toddler style III

Die besondere Sprache der Ein- und Zweijährigen

Teil 3: Was die Entfaltung des Kleinkindstils trägt

Kinder, die noch nicht oder kaum mit Worten sprechen, haben einen eigenen Stil, sich miteinander zu verständigen und aufeinander einzulassen. Wie Kleinkinder ihre sehr eigene Kultur entwickeln, wie wir diese wahrnehmen und unterstützen können, ist Teil eines ganz besonderen Buches* von Wiebke Wüstenberg und Kornelia Schneider, welches soeben bei wamiki erschien.

Hier gibts den Artikel als PDF: toddler_#2_2021

Ich steck auch ein Blaues drauf.

Der besondere Stil von Kleinkindern, sich in der Welt zu bewegen, macht es ihnen offensichtlich leicht, sich in ihren Spielideen auf gemeinsame Themen einzuschwingen, denen sie gleiche Bedeutung beimessen. Verschiedene Faktoren tragen dazu bei, dass sich alle Kinder beteiligen können:

• Spielfreude1 zeigt sich als Spiellaune und Spiellust in Frohlocken2, in Unbeschwertheit3 und Witz, in breitem Lächeln, Kichern und Lachen, in Kreischen und Bewegungsfreude.4

• Hin-und-her-Bewegungen sind die Grundlage für die Dynamik des Spiels. Hin und her5 bezieht sich einerseits auf die Bewegungsrichtungen zwischen zwei Polen, andererseits auf das Abwechseln. Zwischen zwei oder mehr Kindern geht es so lange hin und her, bis eine Antwort ausbleibt. Das Spiel folgt der Form einer Spindel und steigert sich bis zu einem Höhepunkt.6

• Wiederkehr7: Die Wiederkehr der erfundenen Spielformen ist grundlegend für die gemeinsamen Spiele im Kleinkindstil.8

• Musikmachen oder die musikalische Komponente in den Aktionen kennzeichnet darüber hinaus die Spielkultur unter Kleinkindern. Das gilt im Wortsinn und im übertragenen Sinn. Oft lassen Kinder Rhythmen und Melodien in ihr Spiel einfließen. Aber ihre Art, miteinander ins Spiel zu kommen und mit ihren Möglichkeiten im Rahmen der Gegebenheiten zu experimentieren, zeugt von musikalischer Qualität. Sie erinnert an Kammermusik oder Jazzimprovisationen, bei denen alle Beteiligten ihre Einsätze bekommen, sodass eine Symphonie und ein lebendiges „Wir“ fließend entstehen.9 Andere Autor*innen bezeichnen das, was in den Kompositionen der Kinder aus nonverbalen Elementen entsteht, als kinästhetischen Tanz10.

Synchronizität11 ist ein weiterer Faktor. Harrist und Waugh, die sich intensiv mit synchronen Interaktionen in der frühen Zweierbeziehung zwischen Mutter und Kind befassten, vermuten, dass das Erleben synchronisierter, also zeitgleich aufeinander abgestimmter Handlungen unter Kleinkindern dazu beiträgt, Beziehungen miteinander aufzubauen.12 Engdahl bestätigt, dass koordinierte Bewegungen und andere Arten synchronisierter Handlungen die Beziehungen intensivieren.13 Prozesse, die synchron ablaufen, zeichnen sich durch Gleichzeitigkeit und Einklang aus.

In Interaktionen kann sich Synchronie auf den konkreten Ablauf der Handlungen beziehen und/oder auf die dabei empfundenen Gefühlsschwingungen. Beide Partner haben sich so aufeinander eingestimmt und eingeschwungen, dass sie zur gleichen Zeit – oder jeweils abwechselnd nacheinander – das Gleiche tun, ohne sich absprechen zu müssen. Die Gleichrangigkeit in Beziehungen unter Peers erleichtert das wechselseitige Einschwingen auf synchrone Handlungen, die von synchronen Gefühlen begleitet sind.

