Der Gänsestall als Lernwerkstatt

Ein neuer Raum kann uns neue Impulse geben und ist immer auch ein Beginn. Ein leerer Raum gibt uns das Gefühl, uns frei entfalten zu können. Alles scheint möglich zu sein, alles ist offen. Wir betrachten die Dinge, die wir hineinstellen, ganz genau, überlegen, ob wir sie wirklich brauchen und welchen Zweck der Raum eigentlich erfüllen soll.

osiander gänsestall02Als ich am Ende des letzten Schuljahrs in meinem Kunstraum stand, packte mich die Verzweiflung. Bis unter die Decke hatte wir ihn voll Krempel gestopft, den wir für unsere Kreativkurse und Kunststunden nutzen wollten: von Materialsammlungen, die eher an kleine Mülldeponien erinnern, bis zu Schülerarbeiten, die den Weg nach Hause nicht fanden.

All das Zeug hinderte uns daran, den Raum vorzubereiten und nachzubereiten – ein schönes Wort für aufräumen. Außerdem, auch das ein Grund zum Verzweifeln, blieb der Raum laut Belegungsplan die meiste Zeit unbenutzt. Dabei ist es ein wunderbarer Raum, nämlich ein kleines, freistehendes Backsteinhaus auf unserem Gutshof-Gelände. Ein ehemaliger Gänsestall mit großem Fenster und freigelegtem Gebälk. Ein Juwel!

Wegschmeißen oder aufheben?

„Was machst du da?“ fragen zwei Mädchen aus dem Ferienhort, denen ich mit meinem Karren, beladen mit zwei großen Müllsäcken, begegne. „Bist du ein Bauarbeiter geworden?“ will der achtjährige Rene wissen und wundert sich über meinen schmutzigen Overall. Da ist es mit der Ruhe vorbei, in der ich den Gänsestall an diesem Tag meiner Vorbereitungswoche endlich mal aufräumen wollte. Glücklicherweise ist er bereits leer und durchgefegt. Draußen vor der Tür sieht es allerdings noch wüst aus.

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„Guck mal, was ich gefunden habe!“ ruft Paul und hält triumphierend zwei Tüten mit Styroporteilchen hoch. „Gib mir auch was ab“, fordert Rene. Währenddessen sitzen Hanna und Nele zwischen den Kartons und kramen in einem Berg mit Bändern und Schleifen. „Schmeißt du das etwa alles weg?“ fragt Hanna. „Dann nehme ich die Bänder mit“, sagt Nele. Ich erkläre den Kindern, dass ich die Dinge noch brauche, weil aus dem Gänsestall eine Lernwerkstatt werden soll.

„Was ist eine Lernwerkstatt?“ möchte Rene wissen. Tja, das ist eine gute Frage. Ich beschäftige mich schon eine ganze Zeit damit. Auf einer Fortbildung zum diesem Thema entstand die Idee, den Stall umzubauen, damit dort – statt der Kreativkurse – naturwissenschaftlich geforscht werden kann. Doch schon während der Fortbildung wurde mir klar, dass dies zu kurz gedacht ist, denn: Anders als im Kita-Alltag, in dem es Zeit und Raum für herrlich zweckfreies und selbstbestimmtes Forschen gibt, engt die Stofffülle den Gedanken- und Aktionsrahmen der Kinder im alltäglichen Unterrichtsgeschehen ein. Wenn der kreative Umgang mit Naturwissenschaften dort wirklich möglich sein soll – wie kann der Raum dann aussehen und mit welchen Inhalten beschäftigen sich die Kinder in ihrem Schulalltag?

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Schätzen und Zählen

Während wir Dinge sortieren und ordnen, gesellt sich der neunjährige Jan zu uns, und schon nach wenigen Minuten betreiben die Jungen Mathematik: jahrgangsheterogen! „Die grünen Teilchen kommen auf die linke Seite, davon haben wir viel mehr als von den gelben“, schlägt Rene vor. „Okay“, sagt Paul, „ich suche mal eine passende Kiste.“ Als Paul zurückkehrt, behauptet Rene: „Die ist viel zu klein, das passen die Teilchen niemals rein.“ „Doch“, kontert Jan, „das sind nicht mehr als 1 000.“ „ So viele?“ staunt Paul. Jan holt ein großes Laken und kippt zu meinem Entsetzen alle Styroporteilchen auf die Decke. Es fällt mir schwer, nicht laut aufzuschreien. Zum Glück kann ich mich beherrschen, denn was gerade zwischen den Jungen passiert, ist fantastisch und entspricht ziemlich genau dem, was die Schülerinnen und Schüler alljährlich im Mathematikunterricht in Lehrbüchern und Arbeitsheften durchackern.

