Raus aus der Komfortzone

Performance-Künstler wie Yiannis Pappas setzen ihren Körper ein, um lebende Skulpturen zu schaffen, politische Aussagen zu treffen und traditionelle Vorstellungen in Frage zu stellen.

Hier gibt es den Artikel als PDF: Bildstrecke_#3_2023

Athen, Platz der Eintracht, Biennale 2016, 4 Tage Performance

Unsere Fähigkeit zu sehen, ermöglicht uns, uns durch unsere Umgebung zu bewegen, und unsere Bewegung durch unsere Umgebung hilft uns wiederum, klarer zu sehen. Wenn wir uns aus unserer Komfortzone herauswagen und unsere bestehenden Überzeugungen und Wahrnehmungen in Frage stellen, sind wir in der Lage, die Dinge aus neuen und anderen Perspektiven zu sehen. Das wiederum hilft uns, persönlich und als Gemeinschaft zu wachsen. Yiannis Pappas

Athen, Platz der Eintracht, Biennale 2016, 4 Tage Performance

 

Frieden bewegen

Yiannis Pappas hat Innenräume des Benaki Museums in eine Werkstatt verwandelt. Er näht unzählige weiße Stoffe aneinander. Tag für Tag, 34 Stunden lang. Besucher*innen sind irritiert und verwundert. Sie verfolgen das in unermüdlicher Arbeit wachsende, scheinbar endlose weiße Stoffgebilde. Es schlängelt sich aus dem Museum direkt in das Zentrum der Stadt und entfaltet sich – angeführt und getragen von Yiannis Pappas – zu einer nicht enden wollenden Friedensfahne. Eine symbolische Prozession, die nachdrücklich zum Stillstand der Waffen auffordert.

Athen, Platz der Eintracht, Biennale 2016, 4 Tage Performance

 

Athen, Platz der Eintracht, Biennale 2016, 4 Tage Performance

Hier könnt ihr einen kleinen Film dazu anschauen: https://yiannispappas.com/home/public-interventions/demi-gloire

Gefilmt von Tokomburu, produziert von Inkas Film Productions

 

Mehr Infos und Projekte von Yiannis Pappas gibt es unter: https://yiannispappas.com/

 

 

Durch Wände gehen

Ein Schlüssel, fünf enge „Zellen“ in Reihe, getrennt durch Wände, es gibt weder Türen noch Schlösser. Das Szenario ist hinter Glas sichtbar für alle, die hinschauen mögen. Diese Performance befasst sich mit dem Gefangensein, zum Beispiel in persönlichen, politischen, wirtschaftlichen und religiösen Konflikten. Sie thematisiert zugleich soziale Ausgrenzung und Ausbeutung. Der Titel „A Key“ ist ein Homophon* des griechischen Wortes „εκεί“ (ausgesprochen „ekí“) und verkörpert sowohl die Fixierung auf die Flucht als auch einen Akt der Nötigung in einen Zustand der Unterwerfung.

* Homophon bedeutet: gleichlautende Wörter in unterschiedlicher Bedeutung.

 

Performance, Benaki Museum, Athen

 

Performance, Benaki Museum, Athen

 

wamiki: Bei der Performance „A Key” gehst du mit einem Schlüssel durch die Wände, ohne dass der Schlüssel Türen aufschließt. Was hat dich dazu bewegt?

Yiannis: Die Performance entstand 2015/2016, – also mitten in einer Zeit der krassesten Fluchtbewegungen: Zwei Millionen Menschen suchten den Weg nach Europa. Die Performance-Künstlerin Marina Abramović lud mich ein, eine Long Duration Performance zu entwickeln. Ich wollte eine politische Performance gestalten. Das Thema: Fluchtbewegung bewegt mich als Immigrant in Deutschland seit vielen Jahren und ich erinnerte mich an meine Militärzeit in Griechenland in den 1990er Jahren: Dort sollte ich u. a. beobachten, ob ein Boot kommt und dann diese Information weitergeben. Ich sollte praktisch über das Glück anderer Menschen entscheiden, was ich extrem schwierig fand und finde.

