oder Ein Kita-Kriegstagebuch
Es ist Montagmorgen. Schon beim Betreten der Kita weht mir ein eisiger Wind entgegen. Putchen, unser Leiter, huscht über den Flur ins Büro, grüßt mich nicht, sondern starrt mit ganz kleinen Augen zu Boden und hat wieder mal diese rätselhaften weißen Flecken auf seinen Hamsterbacken, über die Kerstin immer sagt: „Orkanwarnstufe.“
Dagmar nimmt mich in der Miniküche zur Seite und flüstert: „Ludmila hat jetzt auch gekündigt, prekärerweise mit sofortigem Wechsel zu den Mutschekiepchen.“ Das ist die Kita vom anderen Träger, mit der wir uns das Außengelände teilen. Also, früher hießen die Mutschekiepchen Maikäfergruppe, wir hießen Schmetterlingsgruppe, und zusammen waren wir das große Team des Kindergartens „Sonnenkäfer“ unter Putchens Vorgängerin Stahlmann. Bis die Mutschekiepchen den Träger gewechselt hatten. Warum, das weiß keiner mehr. Seitdem sind wir die Rest-Sonnenkäfer. Ziemlich verwirrend, aber so ist es eben.
Spricht Putchen über die Nachbarkita – wenn er überhaupt spricht und nicht nur griesgrämig Kommandos bellt –, dann sagt er stoisch: „Maikäfergruppe.“ Zum Beispiel bei der Teamsitzung nach dem Mittagessen, während all die kleinen Sonnenkäferchen schlafen. Da informierte er uns: „Heute kam es leider ein weiteres Mal zu Angriffen durch Maikäfergruppenkinder auf unsere Kinder, gebilligt oder sogar befördert durch Maikäfererzieher…“
„… und Erzieherinnen“, ergänzt unsere Schülerpraktikantin wieder mal kess, als ein Blick Putchens sie wie ein Laserstrahl trifft. Barsch fordert er uns auf, Vorschläge zu machen.
Alle gucken scheu zu Boden, bis Vera sagt: „Im Interesse des Kindeswohls sollten wir jetzt konsequent sein und die Gartentrennung durch den Bau eines Zauns zwischen beiden Gartenhälften absichern.“ Putchen blickt Vera, seine eilfertige Lieblingsmitarbeiterin, voller Verachtung an: „Sie würden also freiwillig und für immer auf die Hälfte des uns zustehenden Gartens verzichten? Arbeiten Sie bald auch für die da?“ Vera wird erst rot, dann bleich. „Ich, äh, schlage natürlich vor, dass der Zaun direkt vorm Mut-, äh, Maikäferhaus gebaut wird, sodass der Garten nur unseren Kindern zugänglich ist. Die anderen haben drinnen genug Platz…“
Da lächelt Putchen milde und korrigiert: „Vera, seien Sie menschlich. Lassen Sie den Maikäferkindern einen 3 Meter breiten Streifen direkt vorm Haus. Wir sind doch auch für´s Kindeswohl und keine Unmenschen.“ Für uns alle fügt er hinzu: „Selbstverständlich wird der Garten wieder gemeinsam genutzt, sobald meine Klage Erfolg hat und die Maikäfergruppe wieder fester Bestandteil des großen Sonnenkäferhauses ist. “ Wir nicken.
Dienstagmorgen. Kitaleiter Putchen ist wie ausgewechselt – so charmant und gewandt wie zu der Zeit, als er den Laden übernommen hatte und uns mit seiner zupackenden Art begeisterte. Stichwort begeistert: Stolz zeigt unser Leiter auf die bereits tüchtig betonierenden und Zaunpfosten einschraubenden Männer vom Gartenbaubetrieb und erklärt: „Wie erwartet war das Kita-Amt wieder zu dämlich, meine Vorschläge zur Gartentrennung zu prüfen. Also müssen Tatsachen geschaffen werden.“ Wir nicken.
