Wie befähigt man kleine Kinder, ­demokratisch zu handeln?

Wenn man fragt, warum Kinder lernen sollen, demokratisch zu handeln, muss man wissen, was Demokratie überhaupt ist.

Prof. Dr. Frauke Hildebrandt beantwortet diese Frage und macht Vorschläge für das Handeln im Kita-Alltag.

 

Hier gibt es den Artikel als PDF: Demokratisch handeln_#1_2024

 

Was ist eigentlich Demokratie?

Das lässt sich nicht in einem Satz und nicht nur mit dem Verweis auf Mehrheitsentscheidungen beantworten, die ein Grundmerkmal der Demokratie sind. Diese formale Dimension der Demokratie besagt: Auf bestimmte Weise kommen Abstimmungen zustande, Mehrheiten müssen gefunden und Minderheiten geschützt werden. Dazu sind Prozesse erforderlich, in denen Entscheidungen mehrheitlich gefällt werden können. Damit dieser formale Aspekt erfüllt werden kann, braucht es die substanzielle Dimension von Demokratie, nämlich das Symmetrie-Prinzip: Alle Menschen sind gleich, haben die gleichen Rechte, meine Meinung ist nicht mehr wert als deine Meinung, und jede Stimme zählt gleich viel. Nur dadurch kann man Mehrheitsentscheidungen legitimieren.

Stellt man die substanzielle Dimension infrage und sagt, Gleichheit, Minderheitenschutz und Menschenrechte, also alles, was den substanziellen Aspekt der Demokratie ausmacht, interessiert nicht, dann funktioniert der Abstimmungsprozess am Ende nicht mehr. Man kann also nicht darüber abstimmen, ob das Symmetrie-Prinzip gelten soll. Das wäre nicht demokratisch.

 

Was brauchen denn Kinder, um eine Idee von Demokratie zu kriegen?

Sie müssen sich selbst und andere als gleichwertige Menschen erleben können. Das ist die substanzielle Grundfrage. Dazu haben wir verschiedene Dimensionen definiert und nicht nur Demokratietheorien benutzt, sondern auch Entwicklungstheorien, zum Beispiel die Selbstbestimmungstheorie von Deci und Ryan. Sie besagt, dass jedes Kind von Anfang an ein Autonomie-, ein Sicherheits- und ein Zugehörigkeitsbedürfnis hat. Das Autonomiebedürfnis ist ein Bedürfnis nach Selbstbestimmung, das eng mit Mitbestimmung verknüpft ist. Das heißt zum Beispiel: Der Tag in der Kita oder Krippe muss so gestaltet sein, dass die Kinder möglichst viel Raum für Selbstbestimmung bekommen, also mitbestimmen können, wie sie ihre Zeit verbringen. Dazu sind Aushandlungsprozesse erforderlich.

Noch einmal zurück: Unser Erziehungsziel ist ein mündiger Bürger mit Demokratiekompetenz, ein Mensch, der den substanziellen und den formalen Aspekt der Demokratie kennt. Substanziell heißt, dass er den Wertekern der Demokratie versteht, das Symmetrie-Prinzip und die Gleichwertigkeit aller Menschen. Formal heißt, dass er die Kompetenz hat, sich einzubringen, sich zu beteiligen und mitzubestimmen. Das sind zwei unterschiedliche Punkte, die häufig vermischt werden, sodass das Verständnis der Zusammenhänge erschwert wird.

Was das von Deci und Ryan1 formulierte Autonomiebedürfnis anbelangt, haben wir gefragt: Wie kommt ein Kind in die Lage, im demokratischen Sinne wirklich autonom zu handeln, sich einzubringen und andere Menschen als gleichwertig anzuerkennen? Wir haben Erkenntnisse zusammengetragen und festgestellt: Jedes Kind braucht eine bestimmte soziale und räumliche Umgebung, die die Entwicklung der Autonomie vom Bedürfnis hin zum demokratischen Handeln befördert.

 

Die Umgebung muss also so beschaffen sein, dass die Kinder diese Fähigkeiten entfalten können.

