Vor über 20 Jahren wurde die UN-Kinderrechtskonvention (KRK) von der Bundesrepublik Deutschland ratifiziert. Damit gehört Deutschland zu den Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen, die sich zur Einhaltung der Kinderrechte verpflichteten.
Doch man kann keineswegs sagen, dass die Umsetzung der in der Konvention enthaltenen Rechte von Kindern (1) in Deutschland unumstritten ist(2), auch wenn diese Rechte von offizieller Seite meist ein Thema der „Entwicklungszusammenarbeit“ sind. Das Problem zeigt sich besonders deutlich bei den Rechten von Flüchtlingskindern, die gesetzlich und durch die Praxis der Asylverfahren in gravierender Weise diskriminiert werden. Die ihnen aus der UN-Kinderrechtskonvention zustehenden (Rechts-)Ansprüche werden in Deutschland nicht umfassend erfüllt.
Lange Zeit wurde diese Ungleichbehandlung von Kindern, die als Flüchtlinge nach Deutschland kamen, durch den bei der Ratifizierung 1992 hinterlegten sogenannten Vorbehalt – euphemistisch auch „Interpretationserklärung“ genannt – von der Bundesregierung begründet. Kurz: Die Bundesregierung räumte dem Ausländer- und Asylrecht eine Vorrangstellung vor den Rechten der betroffenen Kinder ein. 2001 argumentierte die Bundesregierung, dass der Kindeswohlvorrang nach Artikel 3 KRK die legitimen Interessen der Staaten an der Verhinderung illegaler Einreise nicht einschränken könne.(3)
In der Kabinettssitzung vom 3. Mai 2010 fasste die Bundesregierung, einer dahingehenden Bundesratsentschließung folgend, den Beschluss zur Rücknahme des „Vorbehalts“ gegen die Kinderrechtskonvention und setzte ihn anschließend um. Dies muss auch im Lichte der völkerrechtlichen Zweifel an der grundsätzlichen Rechtmäßigkeit des „Vorbehalts“ gesehen werden. Mit der Rücknahme, die einhellig von Kinderrechts- und Flüchtlingsorganisationen begrüßt wurde, nahm die Bundesregierung letztlich eine Klärung vorweg. Einige Verbände verwiesen darauf, dass dieser Schritt überfällig war.
In diesem Kontext fand die Kampagne „Jetzt erst Recht(e) für Flüchtlingskinder“ von Mai 2011 bis September 2013 statt, an der sich über 40 Verbände beteiligten, darunter die National Coalition zur Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention (NC) (4), das Forum Menschenrechte und Pro Asyl. Ziel der Kampagne war es, auf die notwendigen Veränderungen infolge der Rücknahme des Vorbehalts hinzuwirken.
Gegenwärtig gewinnt die Frage nach den Rechten von Flüchtlingskindern durch die Zunahme von Flüchtlingen in Deutschland und die mediale – häufig überspitzte – Debatte an Aktualität, während die zahlenmäßige Zunahme von Asylanträgen auf weitestgehend unvorbereitete Institutionen trifft. Auf landes- und kommunaler Ebene gibt es große Schwierigkeiten in der Versorgung der Betroffenen. Es sei dahingestellt, ob diese Probleme durch die steigende Zahl von Flüchtlingen angesichts der aktuellen Krisen weltweit und im näheren Umfeld Europas nicht vorhersehbar und damit politisch lösbar gewesen wären. Faktisch führt die – zumindest zeitweise – Überforderung der Institutionen für die betroffenen und von der Flucht ohnehin belasteten Kinder zu erhöhten Schwierigkeiten.
Experten(5) und die an der genannten Kampagne beteiligten Verbände fordern jetzt weitergehende
Schritte, um deutsches Recht und die Praxis des Asylverfahrens konform zur UN-Kinderrechtskonvention zu verändern. Das betrifft unter anderem:
geeignete Anlaufstellen für Flüchtlingskinder, besonders unbegleitete minderjährige Flüchtlinge;
die Berücksichtigung des Prinzips des Kindeswohlvorrangs auch in Asylverfahren;
die angemessene Grundversorgung von Flüchtlingskindern hinsichtlich ihrer sozialen Sicherung, Gesundheit und Bildung.
