Und ewig spricht das Tier

Hier gibts den Artikel als PDF: wortklauber_#2_2021

„Wie sagt der Löwe Gute Nacht? … Die Tierkinder und ihre Eltern kuscheln am Abend vor dem Einschlafen genauso gern wie kleine Menschenkinder. Ein absolutes Lieblingsbuch fürs Gutenacht-Ritual…“, flötet uns der Klappentext eines aktuellen Kinderbilderbuchs ins Ohr.

Bilderbücher mit Tieren sind angesagt – in über der Hälfte der aktuellen Titel sprechen, streiten und menscheln Tiere, von den omnipräsenten Löwen über kleine Fliegen bis zu Otti Otter. Wie kommt es eigentlich, dass Kleinkindern in Geschichten Tieren begegnen, deren echte Vorbilder sie vermutlich niemals in freier Wildbahn erleben werden? Und warum verhalten sich diese Wesen wie Menschen?

Der Anfang liegt weit zurück. Vier- bis fünftausend Jahre alt sind die Tontafeln, auf denen die Sumerer die ältesten überlieferten Tiergeschichten der Menschheit per Keilschrift hinterließen. So etwas steht da: Neun Wölfe haben zehn Schafe gejagt, und nun fällt das Aufteilen schwer. Gut, dass ein besonders kluger zehnter Wolf rät: „Ihr seid neun und erhaltet eins, macht zehn. Ich bin allein und erhalte neun, macht ebenfalls zehn.“ Man erkennt: Es handelt sich um eine frühe Form der Fabel. Eine Message hat sie, vermuten Forscher, auch: Schülern wurde damit in spaßiger Form das Kommutativ-Gesetz vermittelt: 9+1=1+9.

Auch in allen folgenden Hochkulturen kommt das Tier in Fabeln zu Wort. Bei Griechen wie Römern handelt es sich meist um eine Art „Gebrauchstexte“ mit anschaulichen Beispielen. Oft geht es darum, menschliche Fehler in Vergleichen zu veranschaulichen: Wenn du das so machst, geht es dir wie dem Esel und dem Hund…

Lässt man „ein Tier mit dem anderen reden“, stellt Jahrhunderte später Martin Luther fest, kann man unbequeme Wahrheiten vermitteln: „… weil man sie nicht will hören aus Menschenmund, dass man sie doch höre aus Tier- und Bestienmund.“ Und so übersetzt er lateinische Fabeltexte: „Ejne Maus were gern uber ein Wasser gewest und kundte nicht und bat einen Frosch umb Raht und Hülffe. Der Frosch war ein Schalck…“ Damit jede noch so lustige Geschichte eine Lehre habe, schreibt Luther sie kurz und deutlich dahinter. In der Fabel von Maus und Frosch – erst will der Frosch die Maus ersäufen, wobei dann beide von der Kornweihe gefressen werden – fasst Luther sie so zusammen: „Die Welt ist falsch und untrew vol.“

Um 1810 bekommt die Fabel einen ernsthaften Konkurrenten, der sich zudem auch an Kinder richtet. Zwei Brüder namens Grimm erhalten von Herrn Brentano den Auftrag, nach Volksgut zu suchen. Die beiden Bürgersöhne aber kennen niemanden aus dem Volk, und so muss das gutbürgerliche Umfeld in Form einiger Tanten für die ersten „Märchen“ sorgen. Die Tanten kennen Märchen wie „Der Wolf und die sieben Geißlein“. Und weil sie eben zutiefst bürgerlich sind, kommt der Märchenstoff nicht ohne den erhobenen Zeigefinger aus: Beweist das Märchen nicht, dass man Mutters Anweisungen immer umzusetzen hat, statt leichtsinnig die Tür zu öffnen? Erst in späteren Märchen, die wirklich aus dem Volk stammen, hören die Gebrüder von deftigen Szenen, oft ohne erkennbare Moral. Gut, dass sie diese Texte einer gründlichen Nachbearbeitung unterziehen, um junge Leser nicht auf ungute Wege zu geleiten.

Einhundert Jahre später, um 1920, gehören Kindheit und Disziplin immer noch eng zusammen. Das erfahren auch die Besucher der „Häschenschule“, die je nach Geschlecht vom reichlich senilen Hasenlehrer für Wohlverhalten gelobt oder mit Backpfeife und Rohrstock auf den rechten Weg gebracht werden. Weil diese Tiergeschichte zum absoluten Longseller wird, erntet auch der Textautor im Laufe der Jahre gleichermaßen Lob wie Backpfeifen: Ist das Buch eine ironische Darstellung der Dorfschule? Oder verherrlicht es autoritäre Erziehung mit Rohrstock und Zwangs-Eier-Bemalen? Gerade nach 1945 wird das Buch scharf kritisiert, auch wegen der „beleidigenden Darstellung“ von Tieren in Menschenbekleidung. Dabei ist die Entstehung der „Häschenschule“ denkbar harmlos: Als der Sohn des Autors Alfred Sixtus klein war, liebten es Vater, Mutter, Kind und Tante, im Spiel als Hasen durch die Wohnung zu hoppeln – und deren Erlebnisse wurden dann zum Gedicht.

