In dieser Rubrik stellen wir in jeder Ausgabe eine Situation vor, die Du aus verschiedenen Perspektiven betrachten kannst.
Was sind Deine Perspektiven und die Deines Teams?
Hier gibt es den Artikel als PDF: Dilemmata_#4_2023
„Wie wars am Wochenende“, fragt Leiterin Tanja im Montagskreis.
Anni war mit den Eltern im Zoo, Jamiro im Kurzurlaub an der Ostsee, Iphigenie gar in der Oper. Und Jesco?
Der erzählt stolz: „Ich war in Saras Garten zelten, wir haben Lagerfeuer mit Stockbrot gemacht.“ „Meinst du unsere Sara? Deine Erzieherin?“ fragt Tanja irritiert. Jesco nickt ein bisschen verlegen.
„Wo bleibt die Distanz?“ fragt Tanja entsetzt.
Ich muss sagen, dass mir die Worte fehlten, als Jesco das erzählte. Sara ist im Team eh bekannt für ihre unkonventionelle – oder besser, das bleibt aber unter uns –, unprofessionelle Art. Jetzt auch noch ein Kita-Kind zu sich einladen, sogar mit Übernachtung?
Im Team haben wir lange über Schutzkonzepte diskutiert. Wir haben besprochen, warum professionelle Distanz zu Kindern wichtig ist. Schon wegen den ganzen Missbrauchsvorwürfen. Was wäre los, wenn statt Sara Kollege Jim so etwas machen würde? Aber viel problematischer für Jesco finde ich: Der baut dann wirklich eine besondere Bindung auf und verlässt sich auf Sara. Wenn ihr das irgendwann zu viel wird und sie ihren Helferkomplex mit anderen Kindern bewältigen will oder die Gruppe abgibt, hat der Junge eine weitere enttäuschende Trennungserfahrung gemacht.
Tessa kontert: „Übersetzt man Professionalität neuerdings mit Kaltschnäuzigkeit?“
Professionell wäre wohl, Jescos Mutter beim Jugendamt anzuschwärzen, weil sie sich nicht um ihre Kinder kümmert. Das Amt sucht dann einen Einzelfallhelfer, der einmal die Woche für eine Stunde etwas mit Jesco macht. Darüber verfasst er jede Menge Berichte, die im Jugendamt überflogen werden, um neue Maßnahmen zu beschließen, die bei der Mutter eh nicht fruchten. Das geht dann jahrelang so weiter – sehr professionell und wirkungslos wie so manche Behördenmaßnahme. Und das Kind leidet weiter.
Hey, Leute, überlegt mal: Jesco hat eine Mutter, die sich einen Dreck um ihn kümmert. Wer ist wohl die wichtigste Bezugsperson für den Jungen? Richtig, es ist Sara! Ihr vertraut er mehr als seiner Mutter und erst recht mehr als irgendeinem Einzelfallhelfer. Wenn Jesco sagt: „Ich will dich unbedingt mal im Garten besuchen, wo du deine Tiere hast, das ist mein größter Wunsch… Dann soll sie sagen, sie würde ihn ja gerne einladen, aber das ist unprofessionell? Ich finde, das ist in erster Linie kinderfeindlich.
„So etwas weckt nur Neid“, sagt Adelheid.
Ich glaube, es war Jescos größter Wunsch, endlich mal Saras Garten mit den Tieren zu sehen, von dem sie so viel erzählt. Aber das Problem ist: Die anderen Kinder träumen auch davon, mal bei Sara im Garten zu sein. Ich habe genau gesehen, wie sie geguckt haben, als Jesco das erzählte! Bisher dachten Luca, Nuri und Jora nämlich, dass Sara sich für alle interessiert. Jetzt wissen sie: Da gibt es ein Kind, das wichtiger für Sara ist als wir.
Unsere Kindergarten-Regel ist: Jeder ist wichtig bei uns. Wenn plötzlich einzelne Kinder mehr kriegen als andere, stimmt sie nicht mehr. Deswegen denke ich: Toll, dass Sara Jesco in ihren Garten einlädt! Aber das muss sie jetzt auch allen anderen Kindern anbieten.
„Neid? Ist für Jesco Alltag“, erwidert Alwine.
Weil ich ganz ähnlich aufgewachsen bin, kann ich nachfühlen, wie es Jesco geht. Diese Angst vor dem Morgenkreis am Montag, wenn alle von ihrem Wochenende erzählen: Laura war im Erdbeerland, Lili am Meer… Und man selbst hat vom Sofa aus zugehört, wie die Eltern sich zoffen und nix hinkriegen, während die Glotze läuft. Glaubt mir, das erzeugt Mikro-Traumata wie Nadelstiche. Du spürst, dass du nicht so viel wert bist wie die anderen.
Ich hätte mir früher gewünscht, so eine Sara zu haben, die mir mal ein schönes Wochenende bereitet, an dem ich erlebe: Auch mir will jemand etwas Gutes tun, kümmert sich um mich und zeigt mir etwas Schönes.
Wie seht Ihr die Sache?
Foto: Christian Bowen/unsplash