Gedicht: Arno Holz

 

 

Aus Phantasus

Sieben Billionen Jahre vor meiner Geburt

war ich

eine Schwertlilie.

Meine suchenden Wurzeln

saugten

sich

um einen Stern.

Aus seinen sich wölbenden Wassern,

traumblau

in

neue,

kreisende Weltringe,

wuchs,

stieg, stieß

zerströmte, versprühte sich – meine dunkle Riesenblüte!

 

Foto: Erik Brolin, unsplash

Das Gedicht: Martin Pohl

Die zweite Ghasele

Ich steige in den Zug zur Ausfahrt: laßt mich.

Lebt wohl, statt daß ihr mit mir ausharrt: laßt mich.

Mir nach weht scharfe Zugluft vom Geleise.

Ihr bleibt, wo ihr bei euch zu Haus wart. Laßt mich

In euch sein des Bagagewagens Schlußlicht,

Nach dem ihr in die Nacht hinausstarrt – laßt mich!

Da nützt ein Augenrinnsal, ja ein Fluß nicht,

Daß ihr aus dem Waggon mich ausscharrt. Laßt mich!

Ein Gott-sei-bei-uns, Kyrie-Eleyse

Lohnt nicht die Laus in Schaffners Krausbart. Laßt mich …

 

Die Ghasele ist eine lyrische Gedichtform, die
bereits in vorislamischer Zeit auf der Arabischen Halbinsel entstand.

Gedicht: Robert Gernhardt

Kurze Rede zum vermeintlichen Ende einer Fliege

Tut mir leid, meine Liebe, du wirst jetzt gleich hin sein.

Wir sind hier schließlich nicht bei Buddhistens.

Bei Buddhistens, das ist ein Kontinent weiter.

In Tibet, da lässt man sich so etwas bieten,

die würden dich, Fliege, die ganze Nacht

rumsummen lassen nach Herzenslust.

Bei Buddhistens ist das normal, die summen

ja selber rund um die Uhr ihre Oms,

ihre O mani padme hums, diese Priester.

Und wo andauernd irgendwo rumgesummt wird,

da fällt ein Gesumme mehr oder weniger

gar nicht groß auf. Doch wir sind hier bei Christens.

Da wird nicht gesummt. Da wird nachts geschlafen.

Daran hat sich auch eine Fliege zu halten.

Glaub bloß nicht, ich hätte was gegen euch Fliegen.

Normal tu ich keiner etwas zuleide.

Doch ich will jetzt schlafen, und du willst jetzt summen.

Ich hab die Patsche, und du bist der Brummer,

du oder ich, tut mir leid, meine Liebe:

Da!

Bsssss

Scheiße!

 

Foto: Erik Karits, unsplash

Gedicht: Ingeborg Bachmann

WAHRLICH
Für Anna Achmatowa

Wem es ein Wort nie verschlagen hat,

und ich sage es euch,

wer bloß sich zu helfen weiß

und mit den Worten –

 

dem ist nicht zu helfen.

Über den kurzen Weg nicht

und nicht über den langen.

 

Einen einzigen Satz haltbar zu machen,

auszuhalten in dem Bimbam von Worten.

 

Es schreibt diesen Satz keiner,

der nicht unterschreibt.

 

Foto:kallejipp/photocase.de

Gedicht: Rainer Maria Rilke

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Ach, wehe, meine Mutter reißt mich ein.

Da hab ich Stein um Stein zu mir gelegt

und stand schon wie ein kleines Haus,

um das sich groß der Tag bewegt,

sogar allein. Nun kommt die Mutter,

kommt und reißt mich ein.

 

Sie reißt mich ein, indem sie
kommt und schaut,

sie sieht es nicht, dass einer baut –

sie geht mir mitten durch die Wand
von Stein.

Ach wehe, meine Mutter reißt mich ein.

 

Die Vögel fliegen leichter um mich her,

die fremden Hunde wissen: das ist d e r –

nur einzig meine Mutter kennt es nicht,

mein langsam mehr gewordenes Gesicht.

Von ihr zu mir war nie ein warmer Wind.

 

Sie lebt nicht dorten, wo die Lüfte sind,

sie liegt in einem hohen Herzverschlag

und Christus kommt und wäscht sie
jeden Tag.

 

Foto: as_seen/photocase.de

Gedicht: Joachim Ringelnatz

Abschiedsworte an Pellka

Jetzt schlägt deine schlimmste Stunde,

Du Ungleichrunde,

Du Ausgekochte, du Zeitgeschälte,

Du Vielgequälte,

Du Gipfel meines Entzückens.

