Umfrage

 

1. Was war für Dich die innovativste Neuerung in der frühen Bildung in den vergangenen 30 Jahren?

 

2. Was war die größte Enttäuschung der vergangenen 30 Jahre? Was die größte Überraschung?

 

3. Was möchtest Du gern verändern?

Hilde von Balluseck, Prof. Dr.,
Chefredakteurin von fruehe-bildung-online.de, Berlin

1. Am innovativsten war die öffentliche Förderung von Forschungsprojekten zur frühen Bildung. Sie ermöglichte ein verstärktes Augenmerk auf die mit der frühen Bildung zusammenhängenden Fragen, eine höhere Anerkennung der Frühen Bildung in Wissenschaft und Politik, und drittens eine Professionalisierung der Frühen Bildung durch die Akademisierung.

2. Enttäuschungen:

Die föderalistische Struktur führt zu großen Unterschieden in der Qualität der frühen Bildung.

Die Zuordnung von Kita und Grundschule zu unterschiedlichen Systemen lässt sich auch bei hohem Engagement der Professionellen nur ansatzweise überwinden.

Die unterschiedlichen Bezahlungen von Erzieher_innen und Lehrer_innen sind ein Skandal.

Eine Überraschung:

Der Zwischenbericht der Bund-Länder-Kommission „Frühe Bildung weiterentwickeln und finanziell sichern“ vom November letzten Jahres eröffnet die Perspektive eines Bundesqualitätsgesetzes.

3. Als Erstes wünsche ich mir einen Abbau sozialer Unterschiede, d. h. eine Verbesserung der Lebensbedingungen von deutschen und zugewanderten Armen. Das würde die Bildungschancen der Kinder erhöhen und die Arbeit der Fachkräfte erleichtern.

Dann wünsche ich mir gemeinsame Bildungsüberlegungen der entsprechenden Ministerien für Kita und Grundschule und eine Angleichung der Gehälter von Erzieher_innen und Lehrer_innen.

Supervision und Fachberatung sollten für jede Kita finanzierbar sein.

Dolmetscher_innen für jede Kita sind wichtig für die Kontaktaufnahme mit Eltern anderer Muttersprachen als Deutsch. Auch für sie ist eine gesicherte Finanzierung erforderlich.

Die Verbände der Frühen Bildung in Deutschland sollten sich zunächst in Deutschland, dann in der EU zusammentun und wirkungsvoll ihre Stimme erheben, um die Gefahren für Gesundheit und Bildung von Kindern in Kriegs- und Hungergebieten anzuklagen und Verbesserungen zu fordern.

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Angelika von der Beek,
Autorin, Fortbildnerin, Dozentin, Hamburg

1. Die innovativste Neuerung seit dem Ende der 80er Jahre war für mich die Entwicklung des Konzepts der offenen Arbeit.

2. Die größte Überraschung seit den 90er Jahren war für mich der bemerkenswert umfangreiche Ausbau der Krippen, getragen von Bund, Ländern, Gemeinden und privaten Trägern, und die große Bereitschaft der Erzieher_innen, sich durch Fort- und Weiterbildung für diese Betreuungsform zu qualifizieren und nicht einfach nur mit der Betreuung von kleinen Kindern ihren Job zu machen.

Eine große unangenehme Überraschung war, wie leicht es sich die staatliche Seite zur Erfüllung des Rechtsanspruchs auf einen Krippenplatz machte, Kinder unter drei Jahren in Kindergartengruppen von drei bis sechs Jahren betreuen zu lassen und wie willfährig das von Trägerseite umgesetzt wurde. Beispiele: Kampagne in Rheinland-Pfalz „Mit 2 dabei“ oder die Einrichtung von Regelgruppen in NRW mit 20 Kindern, davon bis zu sechs unter drei Jahren, mit zwei Erzieher_innen, wie vorher, und in den selben Räumen wie die Kindergartengruppen vorher.

Die andere große unangenehme Überraschung war der Aufstieg des Themas „hochbegabte Kinder“ im Kindergarten und damit der „Geländegewinn“ der Psychologen im Kitabereich, die dort vorher im Regelkindergarten keinen Fuß auf den Boden bekommen hatten.

