Ein visionärer Blick auf die Zukunft der Pädagogik oder ein Beitrag über das Selbstverständliche, das alles andere als selbstverständlich ist: Drei Wochen Mini-München
Mit ungefähr 1500 Kindern warten wir morgens vor den Zenith-Hallen in München Freimann darauf, reingelassen zu werden. Bis Mittag wird man fast 2500 Kinder zählen. In den nächsten drei Wochen will ich mit meinem Kamerateam beobachten, was die Kinder in Mini-München alles machen. Wie sie es machen. Und was sich dabei in ihnen und zwischen ihnen sowie zwischen ihnen und den Erwachsenen abspielt.
Die Kinder stehen geduldig in der Schlange. An diesem ersten Ferientag scheint die Sonne. Wunderbare Augustsonne. Manche sind in Begleitung von Müttern oder Vätern gekommen. Viele sitzen auf dem Boden, beraten woran sie teilnehmen wollen. „Will ich diesmal Vollbürger werden?“ „Gehe ich lieber gleich arbeiten oder erst mal studieren?“ Sie füllen den Mini-München Mitspielpass aus oder lesen die Regeln. Die 10. heißt, „Wer Regeln aufstellt, kann sie auch verändern.“ Das macht die Bürgerversammlung. Es gibt schon viele Regeln und Traditionen, denn Mini-München findet in diesem Sommer zum 18. Mal statt. Alle zwei Jahre in den großen Ferien. Manche Eltern waren bereits als Kinder dabei. Viele der Betreuer auf dem Bauhof, im Rundfunkstudio oder im Gasthaus „Zur Fetten Sau“ sind Ehemalige.
Es wird fast noch eine Stunde bis zum Einlass dauern. Dann werden die Kinder ungefähr so reinstürmen, wie sie am letzten Schultag aus der Schule rausgerannt sind.
Nicht wenige waren schon vor zwei oder vier Jahren oder noch häufiger dabei. Sieben Jahre alt muss man sein und nicht älter als Fünfzehn. Von einigen hören wir, dass sie ihre Eltern überredet haben später in den Urlaub zu fahren, damit sie erst mal zu Mini-München können. Und nun wollen sie an den ersten Ferientagen oder die ganzen drei Wochen hier von morgens bis gegen Abend Dinge herstellen, ins Rathaus gehen, Geld verdienen, einkaufen, was so alles hergestellt wird. Es gibt eine Währung, den MiMü. Und ihren ganzen Alltag selbst regeln. Eltern bekommen nur ein Visum für eine halbe Stunde. Und das wird, wie man jetzt schon hört, streng, also mit Eifer und mit großer Freude von den Kindern kontrolliert. Schulfrei und elternfrei.
Mini-München hat bei den Kindern einen so umwerfend guten Ruf, dass man sich das einfach genauer ansehen muss. Wir haben schon einen Vorbereitungstag gefilmt und werden nun bis zum Ende drei Wochen jede Minute dabei sein. Eines ist schon klar. Wenn man wissen will, was Vorfreude ist, muss man jetzt in diese Gesichter blicken.
Ich schwanke noch, ob der Film eher ein visionärer Blick auf die Zukunft der Pädagogik sein wird, oder eine Studie über das Selbstverständliche. Dieses Selbstverständliche, das alles andere als selbstverständlich ist. Es gibt bedrückende Hinweise, dass das freie Spiel der Kinder so bedroht ist wie manches Biotop.
Sicherheit aus Zutrauen
Ein Blick zur Seite bevor wir uns in den Hallen und auf den freien Flächen draußen umsehen. Vielleicht ist es der Blick in eine Zukunft, die uns bevorsteht? Oder vielmehr in eine, die wir verhindern sollten!
