Harmonie futsch?

Warum sind wir, wie wir sind? Und warum stoßen wir damit nicht nur auf Gegenliebe? Erinnerungen an missliche Situationen, Erkenntnisse über Verhaltensweisen, Erfahrungen mit Lösungsmöglichkeiten und Umsetzungstipps – Aline Kramer-Pleßke, Supervisorin und Coach, möchte dazu beitragen, dass wir unsere Potenziale entdecken, unsere Ressourcen stärken, emotionale Entlastung finden und souveräner handeln können.

Hier gibt es den Artikel als PDF: Supervisorin_#3_2022

Erinnerungen

Mein Enkel ist drei Jahre alt und ein leidenschaftlicher Rollenspieler. Äußerst engagiert stellt er verschiedenste Charaktere dar. Er setzt dabei viel Körperlichkeit ein. Manchmal muss dringend gerauft werden. In seiner Kita gibt es extra Raufstunden, in denen die Kinder übereinander herfallen und wie junge Hunde toben können. Sie balgen, klammern sich fest und juchzen dabei. Einige Jungen sind etwas wilder, andere vorsichtiger, einige Mädchen kämpfen schlau, andere hochdramatisch. Alle haben leuchtende Augen und rote Wangen, sind glücklich und zufrieden.

Einige Jahre arbeitete ich als Musikpädagogin für Vorschulkinder. Zu meinem Klangabenteuer kamen die Eltern mit ihren Kindern. Ein Junge war groß für sein Alter und hatte wunderschöne Augen mit sehr langen Wimpern. Schüchtern schlurfte er immer im selben Fußballerdress durch den Raum, aber er hatte große Freude an der Musik. Eines Tages kam er in einem langen, rosafarbenen Kleid. Er hatte es über seine Sportklamotten gezerrt und sich die Fingernägel lackiert. Die Kinder starrten ihn an. Ich fragte ihn, ob er eine Prinzessin sei, und als er bejahte, bewunderten wir ihn und fanden ihn sehr hübsch. Er war glücklich und zufrieden.

Bei meiner Arbeit mit jugendlichen Schulverweigerern traf ich später auf taffe Mädels, die sich gern mal prügelten, und empfindsame Jungen, die kaum ein Wort über die Lippen brachten, gern malten oder Kuchen backten. Egal, welches Geschlecht – die Persönlichkeiten waren vielfältig, und alle hatten ihre Geschichte. In unserem multiprofessionellen Team dachten wir oft über geschlechtergerechte Arbeit nach. Natürlich gab es Mädchen- und Jungengruppen, in denen alle möglichen Lebensfragen thematisiert wurden. Bedeutende Unterschiede fielen mir nicht auf. Allerdings war dieser Gruppen-Schutzraum wichtig, um ohne Scham über Sexualität und körperliche Veränderungen zu sprechen. Die Jugendlichen waren mit dieser Möglichkeit glücklich und zufrieden.

Glück und Zufriedenheit kann entstehen, wenn man einfach so sein darf, wie man ist, wenn Bedürfnisse wahrgenommen und Persönlichkeiten ernst genommen werden.

Egal, mit wem ich es zu tun habe – es geht um den Menschen.

Erfahrungen

Menschen nutzen Supervisionen gelegentlich, um Konflikte aufzugreifen. Eine spricht sie an, ein anderer zögert, nimmt dann aber seinen ganzen Mut zusammen und lässt sich auf das Gespräch ein. Das Team ist froh darüber, denn offenbar brodelt ein Konflikt seit einiger Zeit. Am Ende sind alle erlöst, weil Erwartungen und Wünsche benannt und gute Ideen für den künftigen Umgang miteinander entwickelt wurden.

Worum es geht und ob diese Themen eher weibliche, männliche oder diverse Menschen betreffen, ist im Grunde nicht wichtig. Viel interessanter ist doch, warum ein Konflikt so lange Zeit unbenannt umherwaberte.

Kennen Sie das auch? Es liegt etwas in der Luft, aber Sie trauen sich nicht, darüber zu sprechen.

Es könnte hilfreich sein zu reflektieren, welchen Blick Sie auf das Thema „Konflikte“ haben. Bezeichnen Sie Auseinandersetzungen als Konflikte, Streit, Meinungsverschiedenheiten oder Diskussionen? Fühlen Sie mal nach, welches Wort Sie am ehesten be- oder entlastet. Denn die Wortwahl beeinflusst Ihre Einstellung und wie Sie mit einem Konflikt umgehen.