3. Ich wünsche mir a) eine bessere Bezahlung von Erzieher_innen, b) eine bundesweit einheitliche Regelung des Erzieher-Kind-Betreuungsverhältnisses in der Krippe von 1:5 und im Elementarbereich und Hort von 1:10 sowie c) regionale Beratungsstellen für den Neu-, Aus- und Umbau von Krippen, Kindergärten und Horten und eine Verpflichtung der Träger, sich beraten zu lassen!

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Hans Brügelmann, Prof. i. R. Dr.,
Fachreferent im Grundschulverband

1. Mich (hat) beeindruckt, wie ernsthaft die Forderungen der UN-Kinderrechtskonvention in der Frühpädagogik diskutiert werden und dass das Recht von Kindern auf Selbst- und Mitbestimmung den Alltag in KITAs oft stärker prägt als in der Schule.2. Der Fortschritt, auch die Kindergärten als Bildungseinrichtungen zu sehen und zu gestalten, wird immer wieder missverstanden als Auftrag, sie/ sich an schulische Traditionen anzupassen. Leider ist es in Deutschland generell üblich, dass die Bildungseinrichtungen für Ältere versuchen, Anforderungen für die vorhergehende Stufe zu bestimmen, statt den Bildungsgang „von unten nach oben“ zu denken.

3. Ich wünsche mir, dass die berechtigte Forderung nach einer anspruchsvolleren Ausbildung, einer stärkeren Anerkennung und einer angemesseneren Bezahlung der pädagogischen Fachkräfte nicht um den Preis einer formalen Akademisierung erkauft werden muss. Schon die Grundschule hatte darunter zu leiden, dass sich die Hochschulausbildung zunehmend von der Praxis gelöst hat, statt die Reflexion der Praxiserfahrung zum Kern der Ausbildung zu machen.

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Detlef Diskowski,
Erzieher, Kita-Leiter, Fortbildner, Referent, Abteilungsleiter, Berater, Teltow

1. Die Einführung von Bildungsplänen, und dabei die Tatsache, dass (fast überall) nicht die Kompetenzen der Kinder, sondern die Leistungen der Kita bestimmt wurden.

2. Die größte Enttäuschung war, dass bei diesem ersten Schritt verharrt wurde – und falls weitere Schritte gegangen wurden, die Bildungspläne immer weiter aufgebläht wurden, statt sich darauf zu konzentrieren, den KERN zu normieren: Was kann jedes Kind, was kann jedes Elternteil von jeder Kita im jeweiligen Land erwarten? Stattdessen haben sie sich durch den Vollständigkeitsdrang selber entwertet, weil sie dicker, geschwätziger und damit beliebiger wurden. Jede Bindestrich-Pädagogik erhebt den Anspruch auch aufgenommen zu werden, anstatt den gemeinsamen Kern herauszuarbeiten.

Die größte positive Überraschung war, dass der massive Ausbau der Plätze nicht zu Lasten der Strukturqualität gegangen ist. Wir sind doch offenbar stärker, als wir es uns selber beständig einreden.

Die größte negative Überraschung war, dass die massiv unterschiedliche Strukturqualität in Deutschland nicht differenzierter und radikaler zur Kenntnis genommen worden ist, sondern dass undifferenziert geklagt wird. Wenn die Bedingungen aber überall schlecht sind, wenn also 100 Prozent Unterschied in der Personalausstattung nichts ausmacht, dann fehlt eigentlich auch die Begründung für die Notwendigkeit von Verbesserungen.

