Schreib- Schriftsprache

Es geht um Literacy in diesem Heft. Ein Fachwort, bei dessen Nennung wir vorsichtshalber wissend nicken sollten: Kenn ich, fördere ich, engagier ich mich für! Später ist immer noch Zeit, zu ergooglen, was das Zauber­wort bedeutet.

Tun wir das, stößt uns erstens auf, dass das Wort im Deutschen vor allem im Zusammenhang mit „Kindergarten“ auftaucht. Zweitens irritiert, dass die Google-Fachleute schon im Erklärkasten dunkel raunen: „Der Begriff Literacy ist dabei sehr komplex.“ Drittens aber tröstet uns die Wiktionary-Definition: Literacy bedeutet neben „Alphabetisierung“ auch „Gebildetsein“ und „Belesenheit“. Na, prima! Weil wir uns eben so hübsch belesen haben, sind wir jetzt gebildet.

Bedeutet Lesen-Können tatsächlich Gebildetsein? Oder ist es wenigstens die Grundlage dafür? Das hieße ja, dass mündliche Bildung keine wäre.

Begriffe wie „Literacy“ sprechen für’s Gegenteil: Geschrieben wirken sie ausgesprochen schlau, ausgesprochen hingegen – „Litträssi“ – weniger imposant. Sagt einer: „Erklär das mal“, fängt das Stammeln an: „Heißt eben, dass die Kinder lesen, aber irgendwie nicht nur so, wie wir das denken, sondern noch viel mehr und anders, ähem, Litträssi eben.“

Älter als Litträssi ist das Wort „Schrift“. Es klingt so deutsch, dass schon die Nazis es einst anstelle der Begriffe „Literatur“ oder „Journalismus“ propagierten – etwa in Form von „Schrifttum“ oder „Schriftleiter“. Ziemlich sinnfrei freilich, geht doch das Wort „Schrift“ wie die anderen Begriffe auf lateinische Wurzeln zurück: „Scribere“ heißt schreiben, und es hatte gute Gründe, dass die Germanen vorm Auftauchen der Römer kein Wort für das Schreiben benötigten. Als das Wort dann in die Sprache dieser Ur-Deutschen einging, beschränkte es sich interessanterweise zunächst auf seine Zweitbedeutung im Sinne von „etwas bestimmen“, siehe auch: „Vorschrift“. Erst später wurde es im Sinne von „Buchstaben schreiben“ wichtig. Kann sein, dass so etwas eine Kultur prägt: Schreiben war zuallererst dafür da, Vorschriften zu verfassen.

Eine besonders wichtige Vorschrift war ehedem die „Heilige Schrift“, die die meisten Religionen kennen. Typisch ist, dass der jeweilige Schreiber zumindest auf die Autorenrechte verzichtete – wurden diese Schriften doch von Göttern diktiert, die zwar allmächtig waren, aber ohne Menschenhilfe nichts Schriftliches zuwege brachten. „Im Anfang war das Wort“, hieß es demzufolge, und noch lange wurde die mündliche Sprache dem Schriftlichen vorgezogen. Selbst Bibel-Übersetzer Luther sah Drucksachen kritisch: „Es ist ein großer Unterschied, etwas mit lebendiger Stimme oder mit toter Schrift an Tag zu bringen.“

Abschrift, Beschreibung, Computerschrift, Druckschrift, Einschreiben, Habilitationsschrift, Inschrift, Mitschrift, Rückschreiben, Umschreibung, Verschriftlichung, Zeitschrift und Zuschrift beweisen, dass sich die Schrift in unserer Kultur an die Spitze kämpfte. Schönstes Schreib-Wort – weil herrlich tautologisch – ist die „Schreib-Schrift“, die sich stets vernachlässigt fühlende große Schwester der „Druckschrift“.

Egal, denn die Digitalisierung veränderte alles: „Druckschrift“ besagt, dass die Schrift gedruckt wird, was weder für E-Mails („Aus Umweltschutzgründen bitte nicht ausdrucken“) noch WhatsApp- und SMS-Buchstaben gilt. Von den Emojis ganz abgesehen.

Wie wäre es denn mit Tippschrift? Und was ist mit der Schrift, wenn sie per Sprachsteuerung in ein Gerät eingegeben wird: Sprechschrift? Braucht man, um sich diese Fähigkeit anzueignen, eigentlich einen Sprechschriftspracherwerb?

Vielleicht wird wirklich alles besser, wenn Schrift nicht mehr getippt und geschrieben, sondern mittels Sprechen eingegeben wird – und gesprochene Sprache wie Schriftsprache eins werden. Wir Wortklauber können uns freuen: Statt Vorschriften kriegen wir vorgesagt, und statt abzuschreiben, sprechen wir uns lieber ab. Statt etwas nur zu beschreiben, besprechen wir es. Aus der Rechtschreibung, das mag irritieren, wird Rechtsprechung. Erlesen wird kaum noch was, sondern durch Sprachausgabe erhört. Die Belesenheit, von der anfangs die Rede war, muss vielleicht dem Hörensagen weichen. Wer weiß?

Wahrscheinlich steht der jungen Litträssi die spannendste Zeit noch bevor.

Foto: EzraPortent, photocase.de

Michael Fink ist Autor und Fortbildner.

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