Aus den USA kommen Nachrichten, die man kaum glauben mag. Zum Beispiel, dass in kalifornischen Parks den Bäumen die unteren Äste abgesägt werden, damit Kinder nicht klettern. Die Begründung ist versicherungstechnisch. Aber über allem liegt die Angst, es könnte was passieren. Ja, natürlich, es könnte was passieren, wenn Kinder auf Bäume klettern. Aber was passiert, wenn nichts passieren darf?
Ausgerechnet ein Ökonom, immerhin der Nobelpreisträger Edmund Phelps aus New York, fürchtet, dass der amerikanische Sicherheitswahn, der die Lebendigkeit aus Schulen und vielleicht mehr noch aus dem Familienalltag vertreibt, die Kreativität nicht nur der Kinder schwächt, sondern den Erfindergeist späterer Erwachsener erstickt. Das führe zum wirtschaftlichen Niedergang, und zwar nicht erst künftig. Phelps hat die Stagnation an Erfindungen und Gründungen bereits vermessen.
Was ist da passiert? Aufsehen erregte die Geschichte vom 14jährigen Ahmed Mohamed im texanischen Irvine. Er wurde von der Polizei aus der Schule geholt und in Handschellen aufs Revier gebracht. Der Sohn sudanesischer Einwanderer hatte eine Uhr gebaut und sie stolz mit in die Schule gebracht. Die Uhr tickte und die Lehrerin hörte eine Zeitbombe.
Durch die Medien ging auch die Geschichte des Ehepaars Meitiv aus Silver Springs im Speckgürtel von Washington. Es hatte seine 6 und 10 Jahre alten Kinder unbeaufsichtigt auf die Straße gelassen. Zweimal wurden sie von der Polizei aufgegriffen, zuletzt in einem Park. Ein Anwohner hatte die Polizei gerufen, nachdem er die Kinder längere Zeit ohne Erwachsene sah. Gegen die Eltern wurde ein Verfahren wegen des Verdachts der Vernachlässigung eingeleitet, wie die Washington Post berichtete. Dabei wollten sie nur, dass ihre Kinder eigene Erfahrungen machen. An Gewaltverbrechen und was sonst alles passieren könnte, dachten sie nicht.
Der Geografieprofessor Roger Hart hatte 1972 in einer Kleinstadt in Vermont den Kinderalltag vermessen und kam 32 Jahre später zurück. Die Reichweite der Kinder ist in dieser Zeit enorm geschrumpft. Sie verlassen die Häuser und Gärten der Eltern nur noch selten. Ähnlich wie die Raumerfahrung hat sich auch die Zeitstruktur verändert. Die Eltern holen die Kinder von der Schule ab und machen für sie Termine mit durchschnittlichen Zeitfenstern von eineinhalb bis zwei Stunden. Dann kommt der Anschlusstermin. Verschwunden sind kleine Jobs in der Nachbarschaft und Einkäufe. Nichts mehr auf eigene Faust. Kein aufgeschlagenes Knie, keine Kreidezeichnungen am Boden, kein „18, 19, 20, ich komme“.
Andere Messungen unternahm die Forscherin Kyung Hee Kim. Sie spricht von einer Kreativitätskrise und stellt ein Absinken der Intelligenz fest. Die Fähigkeit der Kinder „einzigartige und ungewöhnliche Ideen hervorzubringen“ habe seit 1990 nachgelassen. Die Kinder seien weniger energiegeladen, weniger gesprächig, weniger humorvoll und weniger phantasievoll. Sie hätten weniger Freude daran scheinbar irrelevante Dinge zu verknüpfen und so auf Neues zu kommen.
Seit einiger Zeit skandalisieren diese Befunde die USA. Im Buch von Hanna Rosin „The overprotected Kid“ lesen nun viele, was sie alltäglich sehen könnten, wenn sie Kinder sehen würden. Die verbringen mehr und mehr Zeit mit Erwachsenen, reden wie diese und denken wie sie: „Aber sie entwickeln nicht das Selbstvertrauen unabhängig und selbständig zu sein.“ Dazu brauchen sie vor allem die anderen. Und Sicherheit durch Zugehörigkeit. Sicherheit nach überstandenen Risiken und Abenteuern. Sicherheit aus Zutrauen.