3. Ich würde gerne die vielen Bundes-, Länder- und Trägermodellprojekte abschaffen, die nicht wirklich etwas modellhaft erproben wollen, was bei Erfolg auch tatsächlich flächendeckend umgesetzt werden soll. Modelle, die nie Regelpraxis werden sollen, sind vergeudete Ressourcen, sie sollten stattdessen in die Verbesserung der Regelstruktur fließen. Ich würde gerne die Produzenten von „neuen“ Modellen, pädagogischen Konzepten, von Bindestrich-Pädagogiken zu einer EIGENEN praktischen Erprobung VOR Veröffentlichung verpflichten. Aus meiner Sicht wird die diagnostizierte Überforderung der Erzieher auch hervorgerufen, weil beständig „neue Säue durchs Dorf getrieben werden“. Wer mehr oder Neues will, muss die Ressourcen benennen oder benennen was überflüssig ist (auch davon gibt es Einiges, was ich abschaffen würde, wie zum Beispiel die Eltern-Erfreuungs-Basteleien).

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Frauke Hildebrandt, Prof. Dr.,
Fachhochschule Potsdam, Autorin

1. Da ist die Wende noch dabei und ich bin aus dem Osten. Also ist die Antwort klar: Der Versuch, ein autoritäres Bildungssystem in ein demokratisches zu verwandeln – und dabei das Menschenbild gleich mit.

2. Dass diese Verwandlung in der Breite so lange dauert, ist die größte Enttäuschung. Und dass sie an manchen Orten durch die Kraft einzelner Menschen so schnell gelingen konnte, die größte Überraschung.

3. Wir brauchen – vor allem im Osten! – mehr Sinn für die Rechte, Teilhabe, Mitbestimmung und das Mitdenken jedes einzelnen Kindes, ob es schon sprechen kann oder nicht.

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Norbert Hocke,
Leiter des OB Jugendhilfe und Sozialarbeit beim Hauptvorstand der GEW, Berlin/Frankfurt/M.

1. Die Bildungs-und Lerngeschichten sowie die Bildungs-, Erziehungsdienst- und Orientierungspläne haben eine starke Innovation ins Feld gebracht, weil sich dadurch der Blick auf das Kind verändert hat! Es sind eben nicht die Pläne oder die Portfolios an sich, sondern die Sichtweise und der Umgang mit den Kindern, der sich verändert hat.

2. Zur größten Enttäuschung zählt das Festhalten an der alten Ausbildungsstruktur und die Sichtweise, dass wir erst für Kinder ab dem sechsten Lebensjahr eine reflektierte Ausbildung auf Hochschulniveau brauchen.

Überraschung: Wie schnell das System der Tageseinrichtung für Kinder gewachsen ist und ja noch wächst!

Dass die Kolleginnen 2009 und 2014/15 sich so stark für eine bessere Bezahlung eingesetzt und gestreikt haben.

3. Ein Bundeskitagesetz, welches die Strukturqualität regelt und durch den Bund mit jährlich ca. 10 Milliarden Euro finanziert wird!

Neue Ausbildungsstruktur gestalten: Fachschulen und Hochschulen zusammenführen.

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Axel Jansa, Prof. Dr.,
Hochschule Esslingen, Autor

1. Die Einführung der kindheitspädagogischen Studiengänge ab 2004 und die Festlegung der Berufsbezeichnung „Staatlich anerkannte/r Kindheitspädagoge / Kindheitspädagogin“ 2011, natürlich auch die nacheinander erfolgten Rechtsansprüche auf einen Kindergarten- und einen Krippenplatz.2. Die größte Enttäuschung? Dass es in Deutschland immer noch Parteien gibt, die mit „Herdprämien“ Kinder und Frauen an selbigen fesseln möchten? Dass parallel zu den Rechtsansprüchen keine angemessenen Ressourcen zum Ausbau der Plätze zur Verfügung gestellt wurden.

Die größte Überraschung? Dass sich Frau Schwesig gegenüber mächtigen CDU- und CSU-Ministern doch immer mal wieder mit einer fortschrittlichen Kinder- und Familienpolitik behaupten kann, in dieser Frau liegt bildungspolitische Zukunft!

Dass Erzieherinnen und Erzieher trotz der unzureichenden Bezahlung und der verhältnismäßig schlechten gesellschaftlichen Anerkennung ihrer Arbeit ein sehr hohes Engagement in der Weiterbildung haben und sie auch einen nicht unerheblichen Anteil der Studierenden in den Kindheitspädagogik-Studiengängen stellen.