Ja. Der erste Punkt: Es muss eine Umgebung sein, die die Individualität der Kinder anerkennt, die Einzigartigkeit jedes einzelnen Kindes. Das heißt für die Fachkräfte: die Bedürfnisse eines Kindes wahrnehmen und artikulieren, dass man sie wahrnimmt, dass es in seinen Besonderheiten vor dem Hintergrund der Gemeinsamkeiten gesehen wird. Und die Umgebung muss Selbstwirksamkeit erzeugen: Das Kind muss merken: Mit dem, was ich tue, kann ich etwas bewirken, es hat einen Effekt. Ich kann Einfluss darauf nehmen, ob mir etwas gelingt oder nicht. Zwar kann ich auch scheitern, aber es ist sinnvoll, sich einzubringen, um etwas zu verändern, und das traue ich mir zu.

Wie kann man Individualität anerkennen und Kindern Selbstwirksamkeit zuschreiben?

Zum Beispiel indem man die Kinder ganz banal mit ihren eigenen Namen anspricht, auf ihre Bedürfnisse achtet und schaut, wie sie reagieren, was ihnen schmeckt oder nicht. Indem man anerkennt, dass es bei dem einen Kind so und bei dem anderen Kind anders ist: Anna schmeckt Brokkoli, und Peter mag ihn nicht. Indem man kleine Kinder ermutigt, mit dem Messer zu schneiden: „Probiere das mal aus, dann merkst, ob es geht.“

Individualität anerkennen und Selbstwirksamkeit erzeugen, das sind die Punkte, die bewirken, dass die Kinder sich als jemand erleben, der sich einbringen kann. Das wird extrem unterschätzt, und deshalb haben wir es hierzulande mit wachsender Demokratieverdrossenheit zu tun. Viele Menschen glauben: Es macht keinen Sinn, sich einzumischen, denn ich kann sowieso nichts verändern.

 

Worum geht es noch?

Viele Leute, die nicht gelernt haben, sich zu artikulieren und etwas zu begründen, begeben sich ungern in Diskussionen. Man muss also sprechen und sich ausdrücken, nachdenken und argumentieren können. Das fällt aber nicht vom Himmel, man muss es lernen und üben. Und zwar schon in der Krippe, denn selbst kleine Kinder haben eigene Gedanken und Überzeugungen. Sie brauchen eine Umgebung, in der ihnen durchgängig Rationalität zugeschrieben wird, in der sie wie Menschen behandelt werden, die überlegen, Handlungsgründe haben und dies im Rahmen ihrer Möglichkeiten auch artikulieren. Dabei kann man ihnen helfen.

 

Worauf sollte bei älteren Kindern geachtet werden?

Kitas sind hyper-verregelte Systeme, und Kinder fügen sich dem. Häufig wissen sie gar nicht, wieso etwas geregelt ist. Das ist fatal.

Weshalb eine Regel gilt, das sollte klar sein. Weiß niemand mehr den Grund, weil sich die Vorgängerin mal ausgedacht hatte, dass man im Flur nur schleichen darf und dass nur drei Kinder ihre Schuhe in dieses Regal stellen sollen, obwohl es dafür keinen sachlichen Grund gibt, muss über die Regel diskutiert werden, und dann muss sie unter Umständen abgeschafft werden.

Man kann immer wieder neu mit den Kindern überlegen: Brauchen wir diese oder jene Regel wirklich? Und aus welchem Grund? Das müssen Kinder lernen und erleben. Deshalb brauchen sie eine Umgebung, in der Regeln immer wieder infrage gestellt werden.

 

Gibt es auch Regeln, die nicht verhandelbar sind?

Ethische Regeln sind nicht verhandelbar. Da kann man sich kurz fassen, zum Beispiel: „Bei uns wird nicht diskriminiert, darüber brauchen wir nicht zu diskutieren.“ Man kann die Regel auch begründen. Aber die Begründung ist nicht so zu verstehen, dass man in einen Abwägungsprozess gehen kann wie bei der Flurregel. Wenn jemand dann dafür argumentiert, dass Diskriminierung doch geht und okay ist, hat er Pech gehabt.

 

Im Prinzip könnte eine Krippe oder Kita so sein, wie wir uns eine demokratische Gesellschaft vorstellen.