Der Hunger auf Welt
Nun geht’s los. Punkt 10 Uhr. Die Hallentore werden geöffnet. Die Kinder rennen. Manche rasen zum Ziel, das sie schon kennen. Es gibt das Rathaus und Handwerksbetriebe, das Gasthaus, die Comenius Hochschule und die Bank und das Arbeitsamt, auch Müllabfuhr, Theater, Kino und Fernsehen. 68 Einrichtungen. Die Kinder sind Bürgermeister und Taxifahrer, Gärtner und Hochschullehrer. Es gibt Märkte und Wahlen, Müllsammelaktionen und natürlich Feste. Das Botschaftsgebäude wird in diesem Jahr von Kindern aus Indien, Japan und europäischen Städten gestaltet. Dort gibt es nämlich Ableger dieser in München kreierten Idee. Zentral ist in diesem Jahr der Klimaschutz mit einem Wertstoffhof und einem Forschungsinstitut. 200 Erwachsene sind die Mentoren: Pädagogen, Künstler, Handwerker, Studenten und Wissenschaftler, kurz: erwachsen gewordene Erwachsene, Leute, bei denen die Kinder aus erster Hand die Dinge und das Können, also die Welt kennenlernen, auf die Kinder so hungrig sind.
Sie rennen in die Hallen, um an die besonders beliebten Jobs zu kommen. Zum Beispiel Taxifahrer auf seifenkistenartigen Gefährten. Oder auch Taxen reparieren. Wer dann anderswo arbeiten will, kündigt, bekommt einen Lohnscheck, der bei der Bank eingelöst wird. Die Arbeitskarte für diesen Arbeitsplatz geht zum Arbeitsamt, wo die Jobs nun tagsüber vermittelt werden.
Mini München ist Fest und Alltag. Nur immerzu Fest wäre ja so schwer auszuhalten wie nichts als Alltag. Die Kids kommen freiwillig. Eine Festpflicht wäre so etwas wie ein Zwangsrestaurant mit Aufesszwang. Dort würden sich selbst bei guter Küche bald Essenstörungen ausbreiten.
Viele Kinder finden ihr Ding. So ein 14jähriger, der letztes Mal an die hundert Seiten Gesetzestext für die Kinderrepublik geschrieben hatte. Wo hat er das nur her? Die Kinder vertiefen sich in Themen. Diesmal haben einige den digitalen Geldverkehr entwickelt, den sie neben der gedruckten MiMü-Währung einführen wollen. Ein Expertenwerk. Kinder wechseln ihre Tätigkeiten. Auch weil sie etwas suchen, an dem sie hängen bleiben können. Aber sie wechseln nicht ständig im 45-Minutentakt des Stundenplans, als wäre der Vormittag ein Pro-ADHS-Training.
Faszination des Nichtwissens
Wieder ein Blick zur Seite. In einer Zeit, da Schüler – und mehr und mehr auch Studenten – vom Bulimie-Lernen reden, wird der Blick auf solche Inszenierungen wichtig, in denen Lernen und Tätigkeiten verwachsen.
Was bedeutet es, an etwas hängen zu bleiben? Wie geht das? Was wäre ein Wissen ohne die Faszination des Nichtwissens? Was bliebe der Neugierde und der Freude an Verwandlungen in der fertigen Welt? Und was ist, wenn Schule und Alltag so dürr sind, dass die Kids selten an etwas hängen bleiben, wenn für Verwandlungen kein Spielraum ist, weil sie funktionieren sollen und dann nach vielen Jahren Schule nicht wissen, was sie wollen?