3. Dass wir uns dem schwedischen sozialstaatlichen Modell der Selbstverständlichkeit weiblicher Erwerbstätigkeit, der geförderten Vereinbarkeit von Beruf und Familie unter anderem durch eine flächendeckende, hochwertige staatliche Kindertagesbetreuung annähern.

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Frank Jansen,
Geschäftsführer des KTK-Bundesverbandes, Freiburg/Berlin

1. Dass sich das Thema Kita als Dienstleistungsorganisation nach anfänglichem Aufschrei dennoch etabliert hat;

die Einführung von Bildungsplänen;

die Etablierung von QM-Systemen;

dass wir uns länderübergreifend mehr oder weniger auf ein ganzheitliches Bildungsverständnis verständigt haben;

der nun vorliegende Zwischenbericht von Bund und Ländern, in dem erstmals gemeinsame Qualitätsziele formuliert sind.

2. Dass aus dem Zwischenbericht ein „Bundesqualitätsentwicklungsgesetz“ und kein Bundesqualitätsgesetz hervorgeht;

Bildungspläne vielfach nicht verbindlich sind und nur in einem Bundesland konsequent evaluiert werden;

dass wir immer noch ein Fachberatungsverständnis diskutieren, das auf Freiwilligkeit beruht;

dass die Definition von multiprofessionellen Teams nach wie vor auf sozialpädagogische/pädagogische Berufe reduziert wird…

3. Bei allem Respekt vor dem Föderalismus ein wenig mehr Bundeskompetenz im Bereich der Bildung schaffen!

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Helen Knauf, Prof. Dr,
Hochschule Fulda

1. Das iPad. Weil es ganz neue und vielfältige Bildungs- und Kommunikationschancen für ALLE Kinder, Fachkräfte und Eltern in Kitas eröffnet.

2. Die Akademisierung der frühpädagogischen Fachkräfte.

Weil sie so halbherzig angegangen wurde.

3. k. A.

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Udo Lange,
Erzieher, Dipl. Sozialpädagoge, Spielraumplaner und Baukünstler, Fortbildner, Autor, Freiburg i. Brsg.

1. Die Entdeckung des Waldkindergartens

2. Meine größte Enttäuschung?

Dass wir noch immer über Chancengerechtigkeit und verlässliche Bildungsstandards diskutieren müssen.

Die größte Überraschung?

Dass trotz reformbedürftiger Rahmenbedingungen und mangelnder gesellschaftlicher Anerkennung sich begeisterungsfähige Menschen finden, die das System Kindergarten mit verantwortungsvollem Engagement und viel Herzblut füllen.

3. Mehr Gelassenheit und Mut zum Wilden Denken…

Mehr Widerstand gegen bürokratische Bevormundung und akademischen Nonsens…

Mehr Künstler, Handwerker und Weltenbummler in die Kitas…

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Gerlinde Lill, Dr.,
Beraterin, Fortbildnerin und Netzwerkerin

1. Die wichtigste Veränderung liegt für mich im neuen Bildungsverständnis: Bildung kann man nicht „machen“, Bildung ist der Prozess der Kinder. Und: Kinder müssen nicht motiviert werden, sie sind es von Anfang an. Sie wollen sich entwickeln, alles können, was die Großen können, selbstständig und wirksam sein. Dafür strengen sie sich an, bleiben hartnäckig an ihren Vorhaben, kooperieren mit anderen, kommunizieren mit den Ausdrucksmitteln, die sie zur Verfügung haben. Alle, in jedem Alter. Das ist ein Paradigmenwechsel.

Wunderbarerweise passt das Streben von Kindern nach Autonomie und Zugehörigkeit zu den Bildungszielen einer demokratischen Gesellschaft: Selbstbestimmung und Eigenverantwortung sind Basiskompetenzen, für die Bildungseinrichtungen Erfahrungsfelder bieten können (und sollen). Die Bildungspläne und -programme der Länder, so unterschiedlich sie auch sind, bauen alle auf diesen Grundgedanken auf.