Ja, sie muss Demokratie verkörpern. Ganz fatal ist es, wenn Regeln gepredigt werden, wenn auf dicken Bannern steht „Wir sind für Kinderrechte und Demokratie“, aber die Praxis, die Alltagserfahrung in der Kita ist eine völlig andere. Dagegen hilft, die Regelfrage zu stellen, die Selbstwirksamkeit und die Fähigkeit der Kinder zu stärken, sich auszudrücken, sie wie die rationalen Wesen zu behandeln, die sie sind, und ihre Individualität anzuerkennen. Mit Kindern kognitiv anregende Dialoge zu führen, von Anfang an Warum-Fragen zu stellen – das ist das Handwerkszeug, das pädagogische Fachkräfte dazu brauchen.

Zum substanziellen Aspekt demokratischen Handelns gehört das Symmetrie-Prinzip, das besagt: Alle Menschen sind gleichwertig. Aber die Befriedigung eigener Bedürfnisse stößt dort an eine Grenze, wo sie die Bedürfnisse anderer Kinder tangiert.

Kinder müssen permanent erleben, dass andere Menschen auch Wesen sind, die ein Autonomiebedürfnis, andere Ideen oder Wünsche haben, sich über andere Dinge ärgern oder freuen. Diese Unterschiede müssen klar benannt werden. Das heißt: Die Fachkräfte müssen Verschiedenheit in der Kita sichtbar machen, also zum Beispiel darauf hinweisen, dass dem einen Kind etwas Spaß macht, was dem anderen überhaupt nicht gefällt. Jeder zweite, dritte Satz kann sich darauf beziehen, wie viele Unterschiede es gibt, damit die Kinder merken: Jemand anderes ist völlig anders als ich, und das ist der Normalfall.

Aber wenn es dabei zu Konflikten, Ausgrenzung oder Diskriminierung kommt?

Dann müssen Kinder erleben, dass die Erzieherin dem konsequent entgegentritt. Sie muss Unterschiede erlebbar machen und in Konfliktsituationen aufgreifen, was passiert ist, es spiegeln und die Bedürfnisse der handelnden Kinder klar herausarbeiten: Opferschutz geht vor Täterschutz, Grenzen müssen gezogen werden, Diskriminierung wird benannt und nicht geduldet. Wenn Kinder das erleben, wenn die Umgebung in der Kita es ermöglicht, dass sich die formale Dimension von Demokratie herausbilden kann, dann lernen Kinder, demokratisch zu handeln.

Übrigens sind Konflikte ganz tolle Demokratie-Lernfelder für Kinder, weil sie emotional beteiligt sind. Vorausgesetzt, die Erzieherin kann Konflikte gut moderieren und will nicht nur schnell Ruhe haben, wenn es ans Aushandeln geht und schwierig wird. Als wir das mit Studierenden übten, sagten einige, das seien ihre liebsten Lernsituationen.

 

Indem Erwachsene sich damit auseinandersetzen, wie sie in solchen Situationen handeln wollen, eignen sie sich die nötigen Kompetenzen an.

Ja, und sie müssen sich vor allen Dingen relativ kleinteilig fragen: Was heißt das für uns? Wie wollen wir Konflikte bearbeiten? Was tun wir, wenn Kinder ausgegrenzt werden? Wie gehen wir damit um? Für alle Situationen müssen sie sich überlegen: Was bedeutet das für den Kita-Alltag? Und sie müssen die Kinder zu eigenen Initiativen ermutigen, zum Ausprobieren unbekannter Handlungen und nicht sagen: „Das mache ich mal lieber.“ Wir erleben immer wieder, dass Selbstwirksamkeit behindert wird, weil Erwachsene Kindern alles Mögliche aus der Hand nehmen. Vielmehr sollten sie die Absichten der Kinder verbalisieren, deren Ideen aufgreifen und sagen: „Oh, willst du das mal ausprobieren?“

Ganz wichtig in diesem Zusammenhang ist auch, Situationen so zu gestalten, dass Kinder sie bewältigen können. Wenn man beim Essen eine Riesenschüssel mit einer Riesenkelle auf den Tisch stellt, wird kein Kind sich etwas auftun können. Man muss Erfolgserlebnisse ermöglichen, aber nicht alles abpuffern, sondern auch Herausforderungen schaffen. Und man muss sinnvoll assistieren. Bei der Assistenz zeigt sich, ob Erwachsene das Bewusstsein haben, Selbstwirksamkeitserwartungen zu erzeugen. Oft haben wir beobachtet, dass Erzieherinnen schnell übergriffig assistieren, zum Beispiel in der Garderobe: Zack, die Hose an, ohne etwas zu erklären. Besser ist es, vorsichtig zu helfen, ein Kind zum Beispiel leicht zu stützen, wenn es aus dem Gleichgewicht gerät. Aber es ist auch nicht förderlich, nicht zu assistieren. Denn wenn ein Kind nicht zum Ziel kommt, lernt es nicht, dass es etwas selbstwirksam organisieren kann.