Das ist das Thema hinter dem Thema dieser an sich schon so lebendigen und bunten Veranstaltung: Wie werden die Kinder in einem Entdecker- und Tätigkeitsmilieu hellwach und ganz gegenwärtig? Welche Mikrostrukturen von Lernen, Tätigkeit und Begeisterung lassen sich da beobachten. Wie wechseln sich Verzögerungen und Intensität ab, wenn ungeklärte Fragen in Lösungen übergehen? Was passiert bei den Kindern, wenn es ihnen um etwas ganz Bedeutsames geht? Welche Zeitrhythmen und was für Choreographien bilden sich an Aufgaben und in freien Kooperationen? Welche Rolle spielen die Dozenten, Experten und Künstler, also die Erwachsenen?
Das ewige Kind in uns
In der Comenius Hochschule lehrt Ellen Fritsche. Sie ist ein Fan von Mini-München. Schon seit Jahren. Sie spendet und ist dort „Professorin“. Professoren sind diejenigen, die Vorlesungen oder Kurse halten. Das machen Kinder, Jugendliche, Profis oder jemand wie Ellen Fritsche. Sie ist 88 Jahre alt und ohne Übertreibung, sie gehört in mancher Hinsicht zu den Jüngsten. Sie interessiert sich schon ihr Leben lang, exakt seit 1945, für Hände. Sie interessiert sich auch für vieles andere. Aber über Hände hat sie ein riesiges Wissen. Und Hände sind für sie ein mindestens ebenso großes Geheimnis geblieben. Sie ist mit den Händen nicht fertig. Von Händen kann sie was erzählen. Ihre Begeisterung und Neugierde haben nicht nachgelassen.
„17000 Fühlsensoren haben wir an unseren Händen.“ Die Kinder staunen. „Aber das kann sich natürlich niemand vorstellen“, fügt sie gleich hinzu. Deshalb hat sie kleine, einen Quadratzentimeter große Zettelchen ausgeschnitten und an die Kinder ausgegeben. „Auf einem Zentimeter Fingerkuppe gibt es 144 Sensoren.“ Das kann man sich schon eher vorstellen und deshalb auch merken. Frau Fritsche ist eine gute Lehrerin, was sie allerdings nie von Beruf war. Sie hatte eine Handschuhmanufaktur gegründet.
Ständig sind ihre Hände in Bewegung. Sie spricht nicht nur über Hände, sie spricht auch mit ihnen, erklärt wofür wir sie gebrauchen und was sie ausdrücken. Schon im Mutterbauch beginnt dieses Spiel und für das Baby sind dann die Finger das erste Spielzeug. Wie wunderbar in diesem Organ Tätigkeit und Wahrnehmung zusammenliegen. Was wären wir ohne Hände? „Das müsst ihr euch mal vorstellen“, verlangt sie. Pause. Konzentration und Ruhe. Wache, nachdenkliche und dabei schöne Gesichter. Dann fordert sie die Kinder auf ihren Puls zu fühlen. „Was, du fühlst keinen?“ fragt sie mit superkräftiger Stimme. „Das ist ja furchtbar, dann bist du tot“. Aber tot ist hier natürlich niemand. Auch nicht so scheintot wie sonst häufig im Unterricht. Ellen Fritsche ist einfach ansteckend vitalisierend. Sie erinnert an Albert Einsteins Antwort auf die ihm gestellte Frage, wie er denn all das herausfinden und entdecken konnte. Er sagte: Weil ich immer das ewige Kind geblieben bin. Natürlich ist bei Albert Einstein und bei Ellen Fritsche sonnenklar, dass dieses ewige Kind nichts mit Infantilität zu tun hat. Im Gegenteil. Gelungene Erwachsene – im Unterschied zu den vielen Verwachsenen – haben nicht nur ihre Urteilskraft entwickelt, sie bieten diesem ewigen Kind Schutz. Sie haben es nicht abgetrieben. So werden sie immer wieder neu staunende, große Anfänger. Je mehr sie wissen, umso mehr Fragen haben sie. Sie sind eben nicht fertig. Das macht eine Ellen Fritsche oder einen Einstein mit den Kindern so verwandt. Die Kinder spüren diese Verwandtschaft sofort. Kinder brauchen solche Erwachsene.