Die praktisch wirksamste Veränderung ist, was daraus für pädagogische Professionalität folgt: Weg von der Dominanz der Erwachsenen, die entscheiden, was für Kinder „das Beste“ ist, hin zum Recht der Kinder, über ihren Körper, ihre Beziehungen, ihre Zeit (und anderes mehr) selbst zu bestimmen und ihrer inneren Motivation zu folgen. Weg von den erzieherischen Absichten, hin zur Unterstützung eigenmotivierter Bildungsprozesse. Weg von vordefinierten Lernräumen, hin zu einem Lebensort, den alle gemeinsam nach ihren Wünschen gestalten und verändern.

2. Meine größte Enttäuschung hängt mit Punkt 1 zusammen: Ich habe gedacht (gehofft), dass die Erkenntnisse der Frühpädagogik, der Hirnforschung und vor allem die Praxiserfahrungen zu flächendeckenden Wandlungsprozessen im Denken und Handeln der (nun so genannten) Fachkräfte führen würde. Das war leider nicht der Fall.

Eigentlich ist das kein Wunder. Denn das alte Muster „Alles Gute kommt von oben“ hat sich in Bezug auf die Erwachsenen unverdrossen gehalten. Es wird eingetrichtert und abgeprüft, sie werden umgeschult und umgepolt, es wird implementiert und evaluiert, was das Zeug hält – sogar beim Thema Partizipation. So wird sich ein Umdenken und Umhandeln schwer erreichen lassen. Denn was für Kinder gilt, gilt auch für Erwachsene: Bildung ist ein eigenmotivierter Prozess – oder geht schief.

Die größte Überraschung haben mir einige Teams und Kolleginnen in den neuen Bundesländern beschert, die sich mit enormer Freude und Energie daran gemacht haben, ihre Arbeitsweisen Schritt für Schritt zu verändern und Kindern (und sich selbst) neue Erfahrungen zu ermöglichen.

3. Die Fülle von bürokratischen Anforderungen reduzieren (zum Beispiel die elenden Beobachtungs- und Dokumentationsvorgaben). Dann bestünde die Chance, dass die verbreitete schlechte Stimmung sich verbesserte, weil die Praktikerinnen ihre Zeit den Kindern, den Eltern und sich gegenseitig schenken könnten…

Die unverdrossene Ausrichtung der Bildungseinrichtung Kita auf die Bildungseinrichtung Schule – statt umgekehrt. Auch dabei hat sich gezeigt: Es verändert sich nur, was man selbst und mit anderen zusammen anpackt.

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Foto: photocase, EzraPortent

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Die AfD und die sogenannte Frühsexualisierung

Die AfD-Landtagsfraktion in Sachsen Anhalt hat in der vorigen Woche mit der „Magdeburger Erklärung“ ein Papier zur sogenannten „Frühsexualisierung“ veröffentlicht , in denen so Sätze stehen wie: „Unter Familie verstehen wir die Verbindung aus Mann und Frau, aus der Kinder hervorgehen. Die Familie ist die Keimzelle der Gesellschaft. Sie garantiert den Erhalt unseres Volkes, unseres Staates und unserer Nation.“ Oder „In unseren Kindern leben Familie, Volk und Nation fort.“

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Natürlich ist die Familie und ihr Zusammenhalt wichtig und schützenswert, aber warum nur diejenige, die Volk und Nation erhält? Warum nur Mann und Frau und Kind? Warum nicht Alleinerziehende, Patchworkfamilien, Familien mit Migrationshintergrund, gleichgeschlechtliche Partnerschaften mit Kindern? Das erinnert mich irgendwie  an dunkelste Zeiten unserer Geschichte, an Mutterverdienstkreuze, „Familie als Träger höchster Rassenreinheit“ u.ä. Mit unserer Wirklichkeit hat das nur sehr wenig zu tun.

Schutz vor „Frühsexualisierung“ gegen Akzeptanz von Vielfalt

Dazu meint die AfD, Kinder müssten vor „Frühsexualisierung“ geschützt werden. Schulunterricht müsse  die Botschaft vermitteln, dass „nicht Triebbefriedigung, sondern eine intakte Familie primäres Lebensziel sein sollte“. Und Kinder müssten vor allen Versuchen geschützt werden, „andere Formen des Zusammenlebens und Sexualverhaltens gleichwertig neben Ehe und Familie zu stellen“ und in diesem Zusammenhang  mit „scham- und persönlichkeitsverletzenden Inhalten in Wort, Bild und Ton konfrontiert (zu) werden“.

