Kolonastische Kinderkultur

Was bedeutet Kolonastik? Wer ist Zippelonika? Der Rückblick auf die Kindheit kann unbeantwortbare Fragen aufwerfen.

Hier gibt es den Artikel als PDF: Wortklauber_#3_2023

Warum sitzt in einer chinesischen Eisenbahn ein chinesischer Weihnachtsmann, der vom Professor mit dem Messer erzählt? Und warum kauft sich Michael Jackson in Spanien drei dicke Damen? All diese Zeilen entstammen Klatschreimen, zu denen Kinder sich seit Generationen abklatschen und kollektive Bewegungsabläufe vollziehen. Es lohnt sich, die Worte genauer anzusehen, denn sie erzählen überraschend viel über kindliches Denken und Wahrnehmen.

Als ich zur Klippaklapper / zur Bürgerschule ging / da war ich vierzehn Jahre / ein ganz verrücktes Ding. Ach, (Name einsetzen), weine nicht / dein Schatz vergisst dich nicht / er muss zum Millimillitär und kommt nimminimmi mehr!

Klatschspiele haben eine ziemlich einzigartige Form des Überlebens entwickelt. Sie werden meist nicht von Erwachsenen an Kinder weitergegeben, sondern ältere Kinder verbreiten die Texte im Spiel mit jüngeren. Diese „Fortpflanzung“ scheint über Generationen hinweg stattzufinden, denn der oben zu lesende Reim wurde Anfang der 1970er Jahre in meiner pfälzischen Dorfschule deklamiert, aber Wortwahl („verrücktes Ding“) und Story (Einberufung zum Militär ohne Wiederkehr) lassen eher auf eine Entstehung kurz vor dem I. Weltkrieg schließen.

Michael Jackson fährt nach Spanien / kaufte sich drei dicke Damen / die erste machte Cha-Cha-Cha / die zweite machte Hoolahoolahoop / die dritte machte Mi-Chael-Jack-Son.

Bei diesem Klatschspiel aus den 1990er Jahren gilt es, jeweils die Bewegungen der drei dicken Damen nachzuspielen: Bei „Cha-Cha-Cha“ und „Hoola-Hoop“ bewegt man jeweils die Hüften, bei „Mi-Chael-Jack-Son“ grätscht man die Beine immer weiter. Die Tanzarten zeigen, dass der Reim schon etwas älter ist. Wie alt, verrät die Vorversion, die bis in die 1980er Jahre getanzt wurde: Charly Chaplin / fährt nach Spanien…

Offenbar wurde der den Kindern nicht mehr bekannte Chaplin irgendwann durch Michael Jackson ersetzt, dessen Name die gleiche Silbenzahl hat. Noch faszinierender ist, dass das Reiseland wie die Sprache schon vorher getauscht wurden. Eine deutlich ältere Version stammt aus England: Des besseren Reims wegen reist Chaplin hier nach Frankreich, und seine Rückkehr ist durch historische Ereignisse geprägt: Charlie Chaplin went to France / To teach the ladies how to dance. / First the heel, then the toe / Then the splits, and around you go! / Salute to the Captain, Bow to the Queen / And turn your back on the Nazi submarine!

Nazi-U-Boot, gegrätschte Beine und gekaufte Damen: Viele Klatschlieder enthalten Themen, die in Kinderbüchern eher selten vorkommen. Offenbar haben sie zwei völlig unterschiedliche Bedeutungen: Die Reime sorgen für Rhythmus und Animation beim Klatschspiel. Darunter gibt es eine zweite Ebene, bei der es darum zu gehen scheint, die Geheimnisse der Erwachsenenwelt während des Bewegungsspiels zu entschlüsseln – wie eine Art kollektives Rollenspiel. Manchmal geht diese Untersuchung tief in sonst tabuisierte Bereiche hinein, zum Beispiel im Text von „Bei Müllers hat’s gebrannt, -brannt, -brannt“: … da lief ich schnell nach Haus, Haus, Haus / zu meinem Onkel Klaus, Klaus, Klaus / der lag grade im Bett, Bett, Bett, mit seiner Frau Elisabeth / Elisabeth, die lachte / der Busenhalter krachte / der Bauch, der explodierte /ein Baby rausmaschierte / da lief ich in den ersten Stock / da stand ein Mann im Unterrock!