In der Performance wollte ich die Situation thematisieren, von einem Ort zum nächsten und wiederum nächsten aufzubrechen. Ich nutze vertraute Symbole: Schlüssel und Räume. Du hast mit dem Schlüssel eine Lösung, aber sie funktioniert nicht. Denn es gibt weder Türen noch Schlösser. Du musst eine andere Art und Weise finden, wie du weiterkommst. Ich war jeden Tag acht bis zehn Stunden in der Installation gefangen, mit jeweils einer Mahlzeit pro Tag und einem einzigen Fluchtwerkzeug: dem Schlüssel.

wamiki: Du überwindest in diesem Werk sehr viele Hindernisse. Von außen sieht es nicht so aus, als könntest du durch diese Wände kommen, aber du entwickelst mit dem ­Schlüssel verschiedene Techniken, sie zu überwinden und hinterlässt gleichzeitig eine eindrucksvolle Landschaft aus Trümmern.

Yiannis: Mit dem Schlüssel durchbreche ich die Wände der Zellen. Die Trümmer, die dabei entstehen, erinnern mich an Kriege oder Berge, die man hinter sich lässt… Die letzte Zelle öffnet sich erst, wenn ein Besucher mir den Schlüssel aus der Hand nimmt und ihn ins Außenschloss steckt.

wamiki: Das Thema Menschenrechte war auch Thema deiner Arbeit in Amsterdam?

Yiannis: Dort entwickelte ich eine partizipatorische Performance am Theater. Ich hatte ein Mi­krofon und die zentrale Loge mit der besten Sicht. In der sitzen sonst die Königin und der König. In den übrigen 30 Logen stand jeweils eine Schreibmaschine, – alle beleuchtet. Ein Mikro­fon übertrug das Tippen in den Theaterraum – sehr laut – krappkrappkrappkrapp. Neben jeder Schreibmaschine lag je einer der 30 internationalen Menschenrechte-Artikel. Die Besucher*innen waren inspiriert, darüber zu schreiben, was sie denken. Jede bzw. jeder konnte in diese Logen gehen und zwei Menschen haben das Geschriebene gesammelt und zu mir gebracht. Ich habe als „Stimme der Menschen“ alle Seiten laut vorgelesen. Es gab viel Diskussion, das Archiv ist gefühlt endlos – ich scanne noch immer die mehr als 3000 Seiten, die in einer Woche geschrieben wurden.

wamiki: Du hast als „König des Theaters“ eine ewige Rede über Menschenrechte gehalten, die dir die Menschen soufflierten. Wow!

Yiannis: Ja, jeden Tag in der Woche, acht Stunden täglich. Ich erinnere mich an ein Mädchen, das mit seiner Familie die Ausstellung besuchte. Es schrieb zu den Genderrechten, dass es sich nicht als Mädchen fühle, darüber aber nicht mit seinen Eltern reden könne, was es als sehr bedrückend empfinde. Ich habe ihr Papier vorgelesen. Später bekam ich eine Nachricht. Die Eltern hatten zugehört, ohne zu wissen, wer diese Zeilen geschrieben hatte. Am Abend sprachen sie mit ihren Kindern über die Freiheit von Gender. Und noch in der gleichen Nacht fiel dem Mädchen ein gewaltiger Stein vom Herzen, denn die Eltern hatten kein Problem damit. Großartig! Wie viele Jahre hätte eine „Lösung“ mit einer Psycho­therapie gebraucht? Durch die Kunst brauchte es nur den einen Moment, der den Anstoß gab, die Frage zu klären. Wie Kunst uns bewegen kann und praktisch in die Gesellschaft hineinzuwirken vermag, begeistert mich immer wieder neu!

 

 

Grenzen überwinden

Yiannis Pappas und Thiago Bortolozzo spielen mit den Grenzen von Körper, Raum und Zeit.
Sie schaffen lebendige Skulpturen für den Moment, transformieren Raum und Körper.

 

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