Das Ziel ist klar: Es geht gegen andere Formen der Lebensweise, des Zusammenlebens, der Sexualität, es geht gegen Vielfalt, die für die AfD eine Bedrohung darzustellen scheint. Es geht, wenn auch ungenannt, ganz konkret um den „Kita-Koffer“.  Das ist eine in Rheinland-Pfalz entwickelte pädagogische Materialiensammlung, die vielfältige Lebensrealitäten widerspiegelt. Das Material des Koffers soll Fachkräfte bei der Erziehung zur Akzeptanz von Vielfalt unterstützen, wichtiger Teil des Bildungsauftrags in frühkindlichen Bildungseinrichtungen.

Stefan Niggemeiers Kommentar zur „Magdeburger Erklärung“

Heute las ich die sehr klare und Position beziehende Analyse von Stefan Niggemeier zur „Magdeburger Erklärung“ und stimme ihm zu. Es braucht nicht nur starke Gegenerzählungen, sondern auch eine klare Positionierung für Vielfalt und Toleranz.  Denn es ist, wie Niggemeier schreibt, „ eine starke Erzählung, die die AfD da verbreitet. In ihrem Kampfbegriff von der „Frühsexualisierung“, der von ihren politischen Verbündeten gezielt gestreut, aber auch von den Medien immer weiter verbreitet wird, steckt eine sehr wirkungsvolle Diffamierung: Es schwingt der Missbrauch von Kindern mit, eine Vergewaltigung im Namen einer verrückt gewordenen Ideologie.“

Wir vom Verlag Was mit Kindern finden, dass wir alle, die wir für eine Bildung und Erziehung auf der Basis von Toleranz und Akzeptanz einstehen, klar und deutlich solchen Vereinseitigungen entgegentreten und aktiv für unsere Werte eintreten müssen. Modernen Bildungskonzepten geht es mitnichten um die „Vergewaltigung von Kinderseelen“, stattdessen aber stets darum, Kindern alle Möglichkeiten zu bieten, ihre eigene Identität und Persönlichkeit zu finden und zu entwickeln. Unabhängig davon, in welche Familienform sie hineingeboren wurden.

 

 

 

 

Kinder vergleichen?

Fünf Organisationen – die Bundesarbeitsgemeinschaft Elterninitiativen, die Bundes­eltern­vertretung, die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, das Institut für den Situations­ansatz in der INA gGmbH und der Pestalozzi-Fröbel-Verband – verfassten im April 2016 eine Stellungnahme zum Vorhaben der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), mit der internationalen Studie „Early Learning Assessment“ Lern­ergebnisse in frühkindlichen Bildungs­prozessen zu erfassen, zu vergleichen und zu bewerten. Dr. Christa Preissing erklärt, welche Gründe es gab, vor der Beteiligung Deutschlands an dem OECD-Vorhaben zu warnen.

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Bild: Quint Buchholz

Dr. Christa Preissing: Mit den Stellungnahmen wollten wir Einfluss auf die Entscheidung der Ministerin Manuela Schwesig nehmen. Wir wollten verhindern, dass Deutschland sich an dieser Studie beteiligt. Das ist gelungen.
Welche Länder sich an der ersten Phase der Studie beteiligen, wissen wir noch nicht. Wenn die Ergebnisse veröffentlicht werden, rechnen wir damit, dass ein ähnlicher Prozess einsetzt wie nach der PISA-Studie. Auch an dieser Studie beteiligte sich Deutschland anfangs nicht. Nachdem die ersten Ergebnisse veröffentlicht wurden, trat Deutschland bei und beteiligte sich an den Folge-Phasen. Deshalb befürchten wir, dass mit „Kindergarten-PISA“ Ähnliches passieren wird.

