produkt ersetzen, zum Beispiel durch Signal, das einen besseren Datenschutz bietet. Voraussetzung wäre demnach, dass sich alle Beteiligten das entsprechende Werkzeug herunterladen.

Padlet und Jitsi oder dergleichen wären zukünftig von Anfang an Teil der genutzten Medien. Auch dann, wenn ein Teil des Teams nicht damit zurechtkommt. Da der Schwerpunkt der Kommunikation auf einem Nachrichtendienst wie WA oder Signal liegt, wäre niemand ausgeschlossen, denn vereinzelt ist es immer möglich, für anderweitigen Informationsaustausch zu sorgen.

Die Art der Zusammenarbeit gab mir Energie, denn sie blieb immer spannend. Manchmal hatte ich ein schlechtes Gewissen, da mir klar ist, wie anstrengend wochenlange geistige Arbeit, wenn auch von kreativen Methoden getragen, für leidenschaftliche Praktiker*innen sein kann. Doch ich denke, die Konzentration auf ein anspruchsvolles Unterfangen wie eine lebendige Konzeptionswerkstatt hat dabei geholfen, sich auf Wesentliches und auf eigene wie gemeinsame schöpferische Potentiale zu besinnen. Es tut gut, sich als Gruppe handlungsfähig zu erleben, in einer Zeit, in der die Furcht vor Allmacht und Ohnmacht täglich zu einem Hauptthema unserer Gesellschaft geworden ist.

Noch nie bin ich so ausdauernd, intensiv und produktiv mit einem Team unterwegs gewesen. Wir haben aus dem Stillstand eine Lernreise gemacht. Und offen gestanden: Es war lustig, ab und zu im Pyjama zu arbeiten 🙂

” O-Töne

Heidi Birkenstock (Kitaleiterin): „Dieser Prozess ist zu frisch und zu emotional, um ihn in kurze Worte zu fassen. Doch: In acht Wochen von der Entwicklung eines Kernsatzes zu fertigen Texten mit Praxisbeispielen für unsere Kita­konzeption zu kommen – das hätten wir im Regelbetrieb in acht Jahren nicht geschafft. Wir sind in diesen Wochen über uns hinausgewachsen.“

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Elena Stiben (stellvertretende Kitaleiterin): „In der achtsamen Auseinandersetzung mit den Themen für die Konzeption schärften sich unsere Sichtweisen. Was genau bedeutet zum Beispiel Projektarbeit für uns? Warum machen wir so viele Angebote im Alltag? Welches ­pädagogische Anliegen steckt eigentlich dahinter? Ist das wirklich das, was Kinder brauchen? Wertvolle Fragen sind in uns entstanden und waren uns eine Einladung, gleich nach passenden Antworten zu suchen.“

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Kai Kübler (Erzieher): 1.) Wenn ich hier zu Hause im sogenannten Homeoffice arbeite, so ist das Schöne, dass ich meine Familie, die ich über alles liebe, den ganzen Tag um mich habe. 2.) Und wenn ich hier zu Hause im sogenannten Homeoffice arbeite, so ist das Schwierige, dass ich meine Familie, die ich über alles liebe, den ganzen Tag um mich habe! ; )

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Stéphanie Lang (Amtsleiterin Kinder Jugend und Familie Michelstadt): „Nach der corona-­bedingten Schließung ist das Team der Kita Bienenschwarm nicht in ein Loch gefallen, sondern hat das Ganze als Chance gesehen und fliegen gelernt: hohe Flexibilität und Einsatz­bereitschaft, neuerfundener Umgang miteinander, ganz neue Methoden – vor allem digital… Der Krise sei Dank!“

 

Text+Fotos: Dorothee Jacobs, Claudia Blömer

Die Autorin: Dorothee Jacobs ist freiberuf­liche Referentin, Kreativpädagogin und Autorin. Sie lebt in Berlin – und auf dem Lande.
In ihrem ersten Beruf widmete sie sich dem Handwerk, betrieb viele Jahre eine kleine, kreative Recycling-Schneiderei. Durch ihre Kinder interessierte sie sich für Pädagogik, sattelte um, und wurde Erzieherin.
Nach 10 Jahren pädagogischer Praxiserfahrung wechselte sie in die Erwachsenenbildung und publizierte mehrere Fachbücher. Immer im Fokus: das gute Zusammenspiel zwischen Pädagogik, Kreativität, Handwerk – und Nachhaltigkeit.

>> Mehr Infos zu Seminaren und Veröffentlichungen auf: http://www.dorotheejacobs.de

>> Bei wamiki erschien Anfang April ihr Buch: Die Kita als weltoffenes Dorf. ISBN 978-3-945810-93-4, 328 Seiten, 29,90 Euro,

Bezug: www.wamiki.de/shop

 

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