Mit Leib und Seele
Nun sind wir schon ein paar Tage dabei. An einem Morgen so um neun, auf dem Weg von der U-Bahnstation Freimann zu den Zenith-Hallen. Vor mir drei Knirpse im Laufschritt, diese kindertypische Begeisterung. Einer guckt auf die Uhr und sagt, „es sind noch genau 57 Minuten, wir können mehr trödeln“. Sie verlangsamen den Schritt. Der andere, „ne, die Warteschlangen sind doch immer so lang“. Der dritte, „dann lasst uns rennen“. Der erste wieder, „da sparen wir höchstens eine halbe Minute“. Dann sind sie wieder in diesem glücklichen Laufschritt. Bewegte Vorfreude. Vorfreude auf den Tag, Vorfreude auf Erlebnisse und Vorfreude auf sich selbst.
Unsere erste Station ist diesmal die Gärtnerei. Die Kinder tragen Körbe mit Pflanzen ins Freie, gießen sie, erklären uns welche mit der Tülle, die jungen nämlich, und welche ohne, aber mit sanftem Strahl gegossen werden. So eine stolze Fachlichkeit. Auf dem Bauhof entsteht Klein-Mini-München. Hier bauen die Kinder Häuser, am Anfang Buden, dann verschachteltere Konstruktionen. Ein Zimmermann ist immer dabei. Außerdem wird an einem U-Boot Modell gearbeitet. Das brauchen die Trickfilmer. In der Küche werden Kartoffeln püriert. Butter, Quark und viel Schnittlauch werden zugesetzt. Das wird ein Brotaufstrich. Die Kellner probieren ihre bodenlangen, roten Schürzen an, nehmen sich Notizblöcke und werden nachher Bestellungen aufnehmen, bedienen und kassieren.
Erstaunlich ist die Hingabe der Kinder. Jeder findet seinen Platz, bleibt für ein paar Stunden, dann kann gewechselt werden. Die meisten in der Küche wollen dortbleiben. Andere wollen aber ebenfalls mal den Job in der Küche haben. Vielleicht ein Thema für die Bürgerversammlung am Nachmittag? Da können allerdings nur Vollbürger abstimmen. Die Vollbürgerschaft kann nach vier Stunden Arbeit, vier Stunden Studieren und einem „Zoff-Kurs“ beantragt werden. Dort lernt man Streits nicht eskalieren zu lassen.
Jenseits der Um-zu-Welt
Das Durchgängige: Die Kinder sind präsent. Sie sind wirklich da, mit dem Körper und mit der Seele. Mit Leib und Seele. Der empfindsame, gleichsam mitdenkende Leib ist ja noch was anderes als der physikalische Körper. Die Kinder sind nicht in dem Status des rasenden „Um-zu“, der in der Schule üblich ist und die Gesellschaft mehr und mehr dominiert. Dieses ewige Hase- und Igel-Spiel, bei dem man nie richtig ankommt. Vielleicht ist das die starke Gravitation in Mini-München: Etwas Folgenreiches zu machen! In diesem Kosmos gebraucht zu werden! Seinen Platz zu finden! Die Chance einfach ganz da zu sein! Sein Ding zu finden! Für eine Weile und dann immer weiter zu suchen und auszuprobieren!
Das Schöne, vielleicht das Schönste an Mini-München ist, dass die Kinder Zeit haben. Und die Erwachsenen auch. Die meisten Schulen sind davon kontaminiert, dass die Kinder und Jugendlichen keine Zeit haben und die Lehrer schon gar nicht. Die dort häufige Langweile widerspricht dieser Diagnose nicht. Wer sich langweilt, dem ist die Welt abhandengekommen. Das passiert. Man kommt aus diesem Mangel heraus, wenn man von diesem Nullpunkt aus neue Facetten der Welt findet, vielleicht sogar welche erfindet. Aber von dieser Art ist die Langweile in der Schule nicht. Es ist die Langweile unverbunden zu sein, ohne die Chance dort neue Bindungen zu knüpfen, außer solchen in der Währung der Schule, dem „Stoff“. Der aber ist nicht die Welt.