Verwandte beim Sex und der Geburt erwischen, Männern im Unterrock begegnen: Offenbar ging es in der Schulhofecke, in der die Kinder scheinbar harmlose Klatschspiele machten, immer auch darum, nicht sagbare Dinge zu sagen, über den Inhalt zu spekulieren, darüber zu kichern und jüngere Kinder mit diesem Geheimwissen zu beeindrucken. Prüde Erwachsene versuchten gern, den Text inhaltlich zu entschärfen, indem sie ihn kurz vor der besten Stelle rabiat kürzten: „… da lief ich schnell nach Haus, Haus, Haus, und die Geschicht ’ war aus, aus, aus!“

Auch beim folgenden Reim scheint es darum zu gehen, es einer imaginären Person einmal richtig mitgeben zu können: Ich kenne eine Frau / mit Augen wie Kakao. / Diese dicke, fette Leberwurst / die kenn ich ganz genau!/ Sie heißt Zipp, zippelip, zippelonika!

Woher kommt Zipp, zippelipp, zippelonika? Zu vermuten ist, dass es wie in vielen anderen Klatschreimen einmal irgendein nicht verstandenes Wort gab, das Kinder nachsprachen, bis der Ursprung kaum noch erkennbar war oder aus dem Silbenbrei scheinbar sinnvolle Worte entstanden: Co Ca Coca-Cola / Sia Sia Bella / I love you, dumme kuh / ecke mecke star wars.

Manchmal lässt sich der Wandel der Wörter erforschen – mit überraschenden Ergebnissen. Zum Beispiel bei dem folgenden, nur auf den ersten Blick harmlos daherkommenden Klatschreim aus Italien: Ambarabà ciccì coccò / tre civette sul comò / che facevano l’amore / con la figlia del dottore / il dottore si ammalò / ambarabà ciccì coccò!

Übersetzt bedeutet er: Ambarabà ciccì coccò, drei Eulen auf der Kommode / machen Liebe / mit der Tochter vom Doktor / Der Doktor wurde krank / Ambarabà ciccì coccò!

Interessant ist die geheimnisvolle Eingangsformel Ambarabà ciccì coccò, weil sie nach Vermutung italienischer Linguisten wohl aus dem Lateinischen stammt und wahrscheinlich „Hanc para ab hac quidquid quodquod“ hieß – eine simple Anweisung zum Zählen mit zwei Händen.

Faszinierend ist auch die Geschichte eines französischen Kinderreims, der klanglich stark an das angeblich arabische Klatschspiel „Aramsamsam“ erinnert: Am, stram, gram/ Pic et pic et colégram / Bour et bour et ratatam / Am, stram, gram.

Auf Französisch macht der Text wenig Sinn. Inzwischen vermutet man, dass es sich um stark verballhorntes Deutsch handelt – „Am, stram, gram“ könnte der Rest von „Eins, zwei, drei“ sein, und bei „ratatam“ steckt wahrscheinlich ein deutscher „Reiter“ dahinter. Wenn das französische Klatschspiel „Am stram gram“ aber zu „Aramsamsam“ verballhornt wurde, ist der Vorwurf, das Lied karikiere arabische Sprache oder muslimische Gebetsriten, hinfällig – denn dann gackern deutsche Kinder über verballhorntes deutsches Kulturgut.

Und was ist jetzt mit „Kolonastik“? Das stammt aus dem folgenden Klatschspiel, in dem das Verwursten unbekannter Wörter auf die Spitze getrieben wird: Wir sagen no…no…no / wir sagen si…si…si / wir sagen no / wir sagen si / wir sagen: em pom pie kolonie kolonastik / em pom pie / kolonie / akademi, safari / akademi puffpuff!

Woher die Wörter stammen, das ist nicht herauszufinden. Vielleicht handelt es sich um Kirchenlatein, das über Jahrhunderte in Schulhof­ecken weitergegeben und verfremdet wurde? Immerhin scheinen die merkwürdigen Zeilen international zu zirkulieren: Auf Englisch findet sich die Version om bomb beeka leeka loski, om bomb beeka lawnee, aka daymee…, auf Norwegisch erinnert man den Vers so: Akka si si si / Akka nå nå nå / Akka si, Akka nå / I’m pompi, i’m pompi / Do you love me? / Ella visa mella, ella visa mella /si si si. / Saaaandwich! Und eine Italienierin erinnert sich an: jem pom pim pololi pololastri jem pom pim po lo li… po lo là… academy sol fa mi academy sol fa mi… pif… puf… paf!

Braucht der Text ein Fazit? Vielleicht dieses: Es lohnt sich, den Kindern die wunderliche Nische des Klatschspiels zu gönnen. Sie brauchen sie, um über unsere Erwachsenenwelt nachzudenken, mit und ohne Männer im Unterrock oder herausmarschierende Babys. Und sie brauchen sie, um sich über all unsere wichtigen Erwachsenenwörter zu wundern: Akademie, Kolonie, meinetwegen auch bald De-Kolonastik.

 

Foto: tagstiles.com / photocase.de

Michael Fink ist Autor und Fortbildner.

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