Die Ein-Blatt-Politik

Simon malt. Gern, ausdauernd und fantasievoll. Am liebsten mit Buntstiften und Filzstiften. Am allerliebsten Geschichten. Die Wand über dem Bett ist seine Galerie. Darüber hängt ein Schild: „Das hier hat Simon alles ganz allein gebastelt und gemalt!“

Es gibt Raumschiffe, ein Bienen-Schloss, einen ICE auf zehn aneinander geklebten Blättern, eine Raupe aus bunten Moderationskarten, Portraits mit aufgeklebten echten und selbst abgeschnittenen Haaren, eine Wal-Geschichte, eine Spinnen-Geschichte und die Geschichte vom kleinen Gespenst.

„In der Kita dürfen wir immer nur ein Blatt nehmen“, sagt Simon. „Und das sollen wir erst ganz voll malen.“

Ich schreibe einen Brief an die Hausverwaltung. Und einen ans Finanzamt. Und Geburtstagsgrüße an Tante Hildegard. Ich schreibe alles auf ein Blatt – auf die Rückseite eines nicht abgeschickten Formulars für die Krankenkasse. Ich bitte die Hausverwaltung, den Brief ans Finanzamt und an Tante Hildegard weiterzuleiten, denn ich will Papier sparen, und die paar Zeilen wegen der Dauerfristverlängerung füllen schließlich keine A4-Seite.

Zwei Wochen lang passiert gar nichts. Dann bekomme ich Post von der Krankenkasse, die wissen will, ob eine gewisse Frau Schöller, 34 Jahre, Beruf: Finanzsekretärin, bei mir familienversichert ist.

Drei Tage später steht Tante Hildegard vor der Tür und fragt, ob sie ein paar Tage bei uns unterkriechen könne. Irgendeine neue Hausverwaltung habe ihr für Reparaturarbeiten in der Wohnung plötzlich so viele Handwerker geschickt, dass sie vor lauter Kaffeekochen und Stullenschmieren kaum noch zum Wohnen komme.

Das Finanzamt schickt mir kommentarlos ein Formular zur Beantragung eines Gewerbescheins und lässt mich wissen: Wenn ich jetzt auch noch in Sachen Event-Management tätig werden wolle, bräuchte ich einen extra Gewerbeschein für das Ausrichten von Geburtstagsfeiern.

Ab heute habe ich also zwei Steuernummern, Tante Hildegard zum Fische-Füttern und eine neue Wahlverwandte beim Finanzamt. Vor allem letzteres wird sich noch bezahlt machen, denke ich. Zudem habe ich drei Bögen Papier gespart und ebenso viele Briefmarken. Da freuen sich Karma und Geldbeutel.

Tante Hildegard geht mir inzwischen heftig auf die Nerven, die Fische sind alle an Fettsucht gestorben, meine wahlverwandte Finanzpatin hat wieder geheiratet und kämpft auf dem Gerichtsweg um die Freilassung aus der Familienversicherung. Den Gewerbeschein für die Event-Management-Firma habe ich nicht bekommen, weil meine selbst gemachte Eierlikör-Torte niemandem im Finanzamt geschmeckt hat.

Als ich wieder was schreiben muss, probiere ich eine neue Strategie aus: Ich nehme verschiedene Blätter, aber ganz klitzekleine. Oder platt gedrückte Klorollen. Die kosten nix, da muss kein Baum für sterben, und ich kann sie wie Postkarten frankieren…

In der Kita gab es inzwischen einen pathetischen Elternabend zur Rettung der künstlerischen Freiheit unserer Kinder. Fazit: Jedes Kind darf jetzt so viele Blätter nehmen, wie es will, sofern es sich dabei um die ausgedienten Haftnotizen des Vorjahres-Dienstplans handelt. Die Dadaisten, ganz große Künstler, verwendeten alte Fahrscheine und Zeitungsschnipsel für ihre Werke. Das hat denen auch viel Spaß gemacht…

Natascha Welz (Tasche) zeichnet diese witzig-fiesen Cartoons in unseren Heften und qualifiziert sich dafür tagtäglich in familiären Fortbildungen mit ihren vier Kindern.

Kommentare (1)
  1. Juli sagt:

    also tasche, von deinem doppelleben als autorin wusste ich noch gar nichts, aber als philosophiestudentin kricht man ja ooch nix mehr mit von der pädagogik, wa?
    auf jeden fall ein netter artikel.

Einen Kommentar schreiben

Deine Email-Adresse wird nicht veröffentlicht. Pflichtfelder sind mit einem * markiert.