Lassen wir die Schule, obwohl natürlich beim Blick auf Mini-München der Vergleich mit ihr immer mitspielt. Als unvoreingenommener Ethnologe von einem anderen Kontinent würde man Mini-München vielleicht als gar nichts Besonderes empfinden Es wäre eine ganz selbstverständliche Art Kinder in das Leben einzuführen. Man könnte Mini-München für ganz selbstverständlich halten, wenn es in unserer Umwelt nicht so skandalös unselbstverständlich wäre. Schon deshalb kann vom Hintergrundradar des Alltags in der Schule und in der von ihr geprägten Lebenszeit nicht abgesehen werden.
Häufig reden Erwachsene in Mini-München vom Flow, den die Kinder haben. Was ist dieser Flow? Das völlige Aufgehen in einer Tätigkeit. Forscher wie Mihály Csíkszentmihály betonen, dass sich Aufgabe und Lösungskompetenz im Gleichgewicht befinden. Es geht nicht um alles. Es geht um einen abgesteckten Ausschnitt. Es geht auch nicht um mich, etwa darum, ob ich besser oder schlechter bin als ein anderer. Es geht um ein Handlungsfeld. Und es gibt klare Rückmeldungen. Die Tätigkeit belohnt sich letztlich selbst. Lob von außen hat keine oder nur eine geringe Bedeutung.
Der Soziologe Richard Sennett hat das in seinem großen Buch über das Handwerk auf den Begriff gebracht: „Eine Sache um ihrer selbst willen tun und sie deshalb gut machen wollen“. Dafür ist in der üblichen Um-zu-Welt wenig Raum und keine Zeit. Was immer dort getan wird, es reicht eigentlich nie. Alles wird in der Um-zu-Welt zum Mittel oder verwertet. Was nur verwertet wird, das wird schließlich entwertet. Deshalb kommen Kinder und Erwachsene dann so schnell an die Überforderung, geraten in Erschöpfung und klagen unisono, sie hätten keine Zeit.
Wie Schulen aussehen können
Damit sind wir wieder mitten in Mini-München und bei den Kindern. Wir sehen andauernd Kinder, die tief in eine Sache versunken sind. Zum Beispiel im Architekturbüro. Eben noch haben sie draußen Flächen vermessen, auf denen Häuser gebaut werden sollen. Da waren sie wach und agil. Nun sind sie übers Papier gebeugt, übertragen die Maße und bauen Modelle. Jetzt könnte ein Schrank neben ihnen umfallen und sie blieben unbeeindruckt. Weder das Dorfplatztreiben noch ein Kameramann, der nah an sie herangeht, lässt sie aufblicken. Maria Montessori nannte das die Polarisierung der Aufmerksamkeit.
Das Geheimnis von Mini-München ist, dass die Dinge, die Tätigkeiten und die Ziele selbst wichtig und wertvoll sind. Dann wollen viele Kinder um 17 Uhr nicht nach Hause und stehen am nächsten Morgen zu Hunderten lange vor der Öffnung in der Schlange.
Die Zeit bei Mini-München vergeht schnell. Am auffälligsten ist die Haltung der Kinder. Diese schier unglaubliche Aufmerksamkeit. Ihre Intensität. Anderes als die in der Schule mit zumeist nur sitzenden Schülern, die einen Kopf zu transportieren haben und ansonsten ruhiggestellt werden, hier diese bewegten, friedlichen und zusammen handelnden „ganzen Kinder“! Nicht einmal hörte ich in dieser Woche den Kommandoruf „Ruhe!“ Auch keine Disziplinprobleme sind aufgefallen. Die Kinder sind nicht im Status der sie ungerührt lassenden Vorratsdatenspeicherung. Sie sind ganz gegenwärtig. Sie sind in der Welt. Die wird ihnen nicht aus zweiter Hand gereicht. Sie wird tätig erfahren. Die Möglichkeit seine Erfahrungen zu machen, und dann aus den Erfahrungen was Anderes zu machen, Lösungen, etwas Neues oder etwas ganz Anderes. Einigen Ehemaligen, die sich an einem Nachmittag trafen, fiel auf, dass sie kein Kind mit einem Smartphone in der Hand gesehen haben.
