Der Wald in alten und neuen Liedern

Erklingen eigentlich noch Lieder „mit frohem Schalle“ im Wald? In diesem Text auf jeden Fall, denn sie dienen dazu, unser Verhältnis zum Wald unter die Lupe zu nehmen: Woher kommt denn die gerade für Deutschland charakteristische Begeisterung für den Wald? Und was begeistert Pädagoginnen am düsteren Tann?

Hier gibt es den Wortklauber plus Gedicht auch als PDF: Wortklauber_Gedicht_#3_2025

 

Plötzlich aus des Waldes Duster

Brachen kampfhaft die Cherusker,

Mit Gott für Fürst und Vaterland

Stürzten sie sich wutentbrannt

Auf die Legionen…

Obwohl das Studentenlied „Als die Römer frech geworden“ erst 180 Jahre alt ist, eignet es sich als Einstieg in die Geschichte der deutschen Waldverklärung. In diesem Lied wird die im Teutoburger Wald vermutete Varusschlacht aus dem Jahre 9 beschrieben, in der Germanen drei römische Legionen besiegten. 100 Jahre später bewegte das Tacitus, sich mit dem Germanenreich zu beschäftigen, das er wenig schmeichelhaft als Dickicht undurchdringlicher Wälder mit wilden Bewohnern beschrieb – im Gegensatz zum kulturvollen Römischen Reich. Viele Jahrhunderte später, nämlich zu Beginn des 19. Jahrhunderts, diente dieser Text dazu, ein deutsches Nationalbewusstsein zu begründen: Deutschland war nun das Volk, das trotzig dazu stand, sich besser mit Natur als mit Kultur auszukennen. Das hatte paradoxerweise kulturwissenschaftliche Folgen: Nach Jahrhunderten des Desinteresses wurde der Wald plötzlich hip.

Hänsel und Gretel verirrten
sich im Wald.

Es war so finster und auch
so bitterkalt.

Nicht nur die beiden Geschwister mussten sich im Wald behaupten. Fast 50 Prozent aller Grimm’schen Märchen spielen im Wald, der fast nie nur Kulisse, sondern oft eine Art Escape-Room ist, in dem man sich vor Feinden verstecken oder Gefahren trotzen muss. Weil Märchen ja meist Emanzipationsprozesse beschreiben – ein wehrloser Mensch wird in den Wald geschickt, aus dem er gereift zurück­kehrt –, könnten sie das Bild vom Wald als pädagogischem Raum geprägt haben: Der Wald hilft dir, dich zu behaupten und erwachsen zu werden.

Da steht im Wald geschrieben

ein stilles, ernstes Wort.

Von rechtem Tun und Lieben

und was des Menschen Hort.

Wohl niemand hat das Bild des Waldes, in dem man zum besseren Menschen wird, so geprägt wie Joseph von Eichendorff. Nicht nur in „O Täler weit, o Höhen“ ist der Wald ein Gegen-Ort zur „geschäft’gen Welt“, in der man stets betrogen wird, während zwischen Bäumen edle Gefühle herrschen: „Was wir still gelobt im Wald / Wollens draußen ehrlich halten“. Auch das dürfte Spuren hinterlassen haben: Im Walde wird aus dem verbogenen Menschen ein edler Charakter. Der Wald hilft, gut zu werden.

Ein Heil dem deutschen Walde,

Zu dem wir uns gesellt.

Hell klingt’s durch Berg und Halde,

Wir fahren in die Welt.

Die nächste Station unserer Wald­reise: In den Zwanzigerjahren bringt nicht nur das gleichnamige Lied die Sehnsucht zum Ausdruck, „aus grauer Städte Mauern“ auszubrechen, um die Freiheit in der Natur zu suchen. So marschieren jugendliche „Wandervögel“ durch „Wald und Feld“, um bessere Menschen zu werden. Was definitiv nicht in jedem Fall klappt: Schnell springen die Nationalsozialisten auf den Wald-Trend auf, um den Wald in Liedern, Schriften und Reden als Ort der echten Germanen in Erinnerung zu rufen – im Gegensatz zu angeblich waldfeindlichen „Steppenvölkern“. Bei der Eroberung von „Lebensraum im Osten“ planen sie neben der Vernichtung der dortigen Bevölkerung die Bewaldung der gewonnene Gebiete: Mit Wald wird das geraubte Land deutsch?

Auf die Bäume, ihr Affen,

der Wald wird gefegt!

Nächster Stopp unserer Waldwanderung sind die Sechzigerjahre. In dem zitierten Karnevalssong, dessen Text zu Teilen heute nicht mehr druckfähig ist, spielt der Wald eine völlig andere Rolle. Er steht für die noch nicht geordnete Welt, in der die letzten Wildtiere hausen. Das passt perfekt zu einer Zeit, in der man daran glaubte, dass man die Natur ohne Rücksicht auf Verluste beherrschen und ausbeuten kann. Also wird der Wald mit Forsttechnik traktiert und verliert seinen verwunschenen Charakter als Natur-Ort immer mehr – auch wenn er in den folgenden Jahren durch neue Ausflugsrestaurants und Trimm-Dich-Pfade wieder an Bedeutung gewinnt. Im Wald wird man reich, satt und fit.

Mit scharfer Hand fällt man Baum um Baum,

zerstörte damit seinen Lebenstraum.

Karl der Käfer wurde nicht gefragt,

man hatte ihn einfach fortgejagt.

1983 erklärt uns ausgerechnet ein Schlager: An unserem Umgang mit dem Wald erkennt man, dass wir den Planeten zerstören. Während „Karl der Käfer“ durch den Äther summt, bemerken wir, wie kaputt und lebensfeindlich unsere industriell ausgebeuteten Wälder sind – und dass deren Bewohner auch ein Recht auf Lebensraum haben. Der Wald zeigt, dass wir unsere Lebensweise ändern müssen.

Wald, Wald, Wald!

Wir Kinder sind bereit!

Hör’n den Wind, wie er laut brabbelt,

und den Käfer, wie er krabbelt!

Lieder wie dieses singen Kindergruppen, wenn sie zum Waldtag aufbrechen. Sie zeigen zwei pädagogische Ziele: Stadtkinder sollen Natur erleben – und der Wald soll sie, bitte schön, beruhigen. Unser Run auf Waldkitas und Waldtage, importiert aus Skandinavien, belegt: Die alte Verbindung der Deutschen zum Wald besteht fort. Wie im Märchen oder bei Eichendorff wird er zur Bildungsstätte.

Wird nun alles gut mit unserem Verhältnis zum Wald? Jein. Das Lied „In der Natur“ von Deichkind (2023) beschreibt, dass unsere Sehnsucht nach Natur heute auf ein entfremdetes Lebensgefühl trifft: Bäume umarmen, aber verzweifeln, weil das Handy „Kein Empfang!“ meldet. Und so endet das Lied mit einer Feststellung, die vielleicht auch manche Kinder und Erzieherinnen nach einem langen Waldtag vor sich hinmurmeln:

In der Natur

Wirst du ganz langsam verrückt

Und plötzlich wünschst du dich so sehr zum ­

Hermannplatz zurück.

Foto: George Dagerotip, unsplash

Michael Fink ist Autor und Fortbildner.

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