Nicht das Problem macht Schwierigkeiten, sondern unsere Sichtweise. Viktor Emil Frankl

Menschen, die lieber ausweichen, weil sie Harmonie bevorzugen, verhindern Auseinandersetzungen. Doch so ist es viel schwieriger, eine konstruktive Lösung zu erarbeiten. Und die Harmonie ist am Ende immer noch futsch.

Wäre nicht ein positiver Blick auf Konflikte nützlicher? Das hieße nämlich, Verletzungen, Risiken und Gefahren nicht zu verleugnen, sondern anzusprechen und genau zu betrachten. Zuerst wird die Sachebene angeschaut: Sprechen wir wirklich über das Gleiche? Nicht ohne Grund legen wir in der Mediation ein starkes Gewicht auf die Hintergründe, Emotionen, Bedürfnisse und Erwartungen. Deshalb versuchen wir, das Thema hinter dem Thema zu finden.

Erinnern Sie sich an das Eisbergmodell?1 Die Emotionen müssen Raum bekommen, hier liegt der Schlüssel. Denn Verhaltensweisen sind sehr unterschiedlich und können oft berechtigt sein. Voraussetzung ist ein gemeinsames Einverständnis. Schließlich kann es sogar Spaß machen, gemeinsam Lösungen zu finden und auszuprobieren.

Häufig ist es sinnvoll, in die kritische Selbstreflexion zu gehen: Wie sind Sie aufgewachsen? Wie ging man in Ihrem sozialen Umfeld mit Konflikten um? Wurde gesprochen, geschwiegen, gebrüllt, gezankt, gestraft? War dieses Verhalten geschlechterabhängig? Gab es einen stummen, ausweichenden Vater und eine sich stets beschwerende Mutter? War der Opa eher cholerisch und die Oma beschwichtigend? Welche Geschlechterrollen haben Sie erlebt und verinnerlicht?

Jeder hat seinen Erfahrungsrucksack dabei, und je genauer Sie wissen, was sich darin versteckt, desto leichter können Sie ein bisschen aufräumen. Wenn Sie Glück haben, sogar aussortieren. Vor allem unschöne Erlebnisse wiegen schwer und können im Umgang belasten. Dann ist es hilfreich, als erwachsener Mensch ein neues Verhalten zu üben. So kann ein für Sie passendes Selbstverständnis entstehen, und Sie haben die Chance, konstruktiv in Diskussionen zu gehen und Ihre Persönlichkeit weiterzuentwickeln.

Experiment

Denken Sie manchmal auch in schwarz-weiß, bewerten schnell, was gut oder schlecht ist, und sagen: „Typisch Mann“? Grundsätzlich ist es normal und stabilisiert unseren Zugang zur Welt, wenn wir in Kategorien denken. Um die Komplexität von Situationen zu erfassen, sind jedoch ein breiter Blick und häufige Perspektivwechsel nützlich.

Es gibt eine wunderbare Übung zur Lösungssuche im Team. Sie bedient sich zunächst genau des Systems der Gegensätze, um dann Ideen zusammenzuführen.

Lösungssuche – ein Spiel

Sie möchten eine Situation, ein Thema, ein Problem beleuchten.

Zunächst überlegen Sie sich gegensätzliche Paare. Zum Beispiel: die Hellen und die Dunklen, die Narren und die Weisen, die Streber und die Faulenzer, die Krümelkacker und die Schlumpis… Da es um Gegensätze geht, teilen Sie sich nun in eine gerade Anzahl von Grüppchen auf. Jede Gruppe sammelt entsprechend ihrer Zuordnung Lösungen für die Situation, das Thema oder das Problem. Je wilder und kreativer, desto besser. Die Lösungen werden vorgetragen, und über Vor- und Nachteile in der „wahren“ Welt wird diskutiert.

Solch ein Vorgehen erlaubt, aus üblichen Denkmustern auszubrechen, und schafft die Möglichkeit, ganz neue Ideen zu entwickeln. Wenn Sie zu wenige Personen sind, können Sie die Gegensatz-Paare auch gemeinsam untersuchen, Lösungen entwickeln, sie in das reale Leben übertragen und auf Chancen prüfen.

1 Siehe: Aline Kramer-Pleßke: Dicke Luft. wamiki 4/19, S. 52–54

Foto: Nutthone / rawpixel

arbeitet als Coach für Persönlichkeitsentwicklung und Supervisorin in eigener Praxis in Berlin-Pankow.

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