„Es gibt Tiere, die dem Kaiser gehören; einbalsamierte Tiere; gezähmte Tiere; Milchschweine; Sirenen; Fabeltiere; herrenlose Hunde; solche, die sich wie Tolle gebären und welche, die mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind; es gibt Tiere, die den Wasserkrug zerbrochen haben und schließlich solche, die von weitem wie Fliegen aussehen.“
Hier gibts den Artikel als PDF: komm und sprich mit mir_#2_2021
Diese Aufzählung und Einteilung von Lebewesen mag uns heute befremdlich erscheinen. Doch den Gelehrten des altchinesischen Kaiserreichs bot sie in einer Enzyklopädie mit dem klangvollen Titel „Himmlischer Warenschatz wohltätiger Erkenntnisse“ Auskunft und Orientierung beim Erklären der belebten Welt. Die bunte Mischung aus real existierenden Tieren und Fabelwesen, Besitzverhältnissen und besonderen Eigenschaften klingt für moderne Ohren absurd und willkürlich, sie bringt aber auch die Frage nach den Grenzen unseres Denkens und Wahrnehmens ins Spiel. Uns aufgeklärten Vertreterinnen und Vertretern der heutigen Wissensgesellschaft fällt es nicht leicht, das Unmögliche zu denken. Wir vermitteln gerne Sicherheit und Ordnung mit unseren Erklärungsgewissheiten und Kategorisierungsgewohnheiten. Das zeigt sich auch in unserem Verhältnis zu den Tieren. Der Mensch hat sich selber domestiziert und einige Tiere per Zucht gleich mit. Häufig hat es den Anschein, dass wir Tiere in unserer Umgebung kaum noch als eigenständige Wesen wahrnehmen. Kindergartenkinder scheinen da in ihrem Denken und Handeln anders vorzugehen. „Der Wunsch nach einem Tier gehört zu den tiefsten Kindersehnsüchten, ob damit wirklich nur das Tier gemeint ist, ob damit nicht auch andere Sehnsüchte – nach Beziehung, nach Vertrautheit, nach Verstanden werden beispielsweise – symbolisch chiffriert sind, sei zunächst offengelassen.“ (Gebhart, Kind und Natur S.129)
Verhaltensforscher, Therapeuten, Soziologen und Pädagogen haben hierzu viel Kluges geschrieben. Darum soll es in diesem Beitrag jedoch nicht gehen, vielmehr wollen wir am Beispiel der folgenden Beobachtungen und spekulativen Fragen dazu anregen, unser Gedankenspiel aufzugreifen und den „etwas anderen Blick“ auf das besondere Verhältnis zwischen Kindern und Tieren zu öffnen.
Weit draußen auf dem Meer liegt die silberne Insel Bujan. Auf ihr steht ein goldener Baum, und auf dem Baum lebt der Kater Bajun. Wenn er am Stamm hinaufläuft, singt er Lieder, wenn er hinunterläuft, erzählt er Märchen, und wenn er schnurrt, muss im Umkreis von hundert Werst jeder einschlafen. Aus einem russischen Märchen, erzählt von Alexej Nikolajewitsch Tolstoi
Helen und der Kater
Seit kurzer Zeit krabbelt Helen und kann sich frei bewegen. Heute sitzt sie auf dem Teppich und spielt mit den Dingen, die sie erreichen kann. Der Kater kommt ins Zimmer, Helen ist aufgeregt und wendet sich dem Tier zu, zerrt an seinem Fell, möchte ihn „begreifen“, mit ihm spielen. Der Kater flieht, Helen folgt ihm krabbelnd im Eiltempo. Sie bleibt vor der Katzenklappe sitzen und schaut dem Kater hinterher. Dieses Spiel wiederholt sich regelmäßig, Helen ist interessiert, der Kater überfordert. Bei jedem Besuch freut sich Helen, der Kater aber rennt weg.
Helen ist mittlerweile knapp über ein Jahr, kann laufen, der Kater beobachtet sie interessiert aber mit Abstand. Seit kurzem lässt er es zu, dass sie neben dem Futternapf liegt und ihm beim Fressen zuschaut.
Zeitsprung, Helen ist drei Jahre alt, der Kater kommt ins Zimmer, setzt sich zu ihr, putzt sich. Helen spielt, Kater schaut, Helen erklärt ihm ihr Spiel. Er legt sich hin, sie nimmt ein Tuch und deckt ihn mit aller Fürsorglichkeit zu. Der Kater springt auf und flieht durch die Katzenklappe. Helen läuft hinterher und sucht ihn. Der Kater wartet draußen, streicht um ihre Füße, spurtet los und Helen hinterher.
Zeitsprung, Helen ist vier Jahre alt, der Kater begrüßt sie, streicht um ihre Beine, sie spricht zärtlich mit ihm, möchte ihn füttern, er schnurrt. Der Kater, der sich von niemanden hochnehmen lässt, wird von Helen herumgetragen. Er lässt sich streicheln und spielt mit ihr. Abends legt er sich zu ihr ins Bett und bleibt, bis sie eingeschlafen ist, dabei ist er sehr vorsichtig. Der Kater hat nun einen Namen. Helen sucht die Nähe von Nero und er ihre. Worüber sprechen die Beiden? Helen sagt, der Nero ist mein Freund, er ist so weich und so schön, wir verstehen uns, er soll bei mir wohnen.
Wer bist Du?
Kinder verständigen sich mit Tieren in einer Weise, die uns fremd geworden ist. Die amerikanischen Autoren Katcher und Beck vermuten, dass es in unserer menschlichen Evolution Jahrtausende lang überlebenswichtig war, Tiere zu beobachten, sich ihnen zu nähern und ihr Verhalten zu entschlüsseln. Tiere auf der Flucht oder auf der Suche nach Beute deuteten auf mögliche Gefahren hin. Der Anblick ungestörter Tiere und Pflanzen wirkte hingegen beruhigend und war ein Zeichen für Sicherheit. Vielleicht sind es diese „Erinnerungsspuren“ unserer Vorfahren, die Kinder mit Tieren so selbstverständlich kommunizieren lassen. Im Spiel ahmen Kinder die Verhaltensweisen von Tieren nach und entwickeln in ihrer Unvoreingenommenheit oftmals eine Sprache und Gesten, die eine fast intime Nähe zum Tier schaffen. Dieser geheimnisvolle Dialog zwischen Kind und Tier muss nicht immer rational erklärbar sein. Er wirft Fragen auf, die uns ins Philosophieren bringen.
Verstehen nur Kinder die Sprachen der Tiere?
Welches Tier wäre ich gerne?
Urteilen Tiere?
Wie sehen Tiere die Menschen?
Haben es die Tiere aufgegeben, mit uns zu sprechen?
Was trennt uns von anderen Tieren?
Fühlen sich Tiere von Kindern eher verstanden?
Können Tiere lügen?
Wann ist ein Tier liebenswert?
Haben wir nicht alle denselben Ursprung?
Für den Anthropologen und Verhaltensforscher Michael Tomasello ist der Mensch das Tier, das „Wir“ sagt. Die Frage nach dem Wesen der Tiere ist somit auch immer eine Frage nach dem Wesen der Menschen. Der Mensch ist das unerkannte Tier unter den Tieren. Und Tiere, die sich nicht Menschen nennen, stellen die Mehrheit auf der Erde. Aber das ist ihr Geheimnis und das der Kinder.
Text und Foto: Britta und Udo Lange, Waldwerkstatt Freiburg