Unangenehm ist nur, dass die Mutschekiepchen-Leute empört hinter dem Absperrband stehen, in der ersten Reihe natürlich Ludmilla und Jean, ebenfalls ein Ex-Kollege: „Das ist unser Garten!“ schreien sie. Und: „Unsere Kinder wollen das von unseren Eltern bezahlte Baumhaus nutzen!“
„Lasst uns vernünftig reden, wir waren doch mal ein Team“, versuche ich zu vermitteln, aber Jean lehnt ab: „Entweder ihr stoppt diese Scheiße und sagt eurem Putchen, was Sachlage ist, oder es gibt richtig Stress!“
Wie unfair! Ich spüre, dass meine durch die schlechte Stimmung der letzten Tage angewachsene Wut jetzt ein Ventil findet: „Nicht in diesem Ton, Jean! Das ist schon immer der Sonnenkäfergarten gewesen! Seid froh, dass ihr die Terrasse nutzen dürft!“
Putchen sieht zu und hebt den Daumen. Das macht mich ebenso stolz wie der Zuspruch der Kolleginnen. Wir sind ein echt gutes Team, denke ich, wie eine Familie mit einem starken Papa. Und wer das nicht findet, darf gerne abhauen.
Mittwochmorgen. Wir sollen alle zur Sitzung im Bewegungsraum kommen. Frau Möllendorf übernimmt so lange die Gruppe. Nanu, denke ich, was gibt´s denn?
Putchen hält uns ein Papier vor die Nasen, das wir alle unterschreiben sollen: Resolution für die sofortige Schließung der sogenannten Kita „Mutschekiepchen“ aufgrund unhaltbarer Zustände. Da macht sich Vera ganz hart und sagt: „Unterschreib ich nicht. Die Mutschekiepchen haben nix getan, und die Sache mit den Zaun war sowas von…“
Putchen fixiert sie konzentriert, seine Lippen sind sehr schmal. „Die Übergriffe dieser von ihren Erzieherinnen verführten Kinder auf unsere Schützlinge sind Ihnen also egal?“ fragt er gefährlich leise. Als Kerstin wissen will, welche Übergriffe er bloß meint, zischt Putchen sie an: „Sie stellen sich hier hin und schwingen große Worte? Aber dass unsere Kinder von diesen Verbrechern und ihren Kindern systematisch misshandelt werden, davon haben Sie nichts mitbekommen? Heidi“, plötzlich dreht er sich zu mir um, „haben Sie auch nichts davon gemerkt?“ „Doch“, sage ich tapfer, „das hat jeder gemerkt, diese… äh… schlimmen Sachen.“ Putchen nickt und beruhigt sich. Und ich denke noch: Meine Pause mit Kerstin kann ich jetzt knicken.
Donnerstagmorgen. Die Praktikantin scheint plötzlich gekündigt zu haben, und Kerstin ist „längerfristig freigestellt“. Putchen sitzt wahrscheinlich in seinem Büro an seinem riesigen Schreibtisch – um Akten zu studieren, zu telefonieren oder zu grübeln? Das Kita-Amt, berichtet Dagmar wispernd, habe die sofortige Entfernung „unseres Zauns“ verlangt. Sie sei anfangs ja auch kritisch gewesen, aber dann habe Putchen sie erinnert, dass einige der Maikäfer-Eltern seit Jahren unsere Förmchen klauen. Vera kommt und setzt sich für eine friedliche Konfliktlösung im Sinne aller ein: „Ich möchte nicht, dass die Maikäferkinder unter diesem Stress leiden. Deshalb unterstütze ich Putchens Plan, die Kita wieder zu vereinen, natürlich unter unserer Obhut. Auch wenn das bestimmt ein schmutziger, langer Rechtskrieg wird, der nicht ohne Entlassungen im widerrechtlichen Mutschekiepchen-Team gewonnen werden kann.“
Von Putchen ist derweil immer noch nichts zu hören. Ob es ihm gut geht? Kann man da was tun? Ich beschließe, an die große Lob-Tafel im Teamraum zu schreiben „Ich lobe unseren Putchen, weil er sich aufopferungsvoll für unser größtes Ziel einsetzt: Die Wiedervereinigung des großartigen Sonnenkäfer-Kindergartens!“
Foto: © zettberlin / Photocase