Verdummt das Bilderbuchtier unsere Kinder? Seit Ende der Sechzigerjahre haben es Häschen und Löwe zunehmend schwer, sich gegenüber menschlichen Protagonisten zu behaupten. Das hat wohl mit dem veränderten Blick auf Kinderliteratur zu tun, den Schriftsteller Peter Härtling in Worte fasst: „Es gibt eine Literatur für Kinder, deren Verlogenheit kränkend ist. Die Welt wird verschont, verkleinert, bekommt Wohnstubengröße… Ich plädiere für eine übersetzbare Wirklichkeit. Sie kann alles umfassen. Spiel, Leben und auch Tod. Zuhause und Krieg. Güte und Gemeinheit.“ Praktisch führt das zu Büchern wie Maurice Sendaks „Wo die wilden Kerle wohnen“, in dem nur die inneren Fantasietiere der menschlichen Hauptfigur toben.

Aber dann kehren die Tiere zurück. Ausgerechnet der als besonders frech verschriene Janosch will Ende der Siebziger mal einen Erfolgstitel raushauen: „Einmal habe ich mich hingesetzt und mir vorgenommen, ich male jetzt den größten Kitsch des Jahrhunderts. Nur für diese verflixten Kritiker und Pädagogen, die ja genau wissen, wie man Kinderbücher machen muss. Dann fing ich an, Teddybär macht eine Reise. Dann dachte ich, der muss noch einen Freund haben, ´nen kleinen Tiger. Am Ende dachte ich, du blamierst dich damit nur.“ Und so kehrt mit „Oh, wie schön ist Panama“ die putzige Welt der befreundeten Tier-Kinder zurück. Nur in Details erkennt man Brüche, wenn die beiden sympathischen Protagonisten artgerecht, aber unbeobachtet vom Leser eine Gans fangen und zum Schlachten vorbereiten.

Was treiben die Tiere heute im Bilderbuch? Auf den ersten Blick sind es bloße Menschen-Stellvertreter, die in ihren Tierbehausungen ein ganz normales Menschenleben führen. Oft scheinen sie – ein Musterbeispiel wäre Nadia Buddes „Ein zwei drei Tier“ – als unschuldige Sinnbilder für das schwierige Thema „Diversität“ zu dienen: Jeder ist anders!

Tiere werden auch gern als Protagonisten benutzt, wenn menschliche Eigenschaften im Mittelpunkt stehen, die man lieber nicht direkt benennen möchte. Im positiven Beispiel kann man damit ein wenig kindliche Lust an der Brutalität ins Buch schmuggeln, zum Beispiel in „Der Grüffelo“. Da droht die Maus Fuchs und Schlange fröhlich an, sie in Püree oder Spießbraten zu verwandeln – mit menschlichen Figuren schwer vorstellbar. Weniger nett sind die Geschichten, in denen gefräßige Schweine die inzwischen verpönte Rolle des Dickerchens spielen und andere Tiere die liebenswerte Dummheit vorführen, die man menschlichen Charakteren aus gutem Grund nicht mehr zuschreibt.

Vor allem aber ist die uralte Rolle des Belehrungstiers nicht totzukriegen. Schaut man in den Klappentext unzähliger Bilderbücher, dann erfährt man zum Beispiel mit Leo Lausemaus: „Aufräumen muss manchmal einfach sein.“ Die Fliege Zappelbein begreift, dass Rücksichtnahme und Verständnis füreinander besser sind, als ständig zu streiten. Und der kleine Affe versteht im Zuge der Handlung eine universelle Botschaft: „Ein gutes Abenteuer lässt sich nur ausgeschlafen bestehen.“

So entpuppen sich viele Bilderbuchtiere als heimliche Agenten von Eltern, die keinen Streit mit ihren Kindern wollen: „Dass du jetzt schlafen musst, sag ja nicht ich, sondern der kleine Affe.“ Unangenehme Erziehungs-Wahrheiten, verpackt in Tier- und Bestienmund, würde Luther loben. Oder wäre das Elternverhalten für ihn untrew und falsch?

Klappt das wenigstens? Zum Glück nicht, heißt es in einer Studie des Ontario Institute for Studies in Education (OISE) der University of Toronto. Die Studie ergab: Will man Kindern moralische Werte über Geschichten vermitteln, sollte man immer Figuren wählen, die dem Leben der Kinder nahe sind. Kein Leo Lausemaus erzieht Kinder zum Aufräumen, und Leser der „Häschenschule“ werden nicht automatisch Fans autoritärer Erziehung. Ob die Welt „untrew vol“ ist und Muttis Tipps die richtigen sind, lernt man nicht von Maus, Frosch und Geißlein, sondern in echten Geschichten und im echten Leben. Nur eine Lehre aus der Fabelwelt stimmt: 9+1 = 1+9.

Foto: qijin-xu, unsplash

Michael Fink ist Autor und Fortbildner.

Einen Kommentar schreiben

Deine Email-Adresse wird nicht veröffentlicht. Pflichtfelder sind mit einem * markiert.