Weshalb bezweifeln Sie den Sinn dieser Studie?

Dr. Christa Preissing: Ich habe grundsätzliche Bedenken, die Leistungen von Kindern zum Gegenstand internationaler Vergleichsstudien zu machen. Das hat mehrere Gründe.
Der Hauptgrund: Ich bin der Auffassung, dass man Kinder nicht miteinander vergleichen sollte, denn das setzt ja voraus, dass man eine Norm hat, an der die Kinder gemessen werden. Solch eine Norm enthält eine Vorstellung von Normalität, die ich grundsätzlich in Frage stelle, wenn wir davon ausgehen, dass jedes Kind unendlich viele Potenziale in sich trägt. Die pädagogischen Fachkräfte, aber auch die Familien haben die Aufgabe, Kinder zu stärken, damit sie möglichst viele dieser Potenziale entfalten können. Bei Messungen von Leistungen nach einer bestimmten Norm wird immer nur ein sehr reduzierter Ausschnitt in den Blick genommen. Das geht aus methodischen Gründen auch gar nicht anders. Man greift immer auf Kompetenzen zurück, die von außen definiert sind und Kindern mit ungewöhnlichen Potenzialen nicht gerecht werden. Solche Potenziale kommen gar nicht in den Blick. Aus methodischen Gründen wird zudem von oben herab definiert, was Kinder in einem gewissen Alter können oder welche Kompetenzen sie aufweisen sollen. Verräterisch ist für mich in diesem Zusammenhang der Begriff der „Vorläuferfähigkeiten“.

Was ist damit gemeint?

Dr. Christa Preissing: Damit sind Fähigkeiten gemeint, die Kinder in der Schule oder im Beruf brauchen. Es wird also immer von oben herab definiert, was Kinder in einem bestimmten Alter können sollten, damit sie in späteren Lebensphasen erfolgreich sind. Der Erfolg wird an den Leistungen in der Schule gemessen. Also nicht daran, wie viel kritisches Potenzial Kinder haben, welche eigenwilligen Vorstellungen oder Alternativen zu gängigen Regeln sie entwickeln, wie fantasievoll sie sind. Die Norm presst die Kinder in eine Form, die ihnen nicht gerecht wird. Und meinem Bild vom Kind – vom Menschen überhaupt– auch nicht.
Mein zweiter grundsätzlicher Einwand: Es handelt sich um eine internationale Vergleichsstudie. In solchen Studien dominieren immer nord-westlich gesetzte Normen. Von vornherein kann man prognostizieren, dass Kinder aus süd-östlichen Regionen dieser Welt schlechter abschneiden werden, denn soziokulturelle Komponenten werden nicht berücksichtigt. Es wird ein universales Bild vom Kind konstruiert – über Entwicklungspsychologie und Testapparate –, das Kindern, die nicht in nord-westlich geprägten Mittelschichtkulturen aufwachsen, in keiner Weise gerecht wird.
Diese Debatte um die sogenannte kompensatorische Erziehung führen wir im Westen der Republik schon seit den 1960er Jahren und fragen: Geht es darum, alle Kinder mittelständischen Normen anzupassen? Das war und ist eine fachpolitische Debatte. Inwiefern widerspricht die OECD-Studie auch fachpolitischen Positionen, die sich mittlerweile hierzulande herausbildeten und seitdem Gegenstand der hiesigen Bildungspläne und -programme sind?
Dr. Christa Preissing: In unserer Stellungnahme verweisen wir darauf, dass unser Bildungsverständnis – es variiert zwar regional, besitzt aber eine große Schnittmenge – besagt: Bildung ist mehr als die Ausprägung bestimmter kognitiver Fähigkeiten, umfasst die Entwicklung der Persönlichkeit und ihr Vermögen, soziale Gemeinschaften zu bilden und die Welt eigenverantwortlich umzugestalten.
Das Vorhaben, die Messung kind­licher Kompetenzen ins Zentrum einer Vergleichsstudie zu stellen, ignoriert dieses umfassende Bildungsverständnis. Zwar wird es nicht generell in Frage gestellt, aber es wird ausgeblendet, wenn es um die Auswahl der Messmethoden geht, die Literacy, frühe mathematische Grunderfahrungen und die Fähigkeiten der Kinder, sich selbst zu regulieren und sich in ein formales Bildungssystem einzupassen, erfassen sollen.

