Wie Kinder sich und die Natur entdecken

Die Wirklichkeit mit den Augen der Kinder zu sehen ist ein riesiger mentaler Umdenkungsprozess für Erwachsene, aber er ist notwendig, sagt der Pädagoge und promovierte Naturforscher Salman Ansari. Denn dann können wir Erwachsenen den Naturphänomenen mit Neugier, Staunen und Begeisterung begegnen und lernen, wie wir gemeinsam mit Kindern Fragen an die Natur stellen.

Hier gibt es den Artikel als PDF: Wie Kinder sich und die Natur entdecken_#2_2022

Herr Ansari, Sie sagen: Begriffe wie „Kind als Forscher“ und „Forscher-Experiment“, vornehmlich geprägt von Akteuren aus Stiftungen, führen in die Irre. Diese Begriffe seien in der frühen Bildung ein großer Hokuspokus. Warum? Was meinen Sie damit?

Kategorien wie „Kind als Forscher“ und „Forscher-­Ex­periment“ entsprechen nicht den Denkmustern der Kinder. Sie verwirren, führen in die Irre, weil Naturerfahrung nicht automatisch Naturwissenschaft ist. Der Entdeckergeist der Kinder geht nicht von einer Hypothese aus, die überprüft werden muss. Kinder entdecken ihre Welt ohne eine erkennbare Planung, Methode und Kontrolle. Planung, Methode, Technik und Kontrolle sind aber die Kategorien, die ein forschendes Experiment von Erwachsenen charakterisieren. Kindern dergleichen anzutragen, grenzt an Hokuspokus. Schlimmer noch: Es verstellt Kindern den notwendigen eigenen Zugang zu Naturphänomenen. Wenn Kinder Geräte zur freien Verfügung gestellt bekommen, die sie soeben noch zur Durchführung eines von Erwachsenen geplanten, kleinteilig angesagten Experiments benutzt haben, dann setzen sie diese nicht mehr ein, um das Experiment zu wiederholen. Ganz im Gegenteil: Sie integrieren die Geräte spontan in ihre eigenen Spiele, geben ihnen neue Funktionen, nutzen sie um. Auch hieran erkennt man den Unterschied zwischen dem Bild eines Forschers, wie es noch in den Köpfen vieler Erwachsenen – zum Beispiel in Stiftungen – existiert, und dem Verlangen eines Kindes, sich die Welt nach seinem eigenen Maßstäben und seinen eigenen Kräften anzueignen.

Lernen ist ein Vorgang, in denen Kinder selbständig ihre vorhandenen Konzepte durch neue eigene Erfahrungen modifizieren. Es ist daher müßig, Wissen nach seinem eigenen Denkschema in die Kinderköpfe hineinpressen zu wollen. Die Belehrungsstrategien von Erwachsenen funktionieren nicht. Ursprüngliches natürliches Lernen geht anders. Dies ist zu beachten, wenn von entdeckendem Lernen die Rede ist. Lernen ist meiner Erfahrung nach nur fruchtbar, wenn ein erklärungsbedürftiger Sachverhalt in einem nachvollziehbaren alltäglichen Kontext erscheint und zu Fragen anregt. Was sich unserem Erfahrungs- und damit Interpretationshorizont entzieht, kann nicht durch fertige Fragen und vorgedachte Experimente aufgeklärt werden, die gar nicht von den uns vertrauten Erfahrungs- und Erklärungsmustern ausgehen. Jedes Geschehen, in das man sich selber nicht mit eigenen Ideen einbringen kann, verkümmert letztlich zu bloßem Aktionismus und hinterlässt kaum Spuren im Gehirn. Erinnern wir uns an unser eigenes Kind sein. Fast jeder von uns hat erfahren, dass Lehrstrategien, die sich nicht den Denkmustern der Kinder anpassen, kaum Zuwachs an Erfahrung und Wissen bewirken. Wir können als Erwachsene aber sehr wohl kreative Lernprozesse moderieren, wenn wir an das Vorwissen der Kinder anknüpfen und wenn Kinder auf die Widersprüche ihres Weltverständnisses stoßen.

Wie zum Beispiel?

Im Gelände einer Kita haben die Kinder Feuerkäfer und Marienkäfer entdeckt. Im Gespräch bemerke ich, dass ich wohl verstehen kann, weshalb der Feuerkäfer so heißt, weil er ja feurig rot aussieht, doch wieso heißt der andere Käfer Marienkäfer? Die Kinder meinen, wegen der Punkte auf seinem Rücken. Aber der Feuerkäfer hat doch auch Punkte auf dem Rücken, sage ich, trotzdem heißt der Feuerkäfer nicht Marienkäfer.