Spielroutinen

Schon Einjährige entwickeln bestimmte Interaktionen im Aufbau und Ablauf von gemeinsamen Spielen. In ihrer Untersuchung in einer Kleinkindgruppe von acht Kindern im Alter von einem bis drei Jahren beschäftigte sich Storm-Mathisen damit,

• wie die Kinder ihre Interaktionen organisieren;

• wie geteilte Bedeutungen von Kindern, die schon laufen, aber noch nicht sprechen können, konstruiert und aufrechterhalten werden und

• ob es bestimmte Muster in der Interaktion gibt, die immer wiederkehren.14

Als Ergebnis ihrer Untersuchung beschreibt die Wissenschaftlerin, welche Art von Routinen Kinder im zweiten Lebensjahr beherrschen: „Das Konzept Routine wird in dieser Studie angewandt, um 1. konkrete wiederholte Sequenzen zu bestimmen, zu denen ein spezifisches Set von passenden Aktionen und Reaktionen gehört, das die Kleinkinder gemeinschaftlich praktizieren und woran sie sich erfreuen, und 2. die mehr abstrakte Idee oder Typifizierung einer kompletten Sequenz zu bestimmen, die die Interpretationen der Aktionen innerhalb einer Routine lenken.“15

Storm-Mathisen stellte fest: In der Regel gehen Einjährige darauf ein, wenn sie von Peers zum Mitmachen aufgefordert werden, und konstruieren ihre interaktiven Episoden auf der Basis einiger Austauschmuster oder Routinen, die unter den Kindern allgemein bekannt und relativ stabil sind. Es geht um „Verhaltenssequenzen, die damit beginnen, dass die Gegenwart von zwei oder mehr Interaktionspartner/inne/n im Umfeld erkannt wird und von beiden Partnern aus ein Versuch oder mehrere Versuche gestartet werden, durch Worte, Laute, Gesten, Bewegungen, Blicke oder Herstellen gleicher Gefühle16 zu einer beidseitig geteilten Bedeutung der laufenden oder gerade entstehenden Aktivität zu kommen“.17

Spielstruktur und Spieldynamik

Zur Struktur von Spielen, die sich zu Routinen entwickeln, gehört:

• sich miteinander abzuwechseln18;

• Handlungsabfolgen zu wiederholen;

• zu beobachten und zu warten, ob das andere Kind verstanden hat, worum es geht;

• Rollen zu verteilen.

In Bezug auf die Dynamik von Routinen kommt Storm-Mathisen zu folgendem Ergebnis: Jeder Zyklus hat vier Hauptphasen:

• Wechselseitige Aufmerksamkeit und Herstellen von Kontakt;

• Initiation der Routine, also das gemeinsame Verstehen19 etablieren;

• Aufrechterhalten der Routine, was sich daraus ergibt, wie die Kinder jeweils auf Impulse anderer Kinder eingehen und was danach folgt;

• Weiterentwicklung oder Beendigung.

Die meisten Routinen werden dadurch beendet, dass ein Kind aufhört oder weggeht. Länger andauernde Routinen werden eher durch einen Erwachsenen oder andere Kinder unterbrochen.20

Antwort- und Interaktionsmuster

Unterschiedliche Muster des Antwortverhaltens wirken sich auf den Interaktionsprozess des Abwechselns bei jeder Routine aus. Storm-Mathisen21 unterscheidet vier Typen von Reaktionsmöglichkeiten auf die Initiativen eines anderen Kindes und nennt die Reaktionen Echo.22 Wir nennen sie Resonanz.

• Wechselseitige Resonanz: Was jedes Kind macht, spiegelt das, was das andere Kind zuvor tat, und wird über zwei oder mehr Runden wiederholt. Es besteht die Tendenz zu einer Steigerung in Stärke und Erregungsgrad. Die Basis für wechselseitige Resonanz ist die Botschaft: „Ich mache es so, wie du es gerade gemacht hast – du machst es so, wie ich es gerade gemacht habe.“23

• Selbst-Resonanz: Jedes Kind macht etwas anderes, aber beide tun immer wieder das Gleiche, sodass jede Runde gleich ist. Zum Beispiel: A legt Kiesel auf das Ende des Rohrs, B fegt sie hinunter. Die Botschaft lautet: „Mach noch mal, was du gerade gemacht hast.“24

• Komplementäre, also einander ergänzende Resonanz: Jeder ergänzt oder vervollständigt die Initiative25 des/der anderen. Die Botschaft ist: „Mach, was ich gerade gemacht habe.“ Oder: „Folge dem und vervollständige das, was ich gerade gemacht habe.“26

• Reziproke, also beiderseitig umgekehrte Resonanz: Die Rollen sind klar verteilt, werden aber bei jeder Wiederholung gewechselt, sodass die einzelnen Wendungen27 und Runden nicht identisch sind. Die Botschaft lautet: „Jetzt machst du, was ich gerade gemacht habe.“

In Routinen unter einjährigen Peers kommt jedes der vier Antwortmuster vor, die Storm-Mathisen28 erkannte, also nicht allein wechselseitige und komplementäre, sondern auch reziproke Resonanz.

