Wenn Recht auf Pädagogik trifft

Ein ungleiches, aber starkes Paar

Hier gibt es den Artikel als PDF: Rechthaber_Buch_wamiki_#5_2021

Recht und Pädagogik pflegen eine lockere Fernbeziehung miteinander. Im Alltag kommt man gut ohne einander klar und denkt nur selten darüber nach, was der jeweils andere für richtig halten würde: „Ist das jetzt eigentlich korrekt, was ich tue?“

Nur in besonderen Momenten kommt es zum intensiven Zusammentreffen von Recht und Pädagogik. Und wie in allen Fernbeziehungen geht es dann darum, ob die Ansprüche der beiden Beteiligten in Einklang zu bringen sind: „Also, aus meiner Pädagoginnen-Sicht wäre es wichtig, dass… Was sagst du als Jurist dazu?“

Gut, dass es Menschen gibt, die beide Sprachen verstehen und deshalb zwischen den ungleichen Partnern vermitteln können. Lars Ihlenfeld ist als Jurist und Kita-Experte genau der richtige Mann, bohrende Fragen zu wichtigen Rechtsthemen in der Kita zu beantworten. Anknüpfungspunkt sind dabei Sätze, die häufig fallen, wenn sich die Pädagogik plötzlich an ihren Beziehungspartner Recht erinnert.

„Als Erzieherin stehst du eigentlich mit einem Bein im Knast.“

Immer wieder hört man in Kitas diesen Satz. Gibt es denn tatsächlich viele Fachkräfte, die im Gefängnis landeten? Oder zumindest zu hohen Geldstrafen verurteilt wurden?

Die Wahrscheinlichkeit, im Knast zu landen, bewegt sich bei Fachkräften, die mit angemessener Ernsthaftigkeit arbeiten, gegen 0. Allein in Kitas werden immerhin zurzeit täglich rund 3,8 Millionen Kinder von mehr als 750.000 Pädagoginnen und Pädagogen betreut. Zu einer Verurteilung durch ein Gericht kommt es pro Jahr – Pi mal Daumen – in ein bis zwei Fällen.

Damit klar ist, welches Maß an Nachlässigkeit man aufbringen muss, um ins Gefängnis zu kommen: Während eines Kita-Ausflugs starb vor wenigen Jahren im Umland von Bremen ein Kind im Schwimmbad, nachdem eine Betreuerin dem Nichtschwimmer-Kind die Schwimmflügel abgenommen hatte und es anschließend unbeobachtet in das Schwimmerbecken gehen ließ. In diesem Fall grober Fahrlässigkeit wurden die betreuenden Kräfte „nur“ zu einer Freiheitsstrafe von wenigen Monaten verurteilt, die auch noch zur Bewährung ausgesetzt wurde.

„Verletzung der Aufsichtspflicht!“

Egal, ob im Elternchat oder in der Teamrunde: Das scheint der am häufigsten in Kitas zu hörende Rechtsbegriff zu sein. Er klingt furchtbar deutsch und streng, schon weil man sich unter „Aufsicht“ vorstellt: Den ganzen Tag muss man jedes Kind bei jeder Beschäftigung mit Argusaugen bewachen. In einer offen arbeitenden Kita mit vielen Freiräumen für Kinder ist das schwer vorstellbar. Da erhebt sich die Frage: Wie kommt man der „Aufsichtspflicht“ juristisch korrekt nach, ohne jedes Kind mit Bodycam und Peilsender auszustatten?

Ein wirklich guter Ratgeber, der zurzeit auf vielen Feldern des gesellschaftlichen Zusammenlebens zunehmend aus der Mode zu kommen scheint, ist der gesunde Menschenverstand. Zumindest deutsche Gerichte pflegen ihm in aller Regel noch Gehör zu schenken, wenn sie formulieren, dass das zu tun ist, was im konkreten Fall nach vernünftigen Anforderungen von einer aufsichtspflichtigen Person zum Schutze des Kindes verlangt werden kann – immer unter Berücksichtigung des obersten Bildungsauftrags, der Erziehung zur Eigenverantwortlichkeit.

„Da würde ich aber einschreiten, bevor was passiert.“

Über die moderne Kindheit ist zu lesen: Kinder haben immer weniger Umgang mit Risiken. Auch Kitas scheinen immer mehr auf Sicherheit zu achten. Liegt das an immer strengeren Vorschriften? Haben Kinder das Recht, gefährliche Dinge zu erproben? Kann man sich als Fachkraft mit der „Etwas-Zutrau-Pflicht“ herausreden, wenn sich ein Kind in Gefahr begibt?