Die Kinder finden meinen Einwand berechtigt und machen sich sofort daran, die beiden Käferarten in Hinblick auf die Unterschiede und Ähnlichkeiten genauer zu untersuchen. Sie modifizieren ihre Konzepte und haben die Möglichkeit, etwas zum Gegenstand ihres eigenen Denkens zu machen – eine unabdingbare Voraussetzung, Zusammenhänge zu verstehen. Unsere Wirklichkeit mit den Augen der Kinder zu sehen ist ein riesiger mentaler Umdenkungsprozess. Wenn es uns Erwachsenen gelingt, die Denkschemata der Kinder nachzuempfinden, dann können auch wir den Alltagsbildern und Naturphänomenen mit Neugier, Staunen und Begeisterung begegnen und lernen, wie wir gemeinsam mit Kindern Fragen an die Natur stellen. Der Dialog und damit die Sprache spielen eine herausragende Rolle beim Lernen. Denn der Dialog ist ein Vorgang der personalen Begegnung. Im Dialog

erfahren wir, wie Kinder über einen Sachverhalt denken. Und die Kinder hören, welche Vorstellungen die anderen Kinder über ein und denselben Sachverhalt haben. Somit erlangen sie eine größere Bewusstheit ihrer Wirklichkeit und ihres Denkens.

Ein Wissen, das nicht in einen Dialog mit der Wirklichkeit eintreten kann, ist ein nutzloses Wissen, ein träges Wissen! Weil Kinder es nicht anwenden können, um sich selbst und ihre Welt besser zu verstehen. Es beeinträchtigt nur ihre Sinneswahrnehmungen.

Wann hören Kinder bzw. wir auf, Fragen zu stellen? Wann erstirbt die Neugier?

Der Antrieb zu lernen ist der Wunsch nach Selbstständigkeit, damit wir uns in der Welt bewähren können. Es ist ein natürliches, existenzielles Bedürfnis. Wenn uns die Möglichkeiten, selbstständig zu handeln, genommen werden, verlieren wir den Drang nach Autonomie. Die Phänomene der Natur bieten sich uns nicht mehr als Frage an, und wir hören auf, selbst Fragen zu stellen. Stattdessen verlassen wir uns auf Antworten von anderen. Neugier ist der Beginn einer Befragung, dann kommt das Staunen und dann das Fragen. Wir müssen versuchen, die Neugier der Kinder bis ins hohe Alter hinüber zu retten. Kinder geben diese wunderbare Eigenschaft viel zu früh auf. Wenn Kinder eine Lernumgebung vorfinden, die arm an eigenständigen Erfahrungsmöglichkeiten ist und Kindern Konzepte aufbürdet, die sie nicht selbstständig, also vor dem Hintergrund ihres Vorwissens, erwerben können. Wenn sie Antworten auf Fragen bekommen, die sie gar nicht gestellt haben, und ihnen Begriffe oder Zusammenhänge erklärt werden, die außerhalb ihrer Denkmöglichkeiten liegen, dann kann keine Neugier entstehen. Es ist fast so, als müsste ich in einer Fremdsprache etwas sagen lernen, das ich noch gar nicht in meiner eigenen kann.

Das kindliche Lernen ist unmittelbar mit der Anwendung des erworbenen Wissens verbunden. Kein Kind würde etwas lernen, wenn es das Gelernte nicht nutzbar machen könnte, um sich selbst und seine Wirklichkeit zu entdecken. Das ursprüngliche frühe Lernen ist auf das ganzheitliche sinnliche Verstehen ausgerichtet, das es dem Kind ermöglicht, sich zu orientieren. Ein Lernen auf Vorrat gibt es folglich nicht. Auch später in der Schule sollten wir Lernprozesse so organisieren, dass die Formen des ursprünglichen Lernens unverfälscht fortgesetzt werden können. Dazu gehört auch zu vermeiden, dass das anfängliche schulische Lernen vornehmlich kognitiv ausgerichtet wird, wodurch das Kind als körperlos betrachtet und damit eine wesentliche Quelle seiner Erfahrung und seines Lernens ausgeblendet wird und ungenutzt bleibt. Auf die Bedeutung der Selbst- und Welterfahrung durch den Körper und die Sinne beim ursprünglichen Lernen weisen Fachkräfte der frühen Bildung seit Jahrzehnten entschieden hin.

Das eigentliche Curriculum ist der Alltag der Kinder und die Bewusstwerdung der Außenwelt. Fast alles kann aufregend sein und eignet sich, um ein Naturverständnis zu schärfen.

Zum Beispiel?

