Piep, piep, piep, wir haben uns alle lieb

Sticheleien und Anregungen

Diesen Spruch – gibt’s den heute noch in Kitas und anderswo?

Ich weiß es nicht. Ich bin raus aus der Praxis und kann mich nur auf „früher“ beziehen. Manchmal auch auf das, was ich von Freundinnen höre oder im öffentlich-rechtlichen Fernsehen sehe.

Mir kam das Ritual mit dem „Piep“ immer wie eine Beschwörungsformel vor: Harmonie, komm zu uns und bleib bei uns. Beschworen wird, was man sich wünscht, aber vermisst.

Ist es wünschenswert, dass sich alle lieb haben?

Mir reicht es, wenn ich die Menschen lieb habe, die mir nahestehen. Doch wer steht mir nahe? Und warum? Was bedeutet das eigentlich genau? Und: Geht es dabei nur um Blutsverwandte, um Familienmitglieder im engeren Sinne, um Mutter, Vater, Geschwister und Großeltern? Oder geht es auch um Freundinnen und Freunde, die ähnlich auf die Welt schauen wie ich und mit denen ich wunderbar lachen und streiten kann? Schließen sich streiten und lieb haben eigentlich aus?

Wie klappt lieb haben?

Liebhaben gelingt am besten, wenn es auf Gegenseitigkeit beruht. Darum klappt es in frei gewählten Beziehungen eher als in abhängigen. Zwangs-Liebhaben geht schief. Hat man keine Wahl, weil man beispielsweise noch ein Kind ist, kann Liebhaben fatal wirken: Die oft beschworene Bindung erweist sich als Fessel, die „Entbindung“ als Prozess des Erwachsen-Werdens erschwert.

Welche Bedeutung haben Feste und Rituale?

Wer Liebhaben vortäuschen muss, sollte üben, so zu tun, als ob. Besonders wichtig ist es dann, traditionelle Feste und Rituale einzuhalten. Merke: Niemals einen Geburtstag oder andere Liebhabefeste vergessen!

Weihnachten, das klassische Fest der Christenheit, wird ohne Gnade zelebriert. Alle Familienmitglieder haben sich tagelang furchtbar lieb und beschenken einander ohne Limit. Geschenke gelten als Liebesbeweise – egal, ob sie gefallen oder nicht. Man hat sich immerhin bemüht.

Die Liebe der Mutter geht durch den Magen: Ein knuspriger Gänsebraten ist kaum zu toppen. Und wenn’s gut läuft, beweist Vater seine Liebe, indem er den Baum besorgt und beim Schmücken schon mal die Schnäpse verkostet: „Ach, ist das gemütlich.“ Und: „Früher war mehr Lametta.“ Nur Dicki Hoppenstedt fällt aus der Rolle: „Zicke, zacke, Hühnerkacke!“ Ich liebe Loriots schräge Blicke auf Familie und Zwangsbeziehungen!

Die Wochen vor Weihnachten sind die umsatzstärksten im Jahr. Den Einzelhandel und die Versandhäuser freut’s. Doch für Eltern gibt es kaum eine stressigere Zeit. Und wofür das alles? Wenn schon nicht für den Weltfrieden, dann doch immerhin für den Familienfrieden. Was am Ende herauskommt, kann mittels Polizeistatistik besichtigt werden: Hauen und Stechen spätestens am zweiten Weihnachtsfeiertag, denn das „Piep“ in Dauerschleife macht selbst Engel verrückt.

Dennoch fahren erwachsene Kinder zu Weihnachten „nach Hause“. Die alt gewordenen Eltern könnten sonst traurig sein, und das will ja niemand. Haben die Kinder selbst Kinder, kehrt sich die Reiserichtung um: Nun kommen die Großeltern zu Besuch, was Stress ­potenziert, weil Oma und Opa aus Sparsamkeitsgründen auf dem Sofa nächtigen.

Zwar ist der Muttertag nicht ganz so emotional „besetzt“ wie Weihnachten, kann aber halbwegs mithalten. In Kitas bricht Wochen vorher wildes Bastelfieber aus. Schließlich erwarten die Mütter an ihrem Ehrentag einen Liebesbeweis in Form von Salzteigherzen oder bemalten Untersetzern. Etliche Exponate lagern bei mir noch heute in irgendeiner Kiste. So was schmeißt man doch nicht weg! Oder?

Langjährigen Erzieherinnen hängt der Bastelzwang ebenso zum Halse raus wie das Laternenfest. Eine Leiterin aus Bielefeld zählte ihre Restarbeitsjahre so: noch fünf Laternenfeste, noch vier, noch drei… Meine Erfahrung: Egal, wie gruselig man fand, was üblich war, die Devise hieß: durchhalten, bloß keinen Streit provozieren. Ich erinnere mich aber auch an kreative Lösungen. Ein Team in Dresden-Cossebaude schenkte den Müttern freie Zeit. Väter und Kinder wurden in die Kita eingeladen und machten was Abenteuerliches.

Eine schlaue Erfindung des Blumenhandels und der Süßwarenbranche: der Valentinstag. Immerhin reicht es, seiner Liebsten an diesem Tag eine Rose zu schenken, rot natürlich. Ich fände es schöner, wenn solche – und andere – Arten der Liebesbeweise keinen offiziellen Termin nötig hätten. Geld müssen sie auch nicht immer kosten.

Nun ja, es ist, wie es ist. Niemand kann sich dem Sog von Werbung und Tradition entziehen oder dem subtilen Druck familiärer Bindungen. Doch man könnte darüber streiten, was wichtig ist, für wen und warum. Vielleicht nicht unbedingt in der Familie, aber in der Kita. Das klärt die Luft, macht den Kopf frei und bringt auf Ideen.

Streitkultur?

Es gab eine Zeit, da war „Streitkultur“ ein Modethema im pädagogischen Arbeitsfeld. Es ging um den kultivierten Umgang der Erwachsenen mit ihren unterschied­lichen Sichtweisen. Man setzte sich zusammen, um sich auseinanderzusetzen und sich gemeinsam weiterzuent­wickeln. Das Ideal.

Ich habe etliche Seminare dazu veranstaltet, in Teams, mit Leiterinnen, Beraterinnen, Geschäftsführerinnen. Immer erlebte ich das Gleiche: Streit? Bloß nicht. Frauen sind lieb und glätten die Wogen. Darauf wurden sie seit Jahrhunderten abgerichtet: Streit vermeiden, Harmonie sichern und aushalten, was an Gewalt auf sie niederbrettert. Frauen sind keine Streithammel. Sie haben Angst vor Streit, vor allem in sozialen Arbeitsfeldern, obwohl es gerade dort viele Anlässe zum Streiten gibt. Siehe Pflege­notstand.

Wenn es um Qualität in der sozialen Arbeit geht, muss gestritten werden. Denn klar ist nichts, auch nicht nach Jahren und Jahrzehnten der Definitionsversuche. Obwohl…. Klar ist wohl inzwischen: Je nachdem, wer aus welcher Perspektive hinschaut, kommen unterschiedliche Ergebnisse heraus. Hilfreich ist folglich, zu erkennen, wer welche Interessen verfolgt und woran verdient. Beratung und Evaluation bringen mehr ein als die praktische Arbeit.

Piep, piep, piep…? Das bringt kaum voran. Streiten schon. Und es macht Spaß, wenn es nicht in Bösartigkeiten und Verletzungen abgleitet, sondern im Austausch von Argumenten oder Erfahrungen besteht. Was voraussetzt, das Gegenüber nicht als Feind zu sehen, sondern als einen Menschen mit anderem Blickwinkel.

Schön wär’s.