 

Woran liegt es, dass Fachkräfte häufig zu schnell und übergriffig assistieren? An fehlender Zeit?

Sicherlich auch. Ich glaube aber, dass Kindern Rationalität und ihre Rechte nach wie vor nicht so zuerkannt werden, wie es sein müsste. Natürlich tragen die Erwachsenen die Verantwortung, und bei den Kindern sind bestimmte Kompetenzen noch nicht vorhanden. Aber das heißt nicht, dass sie keine rationalen autonomen Wesen sind. Von Anfang an haben sie Rechte und Autonomiebedürfnisse – unabhängig von ihren Kompetenzen. Wenn man das anerkennt, kann man einen ganz normalen Alltag mit gleichberechtigten Menschen gestalten, in dem man Kindern als Verantwortungsträgerin ermöglicht, ihre Rechte wahrzunehmen.

 

Dimensionen von Demokratie

Substanzielle Dimension:

• unveräußerliche Würde;

• Menschen- und Kinderrechte;

• Gleichwertigkeit, Pluralismus, Achtung, Zugehörigkeit;

• Mitbestimmung;

• Schutz vor Diskriminierung;

• Rechtsstaatlichkeit.

 

Formale Dimension:

• Bedingungen und Verfahren der Beteiligung;

• Regeln: begründungsbedürftig, veränderbar und als „eigene Regeln“ akzeptiert;

• Überzeugungen: begründungsbedürftig und im Wettbewerb.

 

Demokratierelevante Kompetenzen von Kindern

… für die substanzielle Dimension:

• die Fähigkeit zum systematischen Perspektivwechsel: andere Menschen als gleichwertige autonome Personen zu verstehen und deren Rechte zu respektieren;

• die Fähigkeit, Grenzüberschreitungen, fremde und eigene Diskriminierungen und
Vorurteile zu erkennen, zu benennen und sich ihnen entgegenzustellen.

… für die formale Dimension:

• die Fähigkeit, sich Selbstwirksamkeit zuzuschreiben und von sich zu erwarten;

• die Fähigkeit, Regeln in Frage zu stellen, an der Veränderung von Regeln mitzuwirken und
Regeln als eigene Regeln anzuerkennen;

• die Fähigkeit zu diskursiver Rationalität: eigene und fremde Überzeugungen prinzipiell als begründungsbedürftig zu verstehen und selbst Begründungen sprachlich zum Ausdruck zu bringen.

 

Aufgaben der pädagogischen Fachkräfte

… für die substanzielle Dimension:

• die Autonomie anderer Menschen erlebbar und nachvollziehbar machen, für deren Rechte einstehen;

• Situationen mit Grenzüberschreitungen erkennen und benennen, sich jeglicher Diskriminierung entgegenstellen.

… für die formale Dimension:

• Selbstwirksamkeitserwartung erzeugen, Selbst- und Mitbestimmung organisieren;

• Aneignung, Aushandlung und Veränderbarkeit von Regeln erfahrbar machen;

• Rationalität zuschreiben und Diskursivität erlebbar machen.

 

1 Die von Deci und Ryan (1985, 2000) stammende Selbstbestimmungs­theorie ist eine aus mehreren Teiltheorien bestehende zentrale Theorie intrinsischer Motivation. Ein grundlegender Gedanke ist, dass die Erfüllung der menschlichen Basisbedürfnisse nach Autonomie, Kompetenzerleben und sozialer Eingebundenheit die vorhandene menschliche Neigung hervorruft, intrinsisch motiviert handeln zu wollen.

Fotos: Sebastian Treytnar

ist Professorin an der Fachhochschule Potsdam. Sie forscht zu kognitiv anregender Interaktion und arbeitet mit Kitas und Grundschulen zu den Themen „Sprachbildung“ und „Übergang Kita-Grundschule“.

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