Seit Einführung der Gurtpflicht zum 1. 1. 1976 scheint das allgemeine Sicherheitsbedürfnis stetig zu steigen, und Kitas sind immer auch ein Spiegel ihrer Zeit. In den Vorschriften finden sich jedoch kaum direkte Anhaltspunkte in Bezug auf die Möglichkeit, Kinder auch gefährliche Dinge selbst erproben zu lassen. Doch die umfangreiche Regulierung zu den räumlichen Gegebenheiten, Prüfpflichten von Geräten und ein Überangebot an Rechtsanwälten erhöhen vermutlich die Risikoaversion. Dabei wollen gerade die Unfallkassen der Länder, die die Gefahren in den Kitas absichern, dass Kinder lernen, mit Risiken umzugehen, auch damit sie später als Erwachsene weniger Kosten für die gesetzlichen Unfallversicherungsträger produzieren. Die Formulierung des Bundesgerichtshofs in einer Entscheidung vom 24. 3. 2009 – es ging um den Zeitraum, in dem ein siebenjähriger Junge ohne direkte Aufsicht sein darf – zielt in eine ähnliche Richtung: „Andernfalls würde jede vernünftige Entwicklung des Kindes, insbesondere der Lernprozess im Umgang mit Gefahren, gehemmt.“

„Da stehen gleich die Eltern auf der Matte!“

Diese Drohung hört man immer wieder, wenn in der Kita jemand etwas Ungewohntes ausprobiert. Was für eine Matte ist das eigentlich? Falls es nur die vorm Kindergarten-Eingang ist – was sollte man tun, damit sie nicht zur Fußmatte der nächsten Rechtsanwaltskanzlei wird?

Sofern das Kita-Konzept auch Ungewohntes ermöglicht – was überwiegend der Fall sein wird –, hilft sicher eine Vorabinformation über das Vorhaben, verbunden mit der Einladung, Fragen zu stellen und Vorschläge zu machen. Möchte man eine konzeptionelle Änderung vornehmen, sollte man die jeweiligen Elterngremien beteiligen. Die meisten Landes-Kita-Gesetze sehen hier lediglich Informations- und Anhörungsrechte vor, sodass Eltern nicht übermäßig viel Einfluss nehmen können, auch wenn manche das gern versuchen.

„Können die nicht besser auf die Sachen der Kinder aufpassen?“

So seufzen Eltern, obwohl bei ihnen zu Hause bestimmt auch mal was wegkommt. Doch wir wissen: Oft sind es eher Nebensächlichkeiten, aus denen die größten Dramen entstehen – zum Beispiel verlorene Hausschuhe oder schmutzige Designerklamotten. Gilt die Aufsichtspflicht auch in Bezug auf die Unversehrtheit des Glitzer-Pullis von Lisa oder Levis mitgebrachten Gummi-Ritter?

Die Haftung der Aufsichtspflichtigen ist in dem Abschnitt des BGB geregelt, der sich mit Schadensersatz befasst. Daher umfasst die Aufsichtspflicht auch Schäden, die dem Kind oder außenstehenden Personen entstehen. Ob aber eine Verletzung dieser Pflicht als Voraussetzung für eine Haftung – also die Erstattung der Kosten für die Neubeschaffung des Gegenstands – vorliegt, können Eltern nur sehr schwer beweisen. Hinzu kommt, dass der zu erstattende Betrag selbst für einen Designer-Pulli so schnell schmilzt wie ein Ü-Ei in der Mikrowelle. Denn sobald der Pulli gekauft wurde, das Geschäft verlassen und einen Einsatz in der Kita hinter sich hat, bleibt vom Kaufpreis nur noch etwa die Hälfte übrig, Tendenz sinkend. Und wenn man dann noch das sogenannte Mitverschulden – wer Designer-Pullis in die Kita mitgibt, ist selber schuld – abzieht, bewegen wir uns in ganz abgespeckten Euro-Gefilden.

„Das geht einfach nicht so weiter mit denen!“

Dieser Satz bezieht sich auf Eltern oder Teammitglieder, die einfach nicht zum Konzept der Kita passen. Zwar sind Fachkräfte dafür bekannt, es auch in hoffnungslosen Fällen immer noch mal miteinander zu probieren. Aber es gibt Fälle, in denen Hopfen und Malz verloren zu sein scheint. Besser sauber trennen, als sich jahrelang die Haare auszureißen?

Da gibt es unterschiedliche Schmerzgrenzen. Hat man geprüft, ob die Einwände der Eltern oder Teammitglieder nicht vielleicht doch eine sinnvolle Ergänzung oder Abwandlung sein könnten, und ist mit sich selbst im Reinen, findet also die Vorschläge nicht nur deshalb unbrauchbar, weil man den Urheber nicht mag, dann sollte man einen Trennungsprozess einleiten. Vielleicht kann man dem Betroffenen sogar helfen, eine besser passende Stelle oder Kita zu finden.

„Wir sind selbst schuld, dass wir unter diesen Bedingungen noch arbeiten!“

Ständig beklagen Fachkräfte schlechte Personalschlüssel und nicht in der Arbeitszeit zu lösende Zusatzaufgaben. Wäre es effektiver, sich nicht immer nur zu be-klagen, sondern auch mal wen zu ver-klagen?

Sich nur zu beklagen, das bringt ja keine Punkte. Verklagen dauert allerdings sehr lange. Hier ein paar Tipps aus der rechtlichen Trickkiste:

1. Bei dauerhaft zu geringer Fachkraft-Kind-Relation eine Überlastungsanzeige an den Träger schicken. Das reduziert das eigene und erhöht das Haftungs­risiko des Trägers.