Es geht also letztlich um die Fähigkeit der Kinder, sich in die Systeme einzupassen, die in den jeweiligen Teilnehmerländern herrschen?

Dr. Christa Preissing: Ja. In unserer Stellungnahme kritisieren wir auch unser formales Bildungssystem Schule, denn wir sehen, dass die soziale Herkunft immer noch der Hauptvoraussagefaktor für den Bildungserfolg in der Schule ist. Die Schule ist eben nicht in der Lage, soziale Benachteiligung aufzugreifen und auszugleichen. Unser formales Bildungssystem setzt immer noch darauf, dass Eltern viel tun, um ihre Kinder in der Schule zu unterstützen. Mütter und Väter, die diese Möglichkeit nicht haben, weil sie keine hohen Bildungsabschlüsse und keine Partizipationsmöglichkeiten haben, sind dazu nicht in der Lage. Ihre Kinder werden deshalb immer schlechter abschneiden als andere Kinder. Deshalb finde ich es diskriminierend, solche Normen zu setzen.

Ist ein Untersuchungsansatz denkbar, der diese Art der Diskriminierung ausschließt?

Dr. Christa Preissing: In Berlin, aber auch andernorts haben wir den Weg eingeschlagen, nicht die Kompetenzen der Kinder zu messen, sondern die Qualität des pädagogischen Handelns derer, die Verantwortung dafür tragen, dass Kinder ihre Potenziale entfalten können. Man darf nicht verschleiern, wer diese Verantwortung trägt. Nämlich wir – als Vertreter der Mehrheitsgesellschaft, die in der Lage sind, sich an der Definition von Normen zu beteiligen. Dafür haben wir Qualitätsansprüche und -kriterien entwickelt.

Was müsste dem Entwurf eines Forschungsdesigns vorausgehen, das solche Ansprüche erfüllt?

Dr. Christa Preissing: Eine Debatte, die Fragen der Inklusion und Partizipation beinhaltet, wurde in Ansätzen geführt – auch vor dem Start dieser OECD-Studie. 2015 gab es ein halbes Jahr lang die Möglichkeit, sich an der Entwicklung des Forschungsdesigns zu beteiligen, und Deutschland machte mit. Aber es war klar, dass das aus forschungsökonomischen Gesichtspunkten scheitern musste, denn in sechs Monaten lassen sich keine Forschungsmethoden entwickeln, die geeignet sind, Unvorhergesehenes bei Kindern einzubeziehen. Von vornherein war klar: Man wird auf Forschungsmethoden zurückgreifen, die bereits erprobt und validiert sind. Interessanterweise sind das Tests aus den späten 1960er bis 1970er Jahren, die in den USA, in Kanada und Großbritannien entwickelt wurden. Schon während meiner Studienzeit wurden sie kritisiert.

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Kontakt

Dr. Christa Preissing ist Direktorin
des Berliner Kita-Instituts in der
Internationalen Akademie Berlin.

Link
www.bevki.de/internationaler-leistungsvergleich-in-der-fruehkindlichen-bildung-eine-stellungsnahme dazu/

Wortlaut der Stellungnahme des Instituts für den Situationsansatz, der Bundeselternvertretung, des Pestalozzi-Fröbelverbands, der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft und der Bundes­arbeitsgemeinschaft Elterninitiativen vom 16. 4. 2016

Immer noch zu wenig Personal in deutschen Kitas!

Die Betreuungsverhältnisse in den Kitas haben sich zwar innerhalb der vergangenen zwei Jahre in fast jedem Bundesland verbessert, so der aktuelle „Ländermonitor Frühkindliche Bildungssysteme“, dennoch sind sie und damit die pädagogische Qualität und die Arbeitsbedingungen der Erzieher_innen noch immer unzureichend, noch immer ist zu wenig Personal in deutschen Kitas.

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