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Kinderhände wühlen im Material und verteilen es auf der Decke. „So viele gleiche“, schwärmt Hanna und drückt das Material zusammen. „Wenn man es zerknautscht, wird es ganz klein.“ Jan und Rene diskutieren, ob man herausbekommen kann, wie viele Teilchen es sind. Ich geselle mich zu den Kindern, und wir einigen uns darauf, dass wir 100 Teilchen abzählen und sie in einer Ecke zusammenlegen. „Jeder zählt zehn und gibt sie bei mir ab“, schlage ich vor. Die Kinder sind voll bei der Sache.

Danach betrachten wir unser Werk, und Jan erklärt: „Es sind 600. Das erkennt man genau, wenn man es von oben anschaut.“ Die anderen hören interessiert zu. Obwohl die Aufräumaktion am Ende elf Stunden gedauert hatte, war ich bei der Beantwortung meiner Frage, was eine Lernwerkstatt ist, einen entscheidenden Schritt vorangekommen.

 

 Was ist eine Lernwerkstatt?

Ein Raum, in dem die Kinder zum Beispiel Mathematik begreifen können – Mathematik zum Anfassen sozusagen. Warum sollte nur für die Jüngeren gelten, was Nancy Hoenisch so eindrucksvoll in ihrem Buch „Mathekings“ beschreibt? Ich war froh, als mir eine Kiste mit bunten Holz-Rechenstäbchen in die Hand fiel, mit der niemand etwas anzufangen wusste…

In den ersten drei Schulwochen verbrachten alle Schülerinnen und Schüler der 1. bis 4. Jahrgangsstufe in homogenen und heterogenen Zusammensetzungen Zeit in der leeren Lernwerkstatt, um gemeinsam zu zählen, zu rechnen und zu schätzen. Die jüngsten führten Strichlisten, immer fünf Striche gebündelt, und philosophierten mit mir über die Kraft der Fünf. Beim Bündeln zu Zehnerpäckchen halfen die Zweit- und Drittklässler. Es wurden Kettenaufgaben geschrieben und Summen schrittweise zusammengerechnet. Schließlich addierten die Schüler und Schülerinnen der 4. Jahrgangsstufe alle Summen schriftlich und verglichen das Ergebnis mit der Schätzung, die sie zu Schuljahresbeginn abgegeben hatten.

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5 503 Stäbchen zählten die Kinder in drei Wochen! Ausnahmslos alle waren mit Feuereifer dabei. Sie zeigten mir, was sie von einer Lernwerkstatt erwarten und wie sie in diesem Raum lernen möchten. Dabei wurde ich zur Beobachterin, so dass ich sie beim Lernen fotografieren und filmen konnte.

Den Film zeigte ich beim ersten Elternabend. Ich hoffe, er konnte den Müttern und Vätern einen Einblick geben, was Mathematik sein kann und was Begriffe wie Handlungsorientierung im Unterricht der Grundschule bedeuten.

„Warum sagst du immer Zahlenraum?“ Diese Frage stellte die achtjährige Lena. Eine tolle Frage, der wir dringend auf den Grund gehen sollten. Mal schauen, wie wir mathematische Räume in unserem Raum sichtbar machen können. Darüber mehr im nächsten Heft…

Fotos: Dunja Osiander

 

 

 

 

bringt in ihre Arbeit als Pädagogin an einer Schule mit reformpädagogischem Ansatz Erfahrungen aus den Bereichen Theaterplastik, Bühnen- und Szenenbild ein. Besonders durch die Verbindung der Fächer Mathematik und Kunst entstehen spielerische Ideen für ein handlungs- und erlebnisorientiertes Lernen.

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