Typische Spielarten

Unter Einjährigen fand Storm-Mathisen vier Spielarten, die zur Routine entwickelt werden und regelmäßig auftauchen. Jede Spielart – außer der ersten – kann mehrere Varianten aufweisen:

• Aufnehmen und hinlegen29: Dies ist die einfachste Form. Die Rahmenstruktur besteht in abwechselnden Aktionen mit drei Elementen: etwas aufheben und ablegen – vokalisieren und das andere Kind beobachten – warten.

• Anbieten und annehmen30: Diese Routine kam am häufigsten vor. Sie besteht aus drei grundlegenden gestischen Elementen: anbieten – warten und beobachten – annehmen.

Bei allen drei folgenden Formen sind die Rollen klar verteilt: ein Anbieter und ein Empfänger. Üblicherweise werden sie nach einer bestimmten Zeit getauscht31: geben und nehmen: ein Objekt, Fürsorge oder Zärtlichkeit; füttern und gefüttert werden (meist draußen, drinnen eher: gießen und trinken); sich in einen Wagen setzen und gezogen oder auf der Schaukel angeschoben werden.

• Rennen und verfolgen32: An beiden Formen beteiligen sich in der Regel mehrere Kinder. Ein Kind beginnt, meist begleitet von einem „Schlachtruf“, zum Beispiel „Heia-heia!“, ein anderes Kind steigt ein, weitere Kinder folgen.33 Jede Runde hat ihre spezifischen Variationen. Selbst die Jüngsten können bei diesem Spiel schon mithalten. Häufig wird es sehr lange gespielt, wenn Erwachsene es nicht unterbrechen34: hin- und herrennen zwischen zwei fixen Polen35, im Kreis rennen36.

• Verschwinden und wieder erscheinen37: In unserem Buch wird beschrieben, wie die folgenden Spiele funktionieren: Guck-Guck-Spiel,38 Hallo und Tschüss39.

„Es gehört zur Kreativität und Kompetenz der Kleinkinder, vertraute Routinen zu initiieren, die zu Interaktionen führen, und sie aufrechtzuerhalten.“40 Gegenseitige Aufmerksamkeit ist Voraussetzung, damit solche Routinen entstehen können, reicht aber nicht aus. Die Kleinkinder müssen auch ein gemeinsames Interesse an den Aktivitäten haben.

Am wichtigsten für den Aufbau solcher Routinen ist die miteinander geteilte emotionale Erregung41. Indem sie dieser Erregung Ausdruck verleihen, inspirieren die Kleinkinder einander. Je vertrauter eine Spielroutine ist, desto schneller steigen andere Kinder voller Wonne beim geringsten Anzeichen für den Beginn ein.

 

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1 Playfulness, 2 Frolicking, 3 Light-heartedness, 4 Løkken 2009: 37, 5 Here and there, 6 Løkken 2009: 38, 7 Recurrance, 8 Løkken 2009: 38, 9 Løkken 2000a: 536, 2009: 38, 10 Wittmer 2008: 67, 11 Synchrony, 12 Harrist/Waugh 2002: 580, 13 Engdahl 2012: 84, 14 Storm-Mathisen 1995: 55, 15 Storm-Mathisen 1995: 59, 16 Affect matching, 17 Storm-Mathisen 1995: 48, 18 Turn-taking, 19 Joint understanding, 20 Storm-Mathisen 1995: 101, 21 Storm-Mathisen 1995, 22 Echoing, 23 Ebd.: 101, 24 Ebd.: 101, 25 Turn, 26 Ebd.: 101, 27 Turns, 28 Storm-Mathisen 1995: 92ff., 29 Pick – put, 30 Offer – acceptance, 31 Storm-Mathisen 1995: 64, 32 Run – chase, 33 Siehe Kapitel 5.1, das weitere Beispiele enthält, 34 Storm-Mathisen 1995: 70, 35 „Heia-heia“-Routine, 36 Circular routine, 37 Disappearance – reappearance, 38 Peek-a-boo, 39 Hello – goodbye, 40 Storm-Mathisen 1995: 80 – Übersetzung: K. S., 41 Excitement

Text: Wiebke Wüstenberg und Kornelia Schneider

Fotos: Julian van Dieken

 

 

 

 

 

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