Geh doch nach drüben!

Übergang ist so ein richtig deutsches Wort – trocken, technisch, nichtssagend. Zumindest, wenn es um den Bahn-Übergang oder den Übergang zur ersten Wagenklasse hinter dem Bordbistro geht. Andere Zusammensetzungen mit dem Wort Übergang
erzählen jedoch viel über menschliche Bedürfnisse nach Stabilität, Sicherheit und Wandel…

Hier gibt es den Artikel als PDF: Wortklauber_Gedicht_#1_2024

 

Die Übergangsjacke

Ist schon Winter oder noch Sommer? Und was ziehst du jetzt an? Wer sich bekleidungsmäßig unsicher ist, zieht die Übergangsjacke an. Hinter dem Konzept der Übergangsjacke könnte man urmenschliche Bedürfnisse vermuten: Erstens mögen wir klare Gegensätze wie Winter und Sommer anscheinend lieber als das unklare Dazwischen. Zweitens scheinen wir auch bei Jahreszeiten lange Phasen zu schätzen, in denen es bleibt, wie es ist.

Das Übergangswohnheim

Du hast gerade wegen Flucht, psychischer Erkrankung oder familiärer Schieflage keine Wohnung? Das Übergangswohnheim nimmt dich übergangsweise auf, bis du wieder Fuß gefasst oder eine neue Bleibe gefunden hast. Zumindest theoretisch, denn manche dieser freundlich „Übergang“ betitelten Zustände können ewig dauern, wie etwa die folgende Beschreibung einer solchen Einrichtung verrät: „Das Übergangswohnheim bietet eine dauerhafte, feste Unterkunft für erwachsene, wohnungslose Personen…“

Verschiedene Übergangsstadien

Nicht mehr Raupe, aber noch nicht Schmetterling: In einem starren Kokon verbringen viele Insekten als Puppen ein Übergangsstadium vor der Geschlechtsreife, das sogenannte Cocooning. Nach vielen Entwicklungsmodellen besteht auch die menschliche Entwicklung aus einer Abfolge von Phasen. Dazwischen muss es logischerweise Übergangsstadien geben, in denen das Leben durch biologische oder kognitive Veränderungen quasi erschüttert wird. Das Denken in Phasen hat wohl auch unsere Alltagswahrnehmung von Kindern geprägt: Immer wieder erklären sich Eltern oder Pädagog:nnen als schwierig empfundene Verhaltensweisen damit, dass die Kinder gerade eine neue Phase beginnen, zum Beispiel eine gefühlte Schulreife.

Die (verbindliche) Übergangsempfehlung

Menschen brauchen Unterstützung, um in Übergangsphasen den richtigen Weg zu finden. Für deutsche Schüler:innen ist bekanntlich der Übergang von der Grundschule in eine weiterführende Schule eine geradezu lebensprägende Entscheidung. Deshalb geben Grundschulen eine Übergangsempfehlung, welcher Bildungszweig aufgrund der bisherigen Schuljahre angeraten werden kann. An diese Empfehlung kann man sich halten. In manchen Ländern muss man es sogar: In Bayern, Thüringen oder Brandenburg ist die „Empfehlung“ nämlich verpflichtend – ähnlich dem Angebot Vito Corleones, das man nicht ablehnen kann.

Der Umbruch

Wem der Übergang von einer Phase zur nächsten zu fade ist, der sehnt sich womöglich nach einem Umbruch. „Unserer Gesellschaft steht ein gewaltiger Umbruch bevor“, liest man derzeit fast bei jedem bedrohlichen oder erfreulichen Großereignis. Hier ist es wohl die Funktionsweise moderner Medien, die der radikalen Veränderung Vorrang vor dem schlecht zu vermarktenden ewigen Wandel gibt. Die Angst, alles könne sich plötzlich verändern, sorgt nämlich zuverlässig für Klicks. Dazu passt die Herkunft des Wortes Umbruch: Ziemlich sicher stammt es vom Pflügen, bei dem das Untere und Obere des Bodens gewaltsam zum Plätze-Tausch genötigt werden. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

Der Transit

Was hatte dieses Wort für ältere Westdeutsche und -berliner:innen für einen magischen Beiklang! Mit dem Transit – Kurzform von Transition, der Übersetzung von Übergang – verbanden sie weniger einen Ford-Transporter oder einen Flughafenbereich, sondern die Fahrt per Bahn oder Auto durch die DDR, inklusive Kurzbesuch im Intershop. Der Transit ermöglichte es, sich ein anderes Land anzuschauen, ohne wirklich da zu sein. Wem trotz aller berechtigter Kritik etwas an diesem Land gefiel, der konnte sich eines Satzes sicher sein: „Dann geh doch nach drüben!“

Der Transi

Du denkst darüber nach, wie es nach dem Tode weitergeht? Das hat man wohl in allen Kulturen getan, aber nie eine abschließende Lösung gefunden. Für viele ist der Tod ein Übergang zwischen dem irdischen Leben und der himmlischen Weiterexistenz der Seele. Dass sich mit dem Tod Leib und Seele trennen müssen, bewegte Kunstschaffende vor allem während der großen Pestepidemien am Ende des Mittelalters. Sie schufen die Skulpturform des Transi, einer Grabplastik, die hochherrschaftliche Verstorbene detailgetreu im Moment des Todes darstellt – oder auch einige Zeit danach. So liegen in spätgotischen Kirchen steinerne halbverweste Leichen im besten Zombie-Style und signalisieren: Diese Transition muss jeder und jede einmal mitmachen.

Die Mikrotransition

Mit dem pompösen Wort „Mikrotransitionen“ bezeichnen schlaue Leute in der Kita-Pädagogik Übergänge zwischen einzelnen Tagesphasen oder Betreuungsformen. Etwa, wenn ein Kind morgens und nachmittags übergeben wird, wenn das Freispiel zugunsten des Mittagsschlafs oder des Morgenkreises abgebrochen wird und wenn vor Beginn der Gartenzeit der Gang zur Garderobe ansteht… Solche Übergänge können nicht nur bei Klein­kindern furchtbar anstrengend sein. Deshalb sollte das gelten, was für jeden Übergang zutrifft: Kinder wollen daran beteiligt sein, statt überrascht zu werden. Sie wollen den Übergang selbst gestalten, statt Angst vorm Umgepflügt-Werden zu haben. Sie wollen wissen, wie das aussieht, was danach kommt. Und sie wollen Übergänge, die sich nicht wie unschöne „Phasenwechsel“ anfühlen, sondern Spaß und Spielraum bieten.

 

Foto: Gabe Pierce/unsplash

Michael Fink ist Autor und Fortbildner.

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