Jetzt kommt der Moment des Zerdrückens

Mit der Gabel! — Sei stark!

Ich will auch Butter und Salz und Quark

Oder Kümmel, auch Leberwurst in dich stampfen.

Musst nicht so ängstlich dampfen.

Ich möchte dich doch noch einmal erfreun.

Soll ich Schnittlauch über dich streun?

Oder ist dir nach Hering zumut?

Du bist so ein rührend junges Blut.

Deshalb schmeckst du besonders gut.

Wenn das auch egoistisch klingt,

So tröste dich damit, du wundervolle

Pellka, dass du eine Edelknolle

Warst, und dass dich ein Kenner verschlingt.

 

Foto: Nonmin, Photocase

Gedicht: Dieter Mucke

Die treffende Antwort

Spricht jemand von oben
herab zu dir
Mit lauter Worten
wie aus Papier

Kannst du getrost
und unbesehen
Dir kleine Kugeln
daraus drehen.

Schnips sie zurück
und sage: Hier
Sammle doch
selber dein Altpapier!

 

Foto: NINEmade.de/photocase.de

Gedicht: Heinrich Detering

Kilchberg

täglich andere Ängste

und immer dieselbe Angst

die erste die letzte die längste

dass du nicht langst

 

dass du nie genug bist

dass du nie genügst

dass deine Sicherheit Lug ist

dass du lügst

 

Angst vor offenen Plätzen

Gier nach dem eigenen Platz

nachts das alte Entsetzen

morgens der nächste Satz

 

Gedicht: Gerhard Gundermann

in der nachbarschaft

der rentner im garten

nebenan lebt gesund

er rülpst wie ein schwein

da erschreckt sich mein hund

mein hund zerrt dafür

seine alte vom rad

und die fällt ins gewächshaus

und verteilt den salat

 

refrain:

inner nachbarschaft, inner nachbarschaft

inner nachbarschaft

 

der rentner im garten

nebenan ist schwer krank

seine alte lässt er schindern

er liegt auf der bank

nur wenn sich meine große tochter

auf der hollywoodschaukel sonnt

da geht sein blutdruckmesser kaputt

 

refrain:

inner nachbarschaft, inner nachbarschaft

inner nachbarschaft

 

der rentner im garten

nebenan rüstet auf

er hat sich n stereorekorder gekauft

sein heino hat all meine rosen geknickt

doch jetzt schlag ich mit

nina hagen zurück

 

refrain:

inner nachbarschaft, inner nachbarschaft

inner nachbarschaft

…und wir müssen drin bleiben

Foto: eyelab / photocase.de

Gedicht: Gottfried August Bürger

Mittel gegen den Hochmut der Großen

Viel Klagen hör’ ich oft erheben

Vom Hochmut, den der Große übt.

Der Großen Hochmut wird sich geben,

Wenn unsre Kriecherei sich gibt.

 

 

Foto: Pippilotta, photocase

Das Gedicht: Bertolt Brecht

Der Schneider von Ulm
(Ulm 1592)

Bischof, ich kann fliegen

Sagte der Schneider zum Bischof.

Paß auf, wie ich’s mach!

Und der stieg mit so ’nen Dingen

Die aussahn wie Schwingen

Auf das große, große Kirchendach.

Der Bischof ging weiter.

Das sind lauter so Lügen

Der Mensch ist kein Vogel

Es wird nie ein Mensch fliegen

Sagte der Bischof vom Schneider.

Der Schneider ist verschieden

Sagten die Leute dem Bischof.

Es war eine Hatz.

Seine Flügel sind zerspellet

Und er liegt zerschellet

Auf dem harten, harten Kirchenplatz.

Die Glocken sollen läuten

Es waren nichts als Lügen

Der Mensch ist kein Vogel

Es wird nie ein Mensch fliegen

Sagte der Bischof den Leuten.

Foto: Stadtarchiv Ulm

Das Gedicht: Chetan Akhil

Konkurrenz beginnt im Samenstrang

Und in den Katakomben potentieller

Arterhaltung setzt sie sich fort.

Vom olympischen Impuls gelenkt,

tritt jeder gegen jeden an.

Applaus gilt nur dem Sieger, der

erschöpft den gläsernen Pokal

in Händen hält,

durch den sein müder Blick

wie durch die

Linse eines Objektivs auf das

Schlachtfeld

sich amüsierender Verlierer fällt.

 

Foto: vign/photocase.de