Die Bundesregierung scheint hingegen keinen direkten Handlungsbedarf zu sehen. Aus Sicht der Bundesjustizministerin gab es 2010 auf Bundesebene keinen Gesetzgebungsbedarf.(6) Dies wurde mit dem Verweis auf die Gesetzgebungskompetenz der Länder und mit einem bereits kinderrechtskonformen Asylverfahren legitimiert.
Tatsächlich variiert die aktuelle Praxis der Asylverfahren je nach Bundesland und ist – mehr oder weniger – rechtsverletzend im Sinne der UN-Kinderrechtskonvention. Über eine umfassende Anerkennung der Rechte von Flüchtlingskindern denkt man nicht nach, obwohl – oder weil – der Vorbehalt formal zurückgezogen wurde. Dies legt die Vermutung nahe, dass die Rücknahme des Vorbehalts vornehmlich der (Außen-)Darstellung Deutschlands diente, denn immerhin ratifizierten nahezu alle Mitglieder der Vereinten Nationen die UN-Kinderrechtskonvention.
Die Annahme, das aktuelle Asylverfahren entspreche den Maßstäben der Konvention, zeugt im Einzelfall von Ahnungslosigkeit, wie die Papiere einschlägiger Verbände belegen.(7) Tatsächlich widersprechen die aktuelle Rechtslage und die Praxis einer Vielzahl von Kinderrechten, die explizit in der UN-Kinderrechtskonvention benannt werden und damit völkerrechtlich verbindlichen Charakter haben. Hier die gravierendsten Beispiele:
Kindern, die als Flüchtlinge nach Deutschland kommen, droht zum Teil immer noch Abschiebungshaft. In vielen Fällen heißt das: Ein bereits durch die Flucht belastetes Kind wird erneut traumatisierenden Bedingungen ausgesetzt. Außerdem widerspricht eine solche Inhaftierung, unter welchen Umständen auch immer, dem Artikel 22 KRK, nach dem Flüchtlingskindern explizit angemessener Schutz, humanitäre Hilfe und die Wahrung der vollen Rechte der UN-Kinderrechtskonvention zusteht.
Kinder, die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) erhalten, sind immer noch von Eingriffen in das Existenzminimum bedroht. Jenseits einer Diskussion der (vermeintlichen) Legitimität des Existenzminimums: Kein Eingriff an dieser Stelle kann menschenwürdig sein. Das AsylbLG widerspricht damit dem Recht auf soziale Sicherheit(8), dem Recht auf angemessene Lebensbedingungen(9) und dem Recht auf kulturelle Teilhabe(10). esonders eklatant wirkt sich diese Einschränkung im Gesundheitsbereich aus, da im AsylbLG allein Akutbehandlungen und damit „Minimalmedizin“ festgehalten ist. Das verstößt ausdrücklich gegen das Recht auf ein Höchstmaß an Gesundheit und Gesundheitsvorsorge(11).
Das Recht der Kinder auf das Zusammenleben mit den Eltern(12), das in Artikel 22 KRK für Flüchtlingskinder explizit betont wird, wird ihnen in Deutschland regelmäßig verwehrt, zum Beispiel wenn eine Familienzusammenführung unter dem Vorbehalt wirtschaftlicher Unabhängigkeit der Eltern steht. Und das, obwohl der Schutz der Familie als Grundrecht im Artikel 6 des Grundgesetzes verankert ist. Für Flüchtlingskinder gelten demnach andere Maßstäbe. Das heißt, sie werden diskriminiert.
Unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen wird der Zugang zur Kinder- und Jugendhilfe immer noch verwehrt.(13) Damit wird ihr Recht auf die Unterbringung in einer geeigneten Kinderbetreuungseinrichtung(14) Minderjährige werden immer noch in Sammelunterkünften, also nicht kindergerecht untergebracht. Dass Kinder ab dem 16. Lebensjahr im Asylverfahren wie Erwachsenen behandelt werden, ihre Rechtsansprüche also selbstständig einfordern müssen, ist ebenfalls kinderrechtswidrig. Darüber hinaus verläuft die Feststellung des Alters in der Praxis oftmals willkürlich und zulasten der Kinder.