Mini-München ist ein Labor des Lernens, Denkens und Handelns und muss unbedingt als solches entdeckt werden. Weil die Kinder handeln wollen, denken sie und dabei lernen sie. Viele, auch in München glauben ja immer noch, das sei eine sehr schöne und ziemlich aufwendige Ferienbetreuung. Keine Betreuung! Mini-München verhält sich zur Schule nicht wie Freizeit zur Arbeit, es verhält sich zu ihr eher wie die Grammatik der Industriegesellschaft zu der einer nachindustriellen Tätigkeitsgesellschaft, die hier, das ist das Großartige, gebildet wird. Man bekommt eine Idee davon, wie eine Schule aussehen könnte. Eine aus Werkstätten, Ateliers, Übungsräumen, auch Cafés und Räumen der Stille. In so einer Schule wären Lehrer auch Menschensammler. Sie holen Experten, Meister ihrer Sache, also Botschafter aus der tätigen Welt hinein und führen die Kinder nach draußen zu interessanten Orten. Die Schule selbst wäre ein Basislager der Gesellschaft, ein generativer Ort, an dem die Generationen zusammenkommen und Neues generieren. Und wie wichtig sind doch die Lebendigkeit und die Neugier von Kindern für uns Erwachsene! Es wäre ein Geben und Nehmen.
Die Kinder stoßen zu den Dingen, zu den Phänomenen selbst vor. Deshalb sind sie so begeistert. Sie verwandeln die Dinge. Das nennen sie Arbeit. Und Lernen ist, dass sie sich die Dinge und die Erfahrungen und das Wissen anverwandeln. Dabei werden sie nach ein paar Tagen einen Kopf größer. Diesen Satz habe ich mehrfach gehört. Auch von einer Redakteurin des Bayrischen Rundfunks. Sie macht hier mit den Kindern eine tägliche Radiosendung „radioMikro“ und sie hat ihren Sohn mitgebracht, der in die erste Klasse geht. In der Schule, sagt sie, begann er sich schon mehr und mehr zu langweilen und war frustriert, weil er sich nicht mehr wie im Kindergarten frei bewegen und seine Sachen machen konnte. Hier ist er glücklich, emsig, hier ist ihm nicht langweilig und nach ein paar Tagen ist er „einen Kopf größer.“
Und was kommt dabei raus, wenn Kinder ihre Sachen machen, ihr Ding finden und es weiter und weitertreiben? Die Redakteurin selbst war als achtjähriges Kind erstmals bei Mini-München dabei. Da wollte sie zuerst nichts Anderes als in der Küche „Zur Fetten Sau“ arbeiten. „Immer nur umrühren.“ In den folgenden Jahren kam für sie anderes hinzu. Sein Ding zu finden ist eben keine lineare oder einmalige Angelegenheit. Eigentlich müsste man dafür einen neuen Begriff erfinden: Die positive Traumatisierung. Oder einfach: Glück.
PS. Das ist natürlich nur ein Ausschnitt von dem, was wir gesehen haben und filmen konnten. Und auch nur ein Teil der Gedanken, die dann auf Papier im DVD-Buch stehen werden. Mehr Infos:
Links:
www.reinhardkahl.de/archiv-der-zukunft
Film und DVD-Buch können nach Fertigstellung bezogen werden unter: bestellung@archiv-der-zukunft.de