Gedicht: Robert Gernhardt

Als er zum 3. Oktober 1990 gefragt wurde,

was er von Deutschland erwarte

und was er dem vereinten Land wünsche:

 

Deutsche! Frei nach Bertolt Brecht

rate ich euch, wählet recht:

 

Von den Zielen die wichtigen

Von den Mitteln die richtigen

Von den Zwängen die spärlichen

Von den Worten die ehrlichen

Von den Taten die herzlichen

Von den Opfern die schmerzlichen

Von den Wegen die steinigen

Von den Büchern die meinigen.

 

Foto: Astrid Gast , photocase

Gedicht: Boris Poplawski

Es naht der Morgen,
aber noch ist es Nacht

Ich bin vergiftet, schwimme in den Gischten,
ein zäher Unrat spült mich hoch hinaus,
und ganz allmählich unter mir erlischt schon
die böse Kohlenglut, mein Höllenhaus.

Und an der Pfütze, wo sich Räder winden,
singt eine Diva im Fabrikgeviert,
wie schwer es ist, den rechten Mann zu finden,
wie früh man doch sein schönes Haar verliert.

Über dem Bach voll Hallen und voll Leichen
posaunt die Hupe ungestüm und schrill,
des Abends Bannertuch, das rötlich bleiche,
vom Himmelsfrost ins Album kommen will.

Und im Verglühen des Dezembersommers
ist aus dem zähen Wasser voller Gift
ein riesiges Skelett emporgekommen,
das wachsend sieche Gärten übertrifft.

 

Foto: Screeny/photocase

Gedicht: Arne Rautenberg

emma

 

wird was gutes schlimmer

bleibe immer emma

hast du keinen schimmer

bleibe immer emma

schickt man dich ins zimmer

bleibe immer emma

klappt was nie und nimmer

bleibe immer emma

 

 

Foto: Mukuko/unsplash

Gedicht: Simon Borowiak

Bleib sauber!

 

Vor dem Schlafen

nach dem Essen

Zähneputzen nicht vergessen!

 

Vor dem Keilen

nach dem Prügeln

unbedingt die Hose bügeln.

 

Vor dem Morden

nach dem Sengen

Sakko an die Frischluft hängen.

 

Nach dem Weltkrieg sollst Du ruhn

oder tausend Schritte tun.

 

 

Foto: Gera8th / photocase.de

Gedicht: Joachim Ringelnatz

AN M.

 

Der du meine Wege mit mir gehst,

Jede Laune meiner Wimper spürst,

Meine Schlechtigkeiten duldest und verstehst —.

Weißt du wohl, wie sehr du mich oft rührst?

 

Wenn ich tot bin, darfst du gar nicht trauern.

Meine Liebe wird mich überdauern

Und in fremden Kleidern dir begegnen

Und dich segnen.

 

Leben, lache gut!

Mach deine Sache gut!

 

 

Foto: Alexander Grey/unsplash

Gedicht: Max Kruse

 

HERR SCHNECK

 

Herr Schneck
(mit seinem Versteck)

kommt so rasch,

dass es braust,

um die Ecke gesaust.

Da schreit er laut:

Halt!!!

Fast

wären wir

zusammengeknallt!

Herr!!!

Sehen Sie nicht,

dass ich

die Vorkriech habe?

Sie sind vielleicht

ein Unglücksrabe!

Beinahe hätte es

einen Unfall gegeben,

mir verdanken Sie,

dass Sie noch leben!

Sie haben wohl

keinen Kriecherschein?

 

Nein!

brummt der Stein.

 

 

Foto: nevio3 / photocase.de

Gedicht: Wolfgang Mennel

Schluss mit den Befehlen!

 

Horch! sagt der Storch.

Renne! sagt die Henne.

Schlaf! sagt das Schaf.

Geh! sagt das Reh.

 

„Ja, aber –“

Gib Ruh! muht die Kuh.

 

Nimm Platz! sagt der Spatz.

Geh weg! sagt der Schneck.

Komm her! sagt der Bär.

Los raus! sagt die Maus.

 

„Ja, aber darf ich denn nicht –“

Nix da! kräht der Ara.

 

Hör mal! sagt der Wal.

Tu nicht so! sagt der Floh.

Sei still! sagt der Mandrill.

Psst leise! sagt die Meise.

 

„Schluss! Aus! Ich will endlich mal

tun und lassen,

was ich will!“ sage ich.

 

Sieh mal an! sagt der Hahn.

Okee! sagt das Reh.

Na klar! sagt der Star.

Verzeih! sagt der Hai.

 

 

 

Foto: Markus Winkler/unsplash

 

Gedicht: Richard Dehmel

Wahrspruch

Ob wir verdienen, daß wir glücklich sind?

Was zweifelst du! Verdienst du gut zu sein?

Durch Zweifel wird das wahrste Wesen Schein.

Glück ist des Menschen Tugend, Kind;

wer glücklich ist, verdient ’s zu sein.

 

 

Foto: Jutta Schnecke/photocase

Gedicht: Peter Huchel

Über den Jägern jagt der größre Hund

Wenn ich mit den Beuteträgern

ziehe durch den dunklen Grund,

droben über allen Jägern

jagt als Wind der größre Hund.

 

Denn im Rücken spür ich einen,

der in meinem Jagen jagt,

und mein Herzschlag ist dem seinen

wie ein Knecht nur, der sich plagt.

 

Wie ein Knecht nur, der die Beute

sich zu schwerer Bürde häuft,

der im Winde hört die Meute,

die sein Laufen überläuft.

 

Zieh ich mit den Beuteträgern

dunkel durch den alten Grund,

droben über allen Jägern

hungrig jagt der größre Hund.

 

Foto: David-W- / photocase.de

Gedicht: Gerhard Schöne

Lass uns eine Welt erträumen

 

Lass uns eine Welt erträumen, die den Krieg nicht kennt,

wo man Menschen aller Länder seine Freunde nennt,

wo man alles Brot der Erde teilt mit jedem Kind,

wo die letzten Diktatoren Zirkusreiter sind.

 

Lass uns eine Welt erträumen, wo man singt und lacht,

wo die Traurigkeit der andern selbst uns traurig macht,

wo man, trotz der fremden Sprache, sich so gut versteht,

dass man alle schweren Wege miteinander geht.

 

Lass uns eine Welt erträumen, wo man unentwegt

Pflanzen, Tiere, Luft und Wasser wie einen Garten pflegt,

wo man um die ganze Erde Liebesbriefe schreibt,

und dann lass uns jetzt beginnen, dass es kein Traum bleibt.

 

 

Gedicht: kallejipp / photocase.de

Gedicht: Sarah Kirsch

 

Wie Ölbäume schimmern die Weiden

Blaugrün und zitternd, die Pappeln

Ahmen Zypressen nach (dunkler

Dunkler! Vertieft eure Schatten!). Der Wind

Übt Fall und Flug seines Bruders Mistral

 

Foto: Kalen Emsley/unsplash