2. Laut über die Gründung eines Betriebsrates nachdenken oder sogar einen gründen. Die dadurch entstehenden Unbequemlichkeiten für den Träger könnten ihn zu bisher verweigerten Zugeständnissen bewegen.

3. Mit den Füßen abstimmen, also die aktuelle Beschäftigungssituation nutzen und zu einem anderen Träger wechseln.

„Da bleibt nur der Gang vor Gericht.“

Was kann man tun, um sich diesen Gang zu ersparen – während eines Konflikts oder am besten, bevor er entsteht?

Das Zauberwort in diesem Zusammenhang ist Partizipation: Eltern frühzeitig, kontinuierlich und offen gegenüber ihren Ideen einbeziehen. Grundsätzlich viel kommunizieren per Newsletter, Foto-Dokumentation, Eltern-App. Das kostet zwar Zeit, aber kann Freude machen und spart mit Sicherheit die Zeit ein, die bei Missverständnissen und Misstrauen wegen zu geringer Kommunikation aufgewendet werden muss.

In Bezug auf die Teammitglieder heißt Beteiligung: Macht-Hierarchien abbauen oder gegen Wer-kann-was-gut-­Hierarchien eintauschen, auf Augenhöhe kommunizieren, Transparenz auch in finanziellen Dingen walten lassen und Verantwortung verteilen, so dass das Gerede über Diedaoben und der Seufzer Wennmannichtalles­selbermacht unterbleiben.

„Das darfst du nicht!“

Meistens geht es bei Rechtsfragen um Konflikte zwischen Eltern und Fachkräften, Team und Träger oder um kollegiale Konflikte. Dabei ist es mindestens genauso wichtig, sich um die Rechte der Kinder zu kümmern. Oder?

Wäre es cool, eine Gruppe Vierjähriger wegen „Verletzung des Rechts auf Nichteinnahme von Quark mit Stückchen“ oder wegen „Zum Mittagsschlaf verdonnert werden“ zu vertreten?

Klar wäre es cool, vor einem Kita-Gericht aufzutreten und damit auch dem Recht auf Beschwerde in eigenen Angelegenheiten Geltung zu verschaffen. Sollte es allerdings tatsächlich dazu kommen, müsste ich wohl auch dem Träger zu Hilfe eilen und stünde in einem handfesten Interessenkonflikt. Denn zumindest die wiederholte Anordnung zur Einnahme von Quark mit Stückchen, womöglich sogar verbunden mit der Anordnung, den Spinat immer aufzuessen, dürfte ein Anzeichen für eine schwerwiegende Kindeswohlgefährdung sein. Das ruft die Kita-Aufsicht auf den Plan und kann sogar die Betriebserlaubnis kosten.

Ausblick

Ist es gut, dass Recht und Pädagogik diese Fernbeziehung führen, in der man sich nicht gegenseitig auf die Nerven geht? Oder wäre dem Paar zu wünschen, dass es mehr voneinander mitbekommt?

Ehrlich? Die führen doch gar keine Fernbeziehung! Sie sind viel enger miteinander verbunden, als sie sich eingestehen wollen. Zum eigenen Besten und zum Wohle der Beziehung sollte die Pädagogik endlich anerkennen, wie zuverlässig das Recht auf sie aufpasst und wieviel Freiheit es ihr in Wirklichkeit gewährt. Dann könnte sie vielleicht auch leichter darüber hinwegsehen, dass das Recht gelegentlich recht kleinlich sein kann.

Ärger mit Sie wissen schon

In diesem Extra werden Rechtsfragen aus der Pädagogik verhandelt: Michael Fink erzählt von typischen Konfliktsituationen und ihren Protagonisten im Kita-Alltag, von Problemen in der Kommunikation mit Kindern, Eltern, Trägern, Kolleg*innen …

Hinter mehr als 25 anschaulich geschilderten Ärger-Anlässen verbergen sich spannende Rechtsfragen, die Lars Ihlenfeld jeweils prägnant und fundiert beantwortet. Weiterführende Tipps und Links vertiefen die Auseinandersetzung. Das Extra hilft, professionelle Lösungen für schwierige Situationen im Alltag zu finden und dabei nicht den Humor zu verlieren.

 

Lars Ihlenfeld, Michael Fink

Ärger mit Sie wissen schon – Rechtsfragen aus der Pädagogik

128 Seiten, mit Fotos, ISBN 978-3-96791-006-3, 19,90 Euro

Erscheint im Januar 2022 bei wamiki

 

Die Autoren:

Lars Ihlenfeld ist Rechtsanwalt, dreifacher Vater, Waldkindergarten-Gründer, Familienmensch und co-leitet eine Kita in Hamburg.

Michael Fink ist Fortbildner, Kunstpädagoge, Autor, dreifacher Vater, wamiki-Mitgründer und lebt in Berlin.

 

Text: Michael Fink und Lars Ihlenfeld

 

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