Die Aufzählung zeigt, dass Flüchtlingskinder in vielfacher Weise diskriminiert werden. Das heißt in jedem einzelnen Fall: Ein Kind wird geschädigt, in seiner aktuellen Befindlichkeit beeinträchtigt und behindert, seine Chancen auf ein gelingendes Leben wahrzunehmen.
Die Auffassung der Bundesregierung, Handlungsbedarf sei nicht vorhanden, wurde wiederholt vom UN-Kinderrechtsausschuss kritisiert. Die Berichte, die Deutschland dem Ausschuss regelmäßig vorlegen muss, werden mit Concluding observations oder Abschließenden Bemerkungen versehen, in denen Fortschritte, aber auch Defizite hinsichtlich der Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention benannt werden. Wiederholt wurde bezüglich der Kinderrechte auf die Notwendigkeit einer zentralen Steuerung im Sinne der Konvention hingewiesen. Der Verweis auf die Gesetzgebungskompetenz der Länder, der bestehende Umsetzungsschwächen legitimieren soll, wirkt in diesem Zusammenhang eher wie ein Eingeständnis von Handlungsbedarf. Allerdings gibt es mittlerweile Urteile deutscher Gerichte, die die Vorrangstellung des Kindeswohls nach Artikel 3 KRK und die darin geforderte Abwägung als Hinderungsgrund für eine ausländerrechtlich legitime Abschiebung auslegen.(15)
Fazit: Trotz der Ratifizierung und der Rücknahme des Vorbehalts beziehungsweise der „Interpretationserklärung“ setzt Deutschland die UN-Kinderrechtskonvention nicht zur Gänze um. In öffentlichen Debatten um Kinderrechte wird der (völker-)rechtliche Aspekt meist kaum wahrgenommen. Eine kritische Überprüfung ist also dringend notwendig und sollte Anlass bieten, in Deutschland für den menschenwürdigen Umgang mit allen Kindern einzutreten – sei es durch Kampagnen wie „Jetzt erst Recht(e) für Flüchtlingskinder“ und politische Einflussnahme oder durch das Eintreten für die Interessen der Flüchtlingskinder in Institutionen und in der praktischen Arbeit.
[1] Vgl. Deutscher Bundestag 2010
[2] Siehe auch: Positionspapier „Jetzt erst Recht(e) für Flüchtlingskinder“ unter: www.jetzterstrechte.de
[3] Artikel 26 KRK
[4] Artikel 27 KRK
[5] Artikel 31 KRK
[6] Artikel 24 KRK
[7] Artikel 9 KRK
[8] Vgl. Cremer 2011: Die UN-Kinderrechtskonvention – Geltung und Anwendbarkeit in Deutschland nach der Rücknahme der Vorbehalte
[9] Artikel 20 KRK
[10] Vgl. Eichholz 2009
[11] Im Sinne der UN-Kinderrechtskonvention sind alle Menschen bis zum Erreichen des 18. Lebensjahrs Kinder.
[12] Vgl. u. a. Liebel 2013: Kinder und Gerechtigkeit. S. 30ff.
[13] Vgl. BMFSFJ 2004
[14] Das Projekt „National Coalition für die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention“, dem über 100 Verbände angehörten, ging inklusive der Mitglieder 2014 in den Verein „National Coalition Deutschland“ über. Infos unter: netzwerk-kinderrechte.de
[15] Vgl. z. B. Cremer 2011: Die UN-Kinderrechtskonvention – Geltung und Anwendbarkeit in Deutschland nach der Rücknahme der Vorbehalte
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Seit 1992 gilt in Deutschland die UN-Kinderrechtskonvention – allerdings mit Einschränkungen. Vor allem Flüchtlingskinder sind dadurch in Asylverfahren und im täglichen Leben benachteiligt. Im Mai 2010 nahm die Bundesregierung diese Einschränkungen formal zurück. Doch an der Situation der Kinder will sie nichts ändern. Deshalb fordert die Kampagne „Jetzt erst Recht(e) für Flüchtlingskinder!“ umfassende Gesetzesänderungen und praktische Verbesserungen.
In der „National Coalition Deutschland – Netzwerk für die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention e.V“ haben sich derzeit rund 110 bundesweit tätige Organisationen und Initiativen (Link zu Mitglieder) aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen mit dem Ziel zusammengeschlossen, die UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland bekanntzumachen und ihre Umsetzung in Deutschland voranzubringen.