Nehmen wir den Löwenzahn, er wächst fast überall. Was ist Löwenzahn? Ist das eine Pflanze? Von Löwenzahn kann man soviel Wunderbares lernen. Er verwandelt sich im Verlaufe seines wiederkehrenden Lebens so wie ein wirklich Lernender. Er verweigert sich, im Schatten anderer zu stehen. Niemals entdeckt man ihn im Wald oder unter einem Baum. Er zieht es vor, am Rand des Waldes unter freiem Himmel zu wachsen, aber auch auf weiten Wiesen. Wie alle wahren Weisen, vermag er die Leiden anderer Lebewesen zu lindern. Seine Wurzeln sind tief im Boden verankert. Er ist stark und widerstandsfähig. Um ihn näher kennenzulernen könnten wir gemeinsam Antworten auf Fragen suchen:

Zum Beispiel: Warum heißt Löwenzahn nicht Elefantenzahn? Warum wächst der Löwenzahn nicht im Wald, sondern auf den Wiesen? Braucht Löwenzahn Wasser; wie bekommt er das Wasser? Nachts geht die Blüte des Löwenzahns zu, hat sie Angst vor der Dunkelheit? Auf einer Wiese wächst der Löwenzahn fast einen Meter hoch und auf der anderen bleibt er klein. Was ist hier los? Warum ist das so? Im Wald gibt es Stellen, wo Kräuter wachsen. Doch sie verschwinden, sobald die Bäume sich zu belauben beginnen. Warum ist das so? Wie macht man Löwenzahnhonig?

Oder: Wie kann man Löwenzahn-Tinktur zum Lindern von Bauchschmerzen selber herstellen?

Es gibt so viele Themen aus dem Kinderalltag für ein Nachdenken über die Natur. Ein Beispiel dafür, wie sich ein Gespräch entwickeln kann: In einem Vogelnest entdecken Kinder Haare. Wo hat der Vogel diese gefunden?, fragen sie. Ein Kind meint, die Friseure würden manchmal die Ladentür offen stehen lassen. Die Vöglein könnten schnell hineinfliegen und Haare klauen. Diese Hypothese wird jedoch von anderen Kindern verworfen. Einige Kinder meinen nun, dass es in der freien Natur auch Tiere gebe, die Haare verlören, so wie Hunde und Katzen. Andere Kinder wissen auch, dass Tiere im Winter ein dickeres Fell haben als im Sommer.

Wir Erwachsenen müssen umdenken, Einfachheit anstreben, lernen mit Kindern zu spielen und dem Selbstverständlichen, dem Alltäglichen mit Neugier zu begegnen.

Im Spiel lernen Kinder, Emotionen zu kontrollieren, geduldig Fehlschläge und Frustrationen hinzunehmen. Sie lernen, sozial und gerecht miteinander umzugehen, gemeinschaftlich Konflikte zu lösen, sich in unerwarteten Situationen zu bewähren. Das freie Spiel trägt zum Erwerb von intellektuellen Strategien bei, die Kindern dabei helfen, kognitive Herausforderungen zu bewältigen. Im Spiel lernen Kinder alle Instrumentarien zum erfolgreichen Lernen. Zum Beispiel Ideenreichtum, Selbstständigkeit, soziale Kompetenzen im Umgang mit anderen, Gerechtigkeit und Anteilnahme. Spielen ist der Wunsch nach neuen Erfahrungen. Gerade weil das Spielen nicht auf ein vorbestimmtes Ziel ausgerichtet ist, können Kinder spontane Ideen bzw. Entscheidungskompetenzen entwickeln und Kreativität entfalten.

Kinder sind heute vielfach unendlichen Reizen und virtuellen Welten ausgesetzt. Sie sehen die alltäglichen Bilder des Grauens und Schreckens. Sie nehmen teil an Geschehnissen der Welt, die sie nicht verarbeiten können. Kindheit als Schonraum ist nicht selbstverständlich. Daher haben Kinder Anspruch auf Gegenwelten, in denen sie die Schönheit der Natur, Sprache, der Musik, der Kunst erfahren können. Kinder brauchen Orte, wo sie in den unendlichen Räumen ihrer Vorstellungskraft Wirklichkeiten entstehen lassen können, die ihnen das Gefühl von Selbstvertrauen, Geborgenheit und Freiheit vermitteln. Kinder brauchen Naturerfahrung. Kinder brauchen Begegnungen mit Jim Knopf, Michel von Lönneberga, Madita und Pu dem Bären. Kinder brauchen Ferien auf Bullerbü und Reisen zu den Inseln, wo die wilden Kerle wohnen. Die Kindheit der Kinder wird fehlgeleitet, wenn man ihre Zukunft als Ingenieur oder Forscher schon in ihre ersten Lebensjahre projizieren würde. Unsere Welt ist undurchschaubar und unplanbar geworden wie nie zuvor. Wir wissen nicht, wie sie in zwanzig, dreißig Jahren aussehen wird. Wir wissen auch nicht, ob die Techniken, die wir heute als Vehikel des Fortschritts deklarieren, in zwanzig Jahren werden adäquat sein können, um die Werte der Humanität zu verwirklichen.

Was wir aber tun können, was wir uns zur Aufgabe machen sollten, ist, die angelegten Fähigkeiten der Kinder – und zwar jenseits aller Ideologien – kontinuierlich weiterzuentwickeln: die Fähigkeit, eigenständig zu denken; die Fähigkeit zu einem erfüllten sozialen Miteinander; die Fähigkeit, die Gestaltungsmöglichkeiten unserer Gesellschaft kreativ zu nutzen und sinnvoll weiterzuentwickeln. So wird auch die ursprüngliche Neugier, die Fähigkeit, sich zu öffnen und seinen Horizont beständig zu erweitern und daraus Kraft und Sinn zu schöpfen, nicht verkümmern.

In Ihrem neuen Buch (siehe unten) belegen Sie: Weltverständnis setzt Ehrfurcht vor der Natur und das Staunen über ihre Rätselhaftigkeit voraus, daher steht im Mittelpunkt des pädagogischen Handelns die kindgemäße Auseinandersetzung mit den Phänomenen der Natur, die unmittelbar zugänglich sind. Was können Erwachsene noch tun?

Kinder brauchen Vorbilder zur Nachahmung und ich wiederhole nochmals: keine Laborexperimente. Ein Beispiel: Auf dem Gelände einer Kita entdecken die Kinder eine tote Hummel. Als ich sie auflese und auf meine Handfläche lege, sind sie entsetzt. Keines ist bereit, die Hummel zu berühren. Ich erzähle, wie schön es sich anfühlt, wenn ich mit dem Finger sachte die Hummel streichele. Ich lade sie ein, zusammen mit mir zu untersuchen, ob die Hummel Mund, Augen, Nase oder gar Zähne hat. Doch die Kinder wollen mir nicht folgen. Wo Ängste im Spiel sind, kann keine Neugierde aufkommen. In vielen Kitas werden seit einiger Zeit mit Unterstützung von Stiftungen Modelle von Solaranlagen, Windrädern, Gerätschaften und Materialien zur Wasseraufbereitung und vieles mehr verfügbar gemacht. Die Welt der Nachhaltigkeit soll über Experimente vorzeigbar werden. In Wahrheit sind es verkopfte Reduktionen der Wirklichkeit, die den Kindern erschweren, in einen Dialog mit der Wirklichkeit einzutreten. Hin und wieder bemühen sich Erzieherinnen, die erworbenen Gerätschaften im Namen der Nachhaltigkeit einzusetzen. Wenn man mit ihnen spricht, merkt man schnell: Viele von ihnen sind der Meinung, dass sie damit die Kinder nicht erreichen können. Sie selber durchschauen viele Zusammenhänge nicht, die sie mit Apparaten und Technik an Zwei- bis Fünfjährige weitergeben sollen. Sie wissen genau, dass Kinder vieles begeistert mitmachen, was nach Experiment aussieht und am besten laut und spektakulär daherkommt.

Ein Beispiel: In einer Kita soll Papier recycelt werden. Die Erzieherinnen lassen die Kinder wissen, dass das Papier Holzfasern enthält. Diese können die kleinen Forscher jedoch im Papier nicht erkennen, selbst mit einer Lupe klappt es nicht. Sodann sollen sie eine Zeitung in kleine Schnipsel zerteilen und in einem Eimer mit Wasser einweichen. Die Kinder kneten die Papiermasse zu dunklem Brei. Die Masse wird mit einem Sieb herausgeholt. Die Kinder lassen die Masse abtropfen und legen sie dann auf ein Brett. Was da entstanden ist, sieht nicht wie Papier aus, und die versprochenen Holzfasern bleiben weiter unsichtbar. Aber immerhin hat den Kindern das Unternehmen sichtlich Spaß gemacht. Projekte wie dieses sollen laut Stiftungen wie zum Beispiel vom „Haus der Kleinen Forscher“ und der Boschstiftung die Kinder befähigen, die eigene Lebenswelt besser zu verstehen und mitzugestalten – gerechter, gesünder und ressourcenschonender. Doch Versuche, die nichts mit den Wahrnehmungsmöglichkeiten der Kinder zu tun haben, die zu komplex sind oder nicht funktionieren, werden diesem Anspruch nicht gerecht. Bereits nach einer Stunde kann sich kaum ein Kind mehr an das Papier-Experiment erinnern – geschweige denn an Hintergründe oder einfache naturwissenschaftliche Zusammenhänge. Kreative Lernprozesse können wie gesagt nur durch ein Anknüpfen an das Vorwissen der Kinder stattfinden und wenn die Kinder selbst auf die Widersprüche ihres Weltverständnisses stoßen. Genau dies können diese Art von Weltverbesserungsvorschlägen der Stiftungen nicht leisten.

Wie kann ein gelungenes Kita-Projekt aussehen?

Dass es auch anders geht, war in einer Kita in Offenbach am Main zu beobachten. Die Erzieherinnen haben davon erfahren, dass der Lebensraum der ohnehin bedrohten Schwarzstörche zusätzlich durch den Bau von Windenergieanlagen bedroht ist.

Die Pädagogen wissen auch, warum in letzter Zeit viele Störche im Winter nicht mehr nach Afrika fliegen, sondern genug Nahrung auf den Müllhalden in Spanien finden. Als Erwachsene können sie sich gut vorstellen, wie sich die Heuschrecken ohne die Störche, nicht nur in Afrika, vermehren und welche Konsequenzen daraus resultieren werden.

Sie beschäftigen sich daher mit den Lebensgewohnheiten der Störche – auch zusammen mit den Kindern. Behutsam und Schritt für Schritt. Mitarbeiter hatten entdeckt, dass in der Nähe der riesige Baum mit dem Storchennest umgefallen war. Erzieherinnen und Kinder schauen sich das heruntergefallene Nest genauer an. Gemeinsam möchten die Kinder so ein Nest modellhaft nachbauen. Die Kleinen sind erstaunt darüber, dass der Horst nicht nur wie ein Korb aussieht, sondern auch noch unglaublich groß ist, was man vom Boden aus betrachtet nicht sofort erkennen kann. Nicht selten sind die Nester vier Meter hoch, mit einem Durchmesser von zwei Metern. Die Kinder bewundern die festen Ränder der Körbe, die mit starken Ästen und Zweigen befestigt sind, selbst ein Sturm kann sie nicht zerstören. Die Kinder lernen die Vielfalt der Zweige und Äste kennen, die zum Bau benötigt werden. Die Pädagogen haben gesammelt und stellen ihnen Schilfrohr, Zweige einer Esche, Weißdorn, Haselnuss, Vogelbeere, Forsythie vor. Zum ersten Mal in ihrem Leben erleben Kinder sinnlich, wie diese Hölzer aussehen, und besuchen Orte, wo sie aufwachsen. Für das Bett im Horst werden Federn, Moos und Laub gebraucht. Im nächsten Schritt beschäftigen sie sich mit den Nahrungsgewohnheiten der Störche. Sie verstehen nun, warum die Störche dabei sind, wenn die Felder und Wiesen gemäht werden. Die Kinder sehen Bilder von Würmern, Larven, Heuschrecken, Mäusen, Fröschen, Schlangen und anderen Reptilien. Kaum ein Kind kennt diese Lebewesen. Aus Legosteinen wird ein Haufen gebildet, der dem Gewicht der Insekten entspricht, die eine Storchenfamilie jeden Tag vertilgt. Die Kinder sind erstaunt über die Größe des Haufens. Sie lernen auch, dass nicht nur die Störche, sondern auch viele andere Vogelarten im Winter wegen der Nahrungssuche nach Süden bis nach Afrika fliegen. Dabei machen sie Bekanntschaft mit Vogelarten, die vom Aussterben bedroht sind. Ich denke, zuallererst sollen die Kinder – wie an diesem Beispiel deutlich wird – über die Schönheit und Rätselhaftigkeit der Natur staunen lernen. Erfahrungen, die bleibende Spuren im Gehirn hinterlassen, können Wirkungen entfalten, die unser Verhalten nachhaltig prägen.

Wächst man in einer Großfamilie auf, dann hat man potenziell die Möglichkeit zu erlernen, was es bedeutet, Verantwortung für die jüngeren Geschwister zu übernehmen.

Wer als Kind erfahren hat, dass Erwachsene für das Glücklichsein nur weniger weltlicher Güter bedürfen, wird es später leicht haben, Verzicht zu üben. Vorbilder können Bewusstseins-, Einstellungs- und Verhaltensänderungen bewirken, Laborexperimente können es nicht.